Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Überstundenvergütung in Versorgungsbetrieben. Tarifauslegung
Leitsatz (amtlich)
Die Grundvergütung für Überstunden des Arbeitnehmers im Versorgungsbetrieb nach § 10 des Tarifvertrages Versorgungsbetriebe vom 5. Oktober 2000 richtet sich nach der individuellen Stufe der Entgeltgruppe des Arbeitnehmers, in der er eingruppiert ist.
Orientierungssatz
- Für die Auslegung eines Tarifvertrages sind vorrangig dessen Wortlaut und der tarifliche Gesamtzusammenhang maßgebend.
- Die Höhe der tariflichen Vergütung des Arbeitnehmers im Versorgungsbetrieb bestimmt sich nach dessen individueller Entgeltgruppe und Entgeltstufe.
- Dies gilt auch für dessen Grundvergütung für Überstunden nach § 10 TV-V.
- Im Zweifel sieht ein Tarifvertrag nicht eine Grundvergütung für Überstunden vor, die niedriger liegt, als die Vergütung für die Regelarbeitszeit.
Normenkette
Tarifvertrag Versorgungsbetriebe vom 5. Oktober 2000 (
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Grundvergütung für Überstunden.
Der Kläger ist als Arbeitnehmer im Versorgungsbetrieb der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. Januar 2002 findet auf das Arbeitsverhältnis der Tarifvertrag Versorgungsbetriebe vom 5. Oktober 2000 (TV-V) Anwendung.
Der Kläger wird nach Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TV-V vergütet. Für 225 von ihm geleistete Überstunden erhielt er die Grundvergütung nach Entgeltgruppe 9 Stufe 1 TV-V in der ab 1. Januar 2002 geltenden Fassung in Höhe von 14,36 Euro sowie den tariflichen Zeitzuschlag für Überstunden nach § 10 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a TV-V in Höhe von 30 vH. Die Grundvergütung nach Stufe 4 der Entgeltgruppe 9 beträgt 17,74 Euro.
Mit seiner der Beklagten am 27. August 2003 zugestellten Klage erstrebt der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der Differenz zwischen den Stufen 1 und 4 der Entgeltgruppe 9 für 225 Überstunden in Höhe von 760,50 Euro (225 multipliziert mit 3,38 Euro).
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Grundvergütung für Überstunden sei entsprechend seiner individuellen Einstufung zu bemessen. Dies folge aus § 10 Abs. 1 Satz 1 TV-V, in dem ua. für Überstunden bestimmt sei, dass der Arbeitnehmer neben dem Entgelt für die “tatsächliche Arbeitsleistung” Zeitzuschläge erhalte. Die von der Beklagten geleistete Grundvergütung für Überstunden sei untertariflich. Gehe man in Übereinstimmung mit der Beklagten von einer Tariflücke aus, folge sein Anspruch aus § 612 BGB. Danach sei zur Bestimmung der üblichen Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB auf die Grundvergütung nach der individuellen Stufe der maßgeblichen Eingruppierung des Arbeitnehmers abzustellen, hier also auf die Stufe 4 der Entgeltgruppe 9.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 760,50 Euro nebst 9,22 % Zinsen seit Rechtshängigkeit (27. August 2003) zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der TV-V enthalte hinsichtlich der Höhe der Grundvergütung für Überstunden eine unbewusste Tariflücke, die wegen der unterschiedlichen Ausfüllungsmöglichkeiten nur von den Tarifvertragsparteien, nicht aber von den Gerichten geschlossen werden könne. Da die Tarifvertragsparteien aber eine Regelung nicht getroffen hätten, sei sie nur verpflichtet, die Stufe 1 der jeweiligen Entgeltgruppe bei der Bezahlung von Überstunden zugrunde zu legen. Für eine darüber hinausgehende Vergütung bestehe keine Anspruchsgrundlage.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Mit Recht haben die Vorinstanzen der Klage stattgegeben.
I. Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf weitere Grundvergütung für Überstunden in Höhe von 760,50 Euro nebst 9,22 % Rechtshängigkeitszinsen.
1. Dieser Vergütungsanspruch hat seine Grundlage in § 10 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a TV-V. Aus dessen für die Auslegung von Tarifverträgen vorrangig maßgebendem Wortlaut (BAG 16. Oktober 2002 – 4 AZR 429/01 – BAGE 103, 131, 135 – ständige Rechtsprechung des Senats) und dem systematischen Zusammenhang der einschlägigen tariflichen Bestimmungen folgt, dass sich die Grundvergütung von Überstunden nach dem Regelentgelt des Arbeitnehmers bestimmt. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.
a) § 10 TV-V lautet, soweit für die Entscheidung des Rechtsstreits von Interesse:
Ҥ 10
Ausgleich für Sonderformen der Arbeit
(1) Der Arbeitnehmer erhält neben dem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung Zeitzuschläge. Sie betragen je Stunde
a) für Überstunden |
30 v.H., |
…
des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der Stufe 1 der jeweiligen Entgeltgruppe nach Maßgabe der Anlagen 3a und 3b. Beim Zusammentreffen von Zeitzuschlägen nach Satz 2 Buchst. c bis f wird nur der höchste Zeitzuschlag gezahlt. Auf Wunsch des Arbeitnehmers können, soweit ein Arbeitszeitkonto (§ 11) eingerichtet ist und die betrieblichen Verhältnisse es zulassen, die nach Satz 2 zu zahlenden Zeitzuschläge im Verhältnis 1:1 in Zeit umgewandelt und ausgeglichen werden. Dies gilt entsprechend für Überstunden als solche.
(2) Für Arbeitsstunden, die keine Überstunden sind und die aus betrieblichen Gründen nicht innerhalb des nach § 8 Abs. 2 Satz 1 oder 2 festgelegten Zeitraums mit Freizeit ausgeglichen werden, erhält der Arbeitnehmer je Stunde 100 v.H. des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe nach Maßgabe der Anlagen 3a und 3b.
…”
b) Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, bereits aus dem Wortlaut des § 10 Abs. 1 Satz 1 TV-V ergebe sich, dass der Kläger für die 225 Überstunden – neben den gewährten Zeitzuschlägen – ein “Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung” nach seiner individuellen Entgeltgruppenstufe verlangen könne. Indem die Tarifvertragsparteien nämlich an die tatsächliche Arbeitsleistung anknüpften, brächten sie hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass es entscheidend auf die Tätigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers ankomme. Werde die Vergütung dieser Tätigkeit nun im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit (§ 8 Abs. 1 Satz 1 TV-V) unter Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit und ggf. auch von Leistungsgesichtspunkten (vgl. § 5 Abs. 2 TV-V) nach einer bestimmten Stufe bemessen, müsse das konsequenterweise auch gelten, wenn über 38,5 Stunden hinaus Arbeitsleistungen in Gestalt von Überstunden (§ 9 Abs. 7 TV-V) erbracht würden. Denn auch in diesen Zeiten bringe der betroffene Arbeitnehmer zB seine mit zunehmenden Betriebszugehörigkeitszeiten verbundenen besonderen Erfahrungen ein und werde dem ggf. besonders berücksichtigten Leistungsvermögen (§ 5 Abs. 2 Satz 4 TV-V) gerecht.
c) Dem folgt der Senat.
aa) Die in § 10 Abs. 1 Satz 2 TV-V aufgeführten Zeitzuschläge “erhält” der Arbeitnehmer “neben dem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung”. Mangels anderweitiger tariflicher Regelung soll der Arbeitnehmer für “seine” tatsächliche Arbeitsleistung also zunächst “sein” Entgelt erhalten. Das ihm nach dem TV-V zustehende Entgelt richtet sich nach seiner Entgeltgruppe und Stufe (§ 5 TV-V).
bb) Der tarifliche Gesamtzusammenhang, zweitwichtigstes Kriterium der Tarifauslegung (Senat 16. Oktober 2002 – 4 AZR 429/01 – BAGE 103, 131, 135), bestätigt dieses Auslegungsergebnis.
(1) Die von der Beklagten praktizierte Abrechnungsweise kann zu Ergebnissen führen, die die Tarifvertragsparteien nicht gewollt haben können. Danach erhält ein nach der höchsten Entgeltstufe bezahlter Arbeitnehmer für von ihm geleistete Überstunden inklusive des tariflichen Überstundenzuschlags von 30 % des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der Stufe 1 seiner Entgeltgruppe insgesamt eine Vergütung, die niedriger liegt als sein Regelentgelt, also die Stundenvergütung für seine Arbeitsleistung in der Regelarbeitszeit des § 8 Abs. 1 Satz 1 TV-V. Dies hat das Landesarbeitsgericht rechnerisch, von der Beklagten auch nicht als fehlerhaft angegriffen, am Beispiel eines nach Entgeltgruppe 15 Stufe 6 vergüteten Arbeitnehmers dargestellt: Dessen Mehrarbeitsvergütung läge auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Beklagten mit 27,99 Euro um 4,17 Euro unter seinem Stundenverdienst für die Regelarbeitszeit in Höhe von 32,16 Euro (Stand 1. Januar 2002). Damit wird der von den Tarifvertragsparteien zulässigerweise angestrebte Zweck des Überstundenzuschlags verfehlt, gleich ob man ihn zB darin sieht, die besonderen Belastungen auszugleichen, die Arbeitnehmer tragen, wenn sie über den von den Tarifvertragsparteien vorgegebenen zeitlichen Umfang hinaus tätig werden, oder ob man den besonderen Überstundenzuschlag als Ausgleich dafür versteht, dass der Arbeitnehmer planwidrig Möglichkeiten einbüßt, über seine Zeit frei zu verfügen (vgl. BAG 25. Juli 1996 – 6 AZR 138/94 – BAGE 83, 327, 333 f. mwN).
(2) Zu verweisen ist weiter darauf, dass der Arbeitnehmer, der unter Fortzahlung seines Regelentgelts Freizeitausgleich erhält, in dem vom Landesarbeitsgericht dargelegten Beispielsfall wirtschaftlich besser gestellt wäre als derjenige, bei dem Freizeitausgleich nicht möglich ist, der also stärker belastet ist als ersterer.
(3) Aus den von der Beklagten für die von ihr vertretene Tarifauslegung angeführten tariflichen Regelungen der Überstundenvergütung im BMT-G und im BAT lassen sich schon deshalb keine Argumente gegen die vorstehend dargelegte Auslegung des TV-V gewinnen, weil diese in vielerlei Hinsicht abweichend gestaltet ist.
(4) Dieser Auslegung steht schließlich auch nicht § 10 Abs. 2 TV-V entgegen, wie die Beklagte meint. Danach erhält der Arbeitnehmer für Arbeitsstunden, die keine Überstunden sind und die aus betrieblichen Gründen nicht innerhalb des nach § 8 Abs. 2 Satz 1 oder 2 TV-V festgelegten Zeitraums mit Freizeit ausgeglichen werden, je Stunde 100 vH des auf eine Stunde entfallenden Anteils des monatlichen Entgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe nach Maßgabe der Anlagen 3a und b. Die Beklagte folgert daraus im Wege eines Umkehrschlusses, dass § 10 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a TV-V keine Regelung der Grundvergütung für Überstunden enthalte; anderenfalls sei § 10 Abs. 2 TV-V überflüssig. Dieser Schluss ist nicht zwingend. § 10 Abs. 2 TV-V kann auch als Klarstellung verstanden werden, dass für die von ihm erfassten Arbeitsstunden vom Arbeitgeber nur die Grundvergütung des Arbeitnehmers ohne Überstundenzuschlag zu zahlen ist. Vor dem Hintergrund, dass Überstunden eine Belastung des Arbeitnehmers darstellen, die mit dem Regelentgelt pro Stunde nicht abgegolten ist, verbietet es sich, auf die Regelung des § 10 Abs. 2 TV-V gestützt eine Auslegung der Tarifregelung zur Höhe der Überstundengrundvergütung vorzunehmen, die zu einer das Regelentgelt unterschreitenden Bezahlung von Überstunden führen kann. Dazu bedürfte es einer ausdrücklichen Regelung im Tarifvertrag, die der TV-V nicht enthält.
d) Der Kläger hat daher Anspruch auf Überstundengrundvergütung nach Entgeltgruppe 9 Stufe 4. Die Höhe seines Nachzahlungsanspruchs ist unstreitig.
2. Ihre Verurteilung zur Zahlung von Rechtshängigkeitszinsen greift die Beklagte nicht an.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Bepler, Wolter, Bott, Pfeil, Rupprecht
Fundstellen
Haufe-Index 1413190 |
BAGE 2006, 327 |
BB 2005, 2584 |
NZA 2005, 1313 |
ZTR 2006, 33 |
AP, 0 |
EzA-SD 2005, 23 |
AUR 2005, 426 |