Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung wegen auslaufenden Auftrags. Betriebsstilllegung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Grundsätze für die soziale Rechtfertigung von Kündigungen wegen Betriebsstilllegung gelten uneingeschränkt auch für gemeinnützige, am Markt teilnehmende Unternehmen.
2. Das bloße Auslaufen eines alten Auftrags allein rechtfertigt eine Kündigung aus dringenden betriebsbedingten Gründen nicht. Nur dann, wenn sich der Arbeitgeber gar nicht bemüht hätte, einen neuen Auftrag zu erhalten, könnte eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein. Dann könnte eine unternehmerische Entscheidung zur (Teil)Betriebsstilllegung vorliegen, die einen Wegfall von Arbeitsplätzen zur Folge hätte.
3. Längere Kündigungsfristen, die nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dem Alter des Arbeitnehmers gestaffelt sind, sollen die berufliche Existenz der vom Arbeitsplatzverlust betroffenen, i.d.R. auch der älteren Arbeitnehmer, sichern. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn die soziale Rechtfertigung einer ordentlichen Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG wegen eines dringenden betrieblichen Erfordernisses schon deshalb anzunehmen wäre, weil die Erteilung der für die Fortbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer erforderlichen Aufträge ungewiss wäre. Der Sinn längerer Kündigungsfristen würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn bei der Kündigung der betroffenen Arbeitnehmer geringere Anforderungen an den betriebsbedingten Kündigungsgrund zu stellen wären als bei Arbeitnehmern mit kürzeren Kündigungsfristen, die i.d.R. kürzer beschäftigt und jünger sind.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 20.12.2005; Aktenzeichen 7 (10) Sa 398/05) |
ArbG Stendal (Urteil vom 10.05.2005; Aktenzeichen 3 Ca 1304/04) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 20. Dezember 2005 – 7 (10) Sa 398/05 – aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stendal vom 10. Mai 2005 – 3 Ca 1304/04 – wird zurückgewiesen.
Die weiteren Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der am 28. Februar 1960 geborene und drei Personen zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 17. März 1986 beim Beklagten als Rettungssanitäter beschäftigt.
Der Beklagte ist ein auf Kreisebene organisierter gemeinnütziger Verein. Er beschäftigt 548 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Davon setzte er 72 als Rettungssanitäter und Rettungsassistenten in insgesamt fünf Rettungswachen im Landkreis S… ein. Zwei weitere Rettungswachen im Landkreis S… wurden von der J… e.V. betrieben. Die Ausführung der Notfallrettung und des qualifizierten Krankentransportes beruht auf Verträgen zwischen dem Beklagten und dem Landkreis S…. Der letzte Vertrag war bis zum 31. Dezember 2004 befristet.
Am 12. März 2004 schrieb der Landkreis S… die Durchführung der Rettungsdienste zum 1. Januar 2005 neu aus. Der Beklagte bewarb sich am 31. März 2004 um die Genehmigung und weitere Übertragung des Rettungsdienstes. Eine entsprechende Bewerbung gab auch die J… e.V. ab.
Mit Schreiben vom 11. Juni 2004 hörte der Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten fristgerechten betriebsbedingten Kündigung der Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer des Rettungsdienstes zum 31. Dezember 2004 mit der Begründung an, die Genehmigung zur Durchführung des Rettungswesens im Landkreis sei nur bis zum 31. Dezember 2004 befristet; es sei nicht abzusehen, ob das anhängige Ausschreibungsverfahren zum Erfolg führe. Dem Anhörungsschreiben an den Betriebsrat war eine Namensliste der von einer Kündigung betroffenen Rettungsassistenten und Rettungssanitäter beigefügt.
Am 11. Juni 2004 schlossen die Betriebsparteien eine “Betriebsvereinbarung über Regelungen eines Interessenausgleichs/Sozialplans”.
Der Betriebsrat widersprach den Kündigungen.
Mit Schreiben vom 15. Juni 2004 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers fristgemäß zum 31. Dezember 2004.
Mit undatiertem Schreiben, dem Beklagten am 2. September 2004 zugegangen, teilte der Landkreis S… dem Beklagten mit, er werde dem Antrag vom 31. März 2004 auf Erteilung einer Genehmigung zur Durchführung der Notfallrettung und des qualifizierten Krankentransportes nicht stattgeben, der Zuschlag sei einem anderen Anbieter erteilt worden. Mit Bescheid vom 29. September 2004 lehnte der Landkreis S… den Antrag des Beklagten ausdrücklich ab. Mit Schreiben vom 30. September 2004 übersandte der Landkreis S… dem Beklagten den Genehmigungsbescheid zugunsten des Konkurrenten, der J… e.V. zur Kenntnisnahme. Der Beklagte hat gegen den ablehnenden Bescheid Klage beim Verwaltungsgericht Magdeburg erhoben und eine ermessensfehlerhafte Entscheidung des Landkreises S… behauptet.
Mit einem weiteren Schreiben vom 22. September 2004 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut zum 31. März 2005 aus betriebsbedingten Gründen. Der Kläger ist seit dem 1. Januar 2005 bei der J… e.V. beschäftigt.
Mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage hat sich der Kläger gegen die Kündigung vom 15. Juni 2004 gewandt und geltend gemacht: Bei Ausspruch dieser Kündigung habe weder der Auftragsverlust festgestanden noch habe der Beklagte schon die endgültige Betriebseinstellung des Rettungswesens beschlossen. Er habe sich vielmehr an der Neuausschreibung des Rettungsdienstes beteiligt und auch sonst keine Aktivitäten zur endgültigen Einstellung des Betriebs entwickelt. Im Übrigen sei er mit den Altenpflegern und Hilfspflegern vergleichbar. Der Beklagte könne sich nicht auf die Erleichterungen des § 1 Abs. 5 KSchG berufen. Es liege keine formgültige Namensliste vor. Der Betriebsrat sei fehlerhaft angehört worden. Zudem verstoße die Kündigung gegen § 17 KSchG.
Der Kläger hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 15. Juni 2004 nicht aufgelöst worden ist.
Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags im Wesentlichen ausgeführt: Angesichts des drohenden Auftragsverlustes und der langen Kündigungsfristen der Mitarbeiter sei die schon im Juni erklärte Kündigung aus betriebsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Ein Abwarten bis zu einer endgültigen – negativen – Entscheidung des Landkreises sei ihm, einem gemeinnützigen Verein, dessen Finanzierung allein über öffentliche Fördermittel und öffentliche Leistungserstattungen erfolge, nicht zumutbar gewesen. Dies gelte umso mehr als das Angebot des Mitbewerbers, der J… e.V., auf Grund des günstigeren tariflichen Umfelds wirtschaftlich attraktiver gewesen sei. Deshalb sei bereits im Juni 2004 mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Verlust des Auftrags zu rechnen gewesen. Auf Grund der langen Kündigungsfristen der insgesamt 65 von den Kündigungen betroffenen Mitarbeiter und den daraus resultierenden Personalkosten wäre er bei einem späteren Kündigungsausspruch in eine existentielle Notlage geraten. Da mit Ausnahme der Betriebsratsmitglieder allen Arbeitnehmern des Rettungsdienstes gekündigt worden sei, habe es keiner Sozialauswahl bedurft. Im Übrigen liege auch ein Interessenausgleich mit Namensliste vor; im Interessenausgleich sei auf die Namensliste Bezug genommen worden. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Die Bundesagentur habe auf eine entsprechende Mitteilung vom 15. April 2004 und nach weiteren Gesprächen vom 29. April 2004 auf eine Anzeige zur Massenentlassung verzichtet.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist erfolgreich. Sein Arbeitsverhältnis ist nicht durch die Kündigung vom 15. Juni 2004 beendet worden.
A. Das Landesarbeitsgericht hat seine die Klage abweisende Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung vom 15. Juni 2004 sei durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Zwar habe wegen des noch laufenden Ausschreibungsverfahrens der Wegfall des Arbeitsplatzes des Klägers zum 31. Dezember 2004 im Kündigungszeitpunkt noch nicht festgestanden. Auf Grund der besonderen Situation des Beklagten liege aber ein Ausnahmefall vor, in dem die Kündigung aus betriebsbedingten Gründen schon in dieser Phase zulässig sei. Durch die zeitliche Gestaltung und Durchführung des Ausschreibungsverfahrens sei der Beklagte in eine existentielle Zwangslage geraten. Bei einem Abwarten bis zur endgültigen Entscheidung über die Ausschreibung hätte er im Falle einer Nichtberücksichtigung auf Grund der langen Kündigungsfristen der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer erst sehr viel später kündigen können. Er hätte dann die Mitarbeiter noch über den 31. Dezember 2004 hinaus weiterbeschäftigen müssen, ohne dass nach dem Wegfall des einzigen Rettungsdienstauftrags zum 31. Dezember 2004 entsprechende Arbeit vorhanden und eine Finanzierung gesichert gewesen wäre. Dem Bestandsschutzinteresse der Arbeitnehmer könne in einem solchen Fall dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass nach Erteilung des neuen Auftrags den Mitarbeitern des Rettungsdienstes ein Wiedereinstellungsanspruch eingeräumt werde. Auf eine mögliche unwirksame Massenentlassungsanzeige könne sich der Kläger nicht berufen. Die Bundesagentur für Arbeit habe dem Beklagten ausdrücklich bestätigt, eine Anzeige sei nicht notwendig. Schließlich sei der Betriebsrat ordnungsgemäß zur beabsichtigten Kündigung des Klägers angehört worden.
B. Dem folgt der Senat weder im Ergebnis noch in der Begründung. Die Kündigung vom 15. Juni 2004 ist unwirksam, weil sie sozialwidrig iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist. Bei Ausspruch dieser Kündigung lag kein dringendes betriebliches Erfordernis vor. Es handelt sich vielmehr um eine sog. “Vorratskündigung”. Die Einstellung des Rettungswesens bzw. Schließung der Abteilung “Rettungswesen” war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch nicht endgültig vom Beklagten beschlossen.
I. Bei der Beantwortung der Frage, ob eine Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt ist, weil dringende betriebliche Erfordernisse einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers im Betrieb entgegenstehen, geht es um die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Diese kann vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden, ob das Landesarbeitsgericht in dem angegriffenen Urteil die Rechtsbegriffe selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist (st. Rspr. BAG 26. September 1996 – 2 AZR 200/96 – BAGE 84, 209, 212; 7. Juli 2005 – 2 AZR 399/04 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 138 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 138).
II. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält das Berufungsurteil nicht stand.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. nur 17. Juni 1999 – 2 AZR 456/98 – BAGE 92, 79 mwN; 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118) können sich betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung iSv. § 1 Abs. 2 KSchG aus innerbetrieblichen Umständen (Unternehmerentscheidungen, wie zB Rationalisierungsmaßnahmen, Umstellung oder Einschränkung der Produktion) oder durch außerbetriebliche Gründe (zB Auftragsmangel oder Umsatzrückgang) ergeben. Diese betrieblichen Erfordernisse müssen “dringend” sein und eine Kündigung im Interesse des Betriebes notwendig machen. Die Kündigung muss wegen der betrieblichen Lage unvermeidbar sein (Senat 17. Juni 1999 – 2 AZR 456/98 – aaO).
2. Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Kündigung ist der des Kündigungszugangs (BAG 30. Mai 1985 – 2 AZR 321/84 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 24 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 36; 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118; 21. April 2005 – 2 AZR 241/04 – BAGE 114, 258; KR-Griebeling 8. Aufl. § 1 KSchG Rn. 550). Grundsätzlich muss zu diesem Zeitpunkt der Kündigungsgrund, nämlich der Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit, vorliegen. Das Gestaltungsrecht Kündigung kann nur bei Vorliegen eines im Zeitpunkt der Kündigungserklärung vorhandenen Kündigungsgrundes rechtswirksam ausgeübt werden (vgl. Hergenröder Anm. zu BAG 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – in: EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118, S. 8).
Dies hätte grundsätzlich zur Folge, dass betriebsbedingte Kündigungen erst möglich wären, wenn der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers nicht mehr zur Verfügung stünde. Wegen der Zukunftsbezogenheit der Kündigung (siehe bspw. HWK-Quecke 2.Aufl. § 1 KSchG Rn. 61) und aus Gründen der Praktikabilität hat das Bundesarbeitsgericht schon eine beabsichtigte Betriebs- oder Abteilungsstilllegung ausnahmsweise als ein dringendes betriebliches Erfordernis iSv. § 1 Abs. 2 KSchG anerkannt, wenn die für den künftigen Wegfall der Beschäftigung des Arbeitnehmers maßgeblichen Entwicklungen bereits zum Kündigungszeitpunkt feststehen, insbesondere wenn die unternehmerische Organisationsentscheidung bereits getroffen war und sie sich zum Ablauf der Kündigungsfrist realisiert. Dh…, in den Fällen, in denen zwar bei Zugang der Kündigung noch eine Möglichkeit der Beschäftigung besteht, aber die für den künftigen Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses maßgeblichen Entscheidungen bereits gefallen sind, kommt es darauf an, ob der Arbeitnehmer bis zum Kündigungstermin voraussichtlich entbehrt werden kann (vgl. BAG 27. Januar 1987 – 7 AZR 652/85 – BAGE 54, 215; 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118).
Davon ist auszugehen, wenn im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die auf Tatsachen gestützte, vernünftige betriebswirtschaftliche Prognose gerechtfertigt ist, dass zum Kündigungstermin mit einiger Sicherheit der Eintritt des die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes vorliegen wird (vgl. st. Rspr. des Senats 11. März 1998 – 2 AZR 414/97 – AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 43 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 99; 28. April 1988 – 2 AZR 623/87 – AP BGB § 613a Nr. 74 = EzA BGB § 613a Nr. 80; 19. Juni 1991 – 2 AZR 127/91 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 53 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 70; 10. Oktober 1996 – 2 AZR 477/95 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 81 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 87; 5. April 2001 – 2 AZR 696/99 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 117 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 110; 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118; vgl. auch: KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 527; ErfK-Ascheid/Oetker 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 406; HWK-Quecke § 1 KSchG Rn. 289). Dabei muss die der entsprechenden Prognose zugrunde liegende Entscheidung bereits zum Kündigungszeitpunkt endgültig getroffen worden sein und die Schließung des Betriebs oder der Betriebsabteilung aus Sicht der Arbeitsvertragsparteien zum Kündigungszeitpunkt bereits feststehen und greifbare Formen angenommen haben (siehe auch: KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 550; v. Hoyningen-Huene Anm. zu BAG 15. März 2001 – 2 AZR 705/99 – in: AP BGB § 620 Bedingung Nr. 26). Ist dies nicht der Fall, kann eine zum Wegfall des Arbeitsplatzes und zur fehlenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit führende Prognose vor dem Ablauf der Kündigungsfrist nicht erfolgreich gestellt werden. Vielmehr entfällt die Grundlage für die Kündigung (vgl. Hergenröder Anm. zu BAG 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – in: EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118, S. 8). Es bedarf dann einer zweiten – endgültigen – unternehmerischen Organisationsentscheidung (v. Hoyningen-Huene aaO).
Deswegen ist eine Kündigung wegen Betriebsschließung nicht sozial gerechtfertigt, solange der Arbeitgeber den Stilllegungsbeschluss lediglich erwogen, aber noch nicht endgültig gefasst hat (BAG 10. Oktober 1996 – 2 AZR 477/95 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 81 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 87; 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118). Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber im Kündigungszeitpunkt noch in ernsthaften Verhandlungen über die Veräußerung des Betriebs oder der Betriebsabteilung steht oder sich um neue Aufträge bemüht. Dann liegt keine unbedingte und endgültige Stilllegungsabsicht vor (BAG 27. September 1984 – 2 AZR 309/83 – BAGE 47, 13; v. Hoyningen-Huene Anm. zu BAG 15. März 2001 – 2 AZR 705/99 – in: AP BGB § 620 Bedingung Nr. 26; KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 527; HWK-Quecke § 1 KSchG Rn. 289). Diese Grundsätze gelten entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts uneingeschränkt auch für gemeinnützige, am Markt teilnehmende Unternehmen.
3. Unter Anwendung der vorstehenden Grundsätze stand der Eintritt der die Kündigung erforderlich machenden betrieblichen Umstände zum Kündigungszeitpunkt am 15. Juni 2004 noch nicht mit ausreichender Sicherheit fest. Die Kündigung vom 15. Juni 2004 stellt sich vielmehr als eine unwirksame sog. “Vorratskündigung” (vgl. Senat 15. März 2001 – 2 AZR 705/99 – BAGE 97, 193 und 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118) dar.
a) Bei Zugang der Kündigung lag noch keine endgültige (Stilllegungs-) Entscheidung des Beklagten vor, aus der sich der Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses des Klägers zum Ablauf der Kündigungsfrist sicher ergeben könnte. Weder hat der Beklagte vorgetragen, wann und von wem eine solche Entscheidung getroffen worden ist, noch welche organisatorischen Maßnahmen – außer den Kündigungen der Arbeitsverhältnisse – von ihm getroffen worden sind oder konkret geplant waren.
b) Der Annahme einer endgültigen Stilllegungsentscheidung des Beklagten zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs steht insbesondere entgegen, dass er sich Ende März 2004 noch an der Ausschreibung für das Rettungswesen im Landkreis S… beteiligt und der Landkreis über den Zuschlag für die Neuvergabe des Auftrags zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch nicht entschieden hatte. Es lagen auch keine sicheren Anhaltspunkte dafür vor, der Beklagte werde den Rettungsdienstauftrag auf keinen Fall erhalten. Solange aber der Beklagte nicht wusste, dass er den Auftrag nicht erhalten werde, kann gerade nicht davon ausgegangen werden, der Kündigungsgrund werde sich mit “einiger Sicherheit” bis zum Ablauf der Kündigungsfrist realisieren.
c) Etwas anderes könnte allenfalls angenommen werden, wenn sichere objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen oder dem kündigenden Arbeitgeber aus sicherer Quelle bekannt sind, auf Grund derer er zwingend mit einer Auftragsvergabe an einen Mitbewerber rechnen muss.
Solche Indizien hat der Beklagte nicht dargelegt. Dies gilt umso mehr, als ihm zum einen das Angebot des Wettbewerbers, der J… e.V., zum Kündigungszeitpunkt noch gar nicht im Detail bekannt war und zum anderen er – wie seine verwaltungsgerichtliche Klage deutlich macht – auch weiterhin davon ausging, ein konkurrenz- und berücksichtigungsfähiges Angebot abgegeben zu haben.
Deshalb lagen zum Kündigungszeitpunkt schon auf Grund der Beteiligung des Beklagten am noch nicht entschiedenen Vergabeverfahren keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme vor, der Arbeitsplatz des Klägers werde zum Kündigungstermin 31. Dezember 2004 entfallen. Zum Kündigungszeitpunkt war der Beschäftigungsbedarf für den Kläger nur unsicher und der endgültige Wegfall stand eben gerade nicht fest. Eine Prognose, ab dem 1. Januar 2005 werde der Beklagte den Rettungsdienst im Landkreis S… auf keinen Fall mehr durchführen dürfen, konnte auf Grund des Sachstandes nicht gestellt werden. Die Lage war vielmehr offen. Sie ist mit derjenigen eines Unternehmers vergleichbar, der eine Betriebsstilllegung erwägt, aber sie noch nicht endgültig beschlossen und auch noch keine Ausführungsschritte unternommen hat.
d) Schließlich rechtfertigt das bloße Auslaufen des alten Auftrags allein die Kündigung aus dringenden betriebsbedingten Gründen nicht. Nur dann, wenn sich der Beklagte gar nicht bemüht hätte, einen neuen Auftrag zu erhalten, könnte eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein. Dann könnte eine unternehmerische Entscheidung zur (Teil-)Betriebsstilllegung vorliegen, die einen Wegfall von Arbeitsplätzen zur Folge hätte.
e) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist im Entscheidungsfall der Prüfungsmaßstab auch nicht deshalb anzupassen, weil der gemeinnützige Beklagte zahlreiche Arbeitnehmer mit langen Kündigungsfristen beschäftigt.
Längere Kündigungsfristen, die nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dem Alter des Arbeitnehmers gestaffelt sind, sollen die berufliche Existenz der vom Arbeitsplatzverlust betroffenen, in der Regel auch der älteren Arbeitnehmer, sichern (BVerfG 16. November 1982 – 1 BvL 16/75 – BVerfGE 62, 256). Dieser Zweck würde verfehlt, wenn die soziale Rechtfertigung einer ordentlichen Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG wegen eines dringenden betrieblichen Erfordernisses schon deshalb anzunehmen wäre, weil die Erteilung der für die Fortbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer erforderlichen Aufträge ungewiss wäre. Der Sinn längerer Kündigungsfristen würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn bei der Kündigung der betroffenen Arbeitnehmer geringere Anforderungen an den betriebsbedingten Kündigungsgrund zu stellen wären als bei Arbeitnehmern mit kürzeren Kündigungsfristen, die in der Regel kürzer beschäftigt und jünger sind.
f) Schließlich ist der Prüfungsmaßstab auch nicht mit der Begründung zu verändern, dem gekündigten Arbeitnehmer stehe ggf. ein Anspruch auf Wiedereinstellung zu, wenn sich die Prognose als fehlerhaft erweisen würde (siehe zuletzt auch Schiefer DB 2007, 54, 55).
Der Anspruch auf Wiedereinstellung verleiht einen wesentlich geringeren Schutz, als er im Kündigungsschutzgesetz vorgesehen ist (vgl. im Einzelnen: BAG 12. April 2002 – 2 AZR 256/01 – AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 118).
III. Die Kündigung ist auch nicht nach § 1 Abs. 5 KSchG wirksam.
Zwar liegt eine Betriebsvereinbarung zum Interessenausgleich vom 11. Juni 2004 vor, die unter Ziff. 1 erwähnt, dass “eine namentliche Aufstellung der zu kündigenden Mitarbeiter als Anlage beigefügt (ist)”. Dieser Interessenausgleich ist von den Betriebsparteien unterschrieben. Dass dieser Interessenausgleich auch eine formgültige Namensliste enthält, hat der Beklagte jedoch nicht hinreichend dargetan. Der Kläger hat diesen Umstand nicht nur bestritten, sondern auch auf die schon nicht “stimmige Unterschrift” und die Tatsache hingewiesen, dass auf der zur Akte gereichten Namensliste auch ungekündigte Arbeitnehmer (zB Betriebsratsmitglieder) aufgeführt sind. Im Ergebnis fehlt es an den notwendigen Darlegungen des Beklagten, dass der zur Akte gereichte Interessenausgleich und die eingereichte Namensliste untrennbar und dauerhaft verbunden waren oder beide von den Betriebsparteien unterzeichnet worden sind.
Da der Beklagte zu den formellen Voraussetzungen eines formgültigen Interessenausgleichs mit Namensliste die Darlegungs- und Beweislast trägt, fehlt es bereits an einem schlüssigen Sachvortrag des Beklagten. Dies gilt umso mehr, als der Beklagte die “Namenslisten” auch als Anlage zur Betriebsratsanhörung – also zu einem ganz anderen Zweck – zunächst in den Prozess eingeführt hatte.
IV. Da die ausgesprochene Kündigung vom 15. Juni 2004 bereits wegen des Fehlens eines dringenden betrieblichen Erfordernisses nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit nach § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam ist, bedarf es keiner weiteren Erörterung möglicher Fehler bei der Sozialauswahl, der Betriebsratsanhörung oder der Massenentlassungsanzeige.
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
Unterschriften
Rost, Bröhl, Eylert, Claes, Niebler
Fundstellen
Haufe-Index 2010644 |
NWB 2008, 4858 |