Entscheidungsstichwort (Thema)
Abfindungsanspruch nach einem Rationalisierungsschutzabkommen
Leitsatz (redaktionell)
1. Ansprüche aus einem Rationalisierungsschutzabkommen (hier: Rationalisierungsschutzabkommen der Sozialversicherung der DDR vom 6.8.1990 Nr 7) auf Zahlung einer Abfindung wegen des Verlustes des Arbeitsplatzes entstehen ebenso wie entsprechende Ansprüche aus einem Sozialplan mit Durchführung der betrieblichen Rationalisierungsmaßnahme durch Ausspruch der Kündigung. Etwas anderes gilt dann, wenn die kollektivvertragliche Regelung den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung ausdrücklich anders festlegt. Hierfür reicht es nicht aus, wenn ein Rationalisierungsschutzabkommen nur bestimmt, ein Abfindungsanspruch sei bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig.
2. Der Frage, ob ein Tarifvertrag wirksam zustande gekommen ist, muß das zur Rechtsermittlung in jedem Stadium des Verfahrens verpflichtete Gericht auch in der Revisionsinstanz nachgehen.
Verfahrensgang
Thüringer LAG (Entscheidung vom 08.09.1993; Aktenzeichen 3/1 Sa 165/92) |
ArbG Gotha (Entscheidung vom 25.03.1992; Aktenzeichen 3 Ca 425/91) |
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob der Kläger einen Abfindungsanspruch nach einem Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 hat.
Der Kläger war bei der Sozialversicherung der DDR beschäftigt. Mit Schreiben vom 25. September 1990 kündigte ihm die Sozialversicherung "aus Strukturveränderungsgründen" zum 31. Dezember 1990. Zu diesem Zeitpunkt schied der Kläger auch bei seiner Arbeitgeberin aus, für die er zuvor 42 Jahre lang tätig gewesen war. Sein Monatsgehalt belief sich bei seinem Ausscheiden auf 2.800,00 DM.
Der Kläger ist der Auffassung, er habe Anspruch auf eine Abfindung in Höhe von 44.800,00 DM nach einem Rationalisierungsschutzabkommen, das die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft mit der Sozialversicherung der DDR am 6. August 1990 abgeschlossen hatte. Beim Abschluß wurde die Sozialversicherung durch ihren damaligen Direktor vertreten. In Nr. 7 des Abkommens, das für Arbeitnehmer, die mindestens 58 Jahre alt und 28 Jahre betriebszugehörig waren, eine Abfindung in Höhe von 16 Monatsbezügen vorsieht, heißt es u. a.:
"7. Besondere Kündigungsvereinbarungen
7.1. Arbeitnehmerinnen ab dem 55. und Arbeitneh-
mern ab dem 60. Lebensjahr, die dem Unter-
nehmen mindestens 10 Jahre angehören, kann
nur aus wichtigem Grund gekündigt werden.
Das gleiche gilt für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die dem Unternehmen 25 Jahre
angehören.
7.2. Ist nach Prüfung aller Möglichkeiten eine
Kündigung unvermeidbar, hat der Arbeitneh-
mer Anspruch auf eine Abfindung in Höhe
von ...
Monatsbezug im Sinne der vorstehenden Be-
stimmungen ist das zuletzt vom Arbeitnehmer
bezogene volle Monatsgehalt einschließlich
aller Zulagen.
Für die Anzahl der Monatsbezüge sind das
Lebensjahr und das Dienstjahr maßgebend,
die der Arbeitnehmer im Laufe des Jahres
vollendet, in dem sein Arbeitsverhältnis
endet.
Die Abfindung ist bei Beendigung des Ar-
beitsverhältnisses fällig.
..."
Der Kläger hat den Standpunkt vertreten, das Rationalisierungsschutzabkommen sei unbeschadet vom Inkrafttreten des Einigungsvertrages weiterhin anwendbar. Er erfülle auch alle Anspruchsvoraussetzungen. Er hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 44.800,00 DM
zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, das Rationalisierungsschutzabkommen sei nach Inkrafttreten des Einigungsvertrages nicht mehr anwendbar. Dies ergebe sich aus der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 1 Satz 2 zum Einigungsvertrag, wonach den Maßgaben des Einigungsvertrages über die Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst entgegenstehende oder abweichende Regelungen nicht anzuwenden sind. Nach Auffassung der Beklagten kommen deshalb Ansprüche aus dem Rationalisierungsschutzabkommen nur in Betracht, soweit sie vor dem 3. Oktober 1990 entstanden sind. Diese Voraussetzungen erfülle der Kläger nicht, weil er erst zum 31. Dezember 1990 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sei. Erst in diesem Zeitpunkt habe ein Anspruch auf Abfindung nach dem Rationalisierungsschutzabkommen entstehen können.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage entsprochen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht ist zwar zu Recht davon ausgegangen, daß dem Kläger auf der Grundlage des Rationalisierungsschutzabkommens vom 6. August 1990 (RSA) ein Abfindungsanspruch über 44.800,00 DM zusteht. Die Revision hat jedoch gleichwohl Erfolg, weil noch nicht festgestellt werden kann, ob das Rationalisierungsschutzabkommen wirksam und für die Sozialversicherung der DDR verbindlich zustande gekommen ist. Hierzu bedarf es weiterer Sachaufklärung durch das Landesarbeitsgericht.
A. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für einen Anspruch nach Nr. 7.2. RSA.
I. Das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 ist seinem Inhalt und seiner Wirkung nach ein Tarifvertrag im Sinne des Tarifvertragsgesetzes.
1. Nach § 31 des Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1990 (GBl. DDR I S. 357) ist das Tarifvertragsgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Gebiet der DDR mit Wirkung vom 1. Juli 1990 in Kraft getreten. Es trat an die Stelle der §§ 10 ff. AGB DDR 1977. Seit dem 1. Juli 1990 mußten Kollektivverträge damit nicht mehr beim Staatssekretär für Arbeit und Löhne der DDR registriert werden (§ 14 AGB DDR 1977). Für sie war seither ausschließlich das Tarifvertragsgesetz maßgeblich.
2. Das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 erfüllt die Voraussetzungen des § 2 TVG. Es wurde nach seinem Wortlaut zwischen einer Gewerkschaft, der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, und einem einzelnen Arbeitgeber, dem Träger der Sozialversicherung der DDR, abgeschlossen.
Der Träger der Sozialversicherung der DDR war tariffähig. Er war mit Wirkung zum 1. Juli 1990 durch § 31 des Gesetzes über die Sozialversicherung (SVG) vom 28. Juni 1990 (GBl. DDR I S. 486) als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung errichtet worden. Seit diesem Zeitpunkt unterstand die bis dahin als unselbständige Organisationseinheit des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes geführte Sozialversicherung der DDR nur noch der staatlichen Rechtsaufsicht. Ihr Haushalt war mit Wirkung vom 1. Juli 1990 aus dem Staatshaushalt der DDR herausgelöst worden (§ 77 SVG). Der Tariffähigkeit des Trägers der Sozialversicherung der DDR steht nicht entgegen, daß es sich bei ihr um eine juristische Person des öffentlichen Rechts handelte. Das Tarifvertragsgesetz weist grundsätzlich allen selbständigen Arbeitgebern die Fähigkeit zu, Tarifverträge für ihren Bereich abzuschließen. Dies gilt auch für Körperschaften des öffentlichen Rechts, es sei denn, öffentlich-rechtliche Organisationsgesetze stünden dem entgegen (Löwisch/Rieble, TVG, § 2 Rz 56; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 2 Rz 74). Ein solches gesetzliches Hindernis gab es beim Träger der Sozialversicherung der DDR nicht.
3. Im Rationalisierungsschutzabkommen ist auch der Wille zum Ausdruck gebracht worden, normativ wirkende Regelungen für die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer einschließlich der Auszubildenden der Sozialversicherung der DDR zu treffen (Nr. 1 RSA). Das Abkommen trifft eigene Regelungen, die unmittelbar zugunsten und zu Lasten der Betroffenen gelten sollen. Es werden nicht lediglich Anordnungen an die Betriebspartner gegeben, welche rechtsbegründenden Sozialpläne sie abschließen sollen. Dies ergibt sich bereits aus der Regelung in Nr. 7.3. RSA, der nur eine Öffnungsklausel für günstigere gesetzliche oder kollektivvertragliche Vereinbarungen enthält.
II. Nach § 3 TVG waren der Kläger und der Träger der Sozialversicherung der DDR an das Rationalisierungsschutzabkommen seinem Wortlaut nach gebunden. Der Träger der Sozialversicherung war Tarifvertragspartei, der Kläger nach den nicht gerügten Feststellungen der Vorinstanzen tarifgebunden, also Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft.
III. Der Kläger erfüllt auch die Voraussetzungen für einen Abfindungsanspruch aus Nr. 7.2. RSA.
Die dem Kläger gegenüber am 25. September 1990 ausgesprochene Kündigung unterfällt dem Rationalisierungsschutzabkommen. Sie wurde unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten wegen der Strukturveränderungen ausgesprochen, um deren Regelung es dem Abkommen geht.
Darauf, ob die Kündigung vom 25. September 1990 wegen eines Verstoßes gegen Nr. 7.1. RSA rechtsunwirksam war, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht an. Es kann auch offen bleiben, ob gegenüber einem der dort genannten langjährig beschäftigten älteren Arbeitnehmer wie dem Kläger jede rationalisierungsbedingte Kündigung tarifvertraglich verboten ist; die unmittelbar anschließende Regelung in Nr. 7.2. RSA über unvermeidbare Kündigungen könnte dagegen sprechen. Das Rationalisierungsschutzabkommen verlangt für einen Abfindungsanspruch nicht, daß der Arbeitnehmer aufgrund einer wirksamen Kündigung ausgeschieden ist. Nach Nr. 7.2. RSA hat der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Abfindung, wenn eine Kündigung "nach Prüfung aller Möglichkeiten unvermeidbar" ist. Damit wird allein auf die Bewertung und Entscheidung des Arbeitgebers abgestellt. Hält er eine Kündigung für unvermeidbar und spricht sie aus, sind die Voraussetzungen für einen Abfindungsanspruch erfüllt. Nichts anderes ergibt sich auch aus der Fälligkeitsregelung in Nr. 7.2. Satz 5 RSA. Wenn es dort heißt, die Abfindung sei bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig, wird damit nur auf das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses abgestellt. Es wird nicht verlangt, daß das Arbeitsverhältnis aufgrund einer rechtswirksamen Kündigung beendet worden ist. Im übrigen wäre eine Berufung der Beklagten auf die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung zur Abwehr eines Abfindungsanspruchs auch rechtsmißbräuchlich. Der Träger der Sozialversicherung der DDR, dessen Verhalten sich die Beklagte zurechnen lassen muß, hat dem Kläger rationalisierungsbedingt gekündigt. Er ist davon ausgegangen, dies sei unvermeidbar, und hat so die Voraussetzungen des Rationalisierungsschutzabkommens für einen Abfindungsanspruch aus seiner Sicht erfüllt. Der Kläger hat sich darauf eingestellt. Eine Rechtspflicht des Klägers gegenüber seinem Arbeitgeber, sich gegen dessen Kündigung zur Wehr zu setzen, gibt es nicht.
IV. Dem Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Abfindung steht die Regelung in der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 1 Satz 2 zum Einigungsvertrag (im folgenden: Abs. 1 Satz 2 EV) nicht entgegen.
1. Nach Satz 1 dieser Bestimmung gelten für die bei Wirksamwerden des Beitritts in der öffentlichen Verwaltung der DDR beschäftigten Arbeitnehmer die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Arbeitsbedingungen mit den Maßgaben des Einigungsvertrages, insbesondere der Absätze 2 bis 7 der in Bezug genommenen Regelung, fort. Weiter heißt es in Satz 2:
"Diesen Maßgaben entgegenstehende oder abweichen-
de Regelungen sind nicht anzuwenden."
In Absatz 2 der Bestimmung finden sich Regelungen über die Abwicklung von Einrichtungen, die Zahlung von Wartegeld an von der Abwicklung betroffene Arbeitnehmer und die Förderung bei Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Die Absätze 4 und 5 enthalten Sonderkündigungsregelungen, u. a. zur Kündigung wegen fehlenden Bedarfs, bei denen ein Übergangsgeld gewährt werden kann.
Die Parteien des Einigungsvertrages haben in den vereinbarten und förmlich bekanntgegebenen Erläuterungen der Anlagen zum Einigungsvertrag Zweck und Inhalt des Abs. 1 Satz 2 EV im einzelnen beschrieben (BT-Drucks. 11/7817, S. 179). Es gehe wegen der besonderen Verhältnisse darum, den Fortbestand der vorhandenen Arbeitsbedingungen mit Maßgaben zu verknüpfen, die sich aus dem Einigungsvertrag insgesamt und insbesondere aus den Absätzen 2 bis 7 ergeben und den sonst geltenden Regelungen vorgehen. Entgegenstehende oder über die Absätze 2 bis 7 hinausgehende oder sie ergänzende Regelungen seien nicht mehr anwendbar. Dies gelte insbesondere, soweit zum Beispiel in Tarifverträgen Kündigungsbeschränkungen oder besondere Abfindungsregelungen vorgesehen seien. Die Regelungen des Einigungsvertrages hätten insoweit Vorrang und seien abschließend.
2. Abs. 1 Satz 2 EV hat bei Berücksichtigung der gesetzesgleichen Erläuterungen zum Einigungsvertrag einen eindeutigen Regelungsinhalt. Tarifverträge, die Arbeitsverhältnisse betreffen, die in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen und die Abfindungsregelungen enthalten, sind ab dem 3. Oktober 1990 nicht mehr anzuwenden. Dies gilt unabhängig von der Bestimmung in der Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 zum Einigungsvertrag über die Weitergeltung von Rahmenkollektivverträgen. Zum einen gilt diese Vorschrift für unter der Geltung des AGB DDR 1977 zustande gekommene Rahmenkollektivverträge, nicht für Tarifverträge, die nach Maßgabe des Tarifvertragsgesetzes abgeschlossen wurden. Zum anderen wird diese Bestimmung durch die im Bereich des öffentlichen Dienstes geltenden Spezialregelungen des Einigungsvertrages wie der des Abs. 1 Satz 2 EV verdrängt (aaO, Nr. 14 Satz 5).
3. Trotz seines eindeutigen Regelungsinhalts ist die Anwendbarkeit von Abs. 1 Satz 2 EV auf das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 nicht zweifelsfrei.
Die Arbeitnehmer des Trägers der Sozialversicherung der DDR waren bei Abschluß des Rationalisierungsschutzabkommens zwar bei einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, also in der öffentlichen Verwaltung, beschäftigt. Für die beim Träger der Sozialversicherung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Einigungsvertrages bestehenden Arbeitsverhältnisse sieht Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet F Abschnitt II zum Einigungsvertrag aber unter Nr. 1 eine Sonderregelung vor. Sie bestimmt u. a. den Eintritt der Beklagten in diese Arbeitsverhältnisse. Sie schließt deren Übernahmepflicht nur für den Fall aus, daß die Voraussetzungen für eine Kündigung aus wichtigem Grund nach der Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 zum Einigungsvertrag vorliegen. Es spricht einiges dafür, daß die Nrn. 2 bis 7 der allgemeinen Bestimmungen des Einigungsvertrages für Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes der früheren DDR für die Arbeitnehmer des Trägers der Sozialversicherung nicht gelten sollen. Damit könnte auch Abs. 1 Satz 2 EV unanwendbar sein.
4. Die aufgeworfene Frage kann unentschieden bleiben. Selbst dann, wenn das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 nach Abs. 1 Satz 2 EV ab dem 3. Oktober 1990 nicht mehr anwendbar war, steht dem Kläger auf der Grundlage des Abkommens der geltend gemachte Abfindungsanspruch zu. Er ist vor dem 3. Oktober 1990 entstanden.
Ein Anspruch ist dann entstanden, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind. Geht es um Abfindungsansprüche aus einem Sozialplan oder einem Rationalisierungsschutzabkommen, haben es deren Normgeber durch die Bestimmung der Anspruchsvoraussetzungen in der Hand, den Zeitpunkt festzulegen, zu dem der Anspruch als Vollrecht entsteht. Sie können auch einen bestimmten Stichtag bestimmen, mit dessen Erreichen der Anspruch entstehen soll. Voraussetzung dafür ist, daß Betriebspartner oder Tarifvertragsparteien den von ihnen genannten Stichtag eindeutig zur Anspruchsvoraussetzung erhoben und mit ihm nicht lediglich den bereits entstandenen Anspruch betagt (§ 271 Abs. 2 BGB), also dessen Fälligkeit hinausgeschoben haben (Hansen, NZA 1985, 609, 610, m.w.N.).
Nach dem Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 ist ein Abfindungsanspruch mit Ausspruch der aus Rationalisierungsgründen unvermeidbaren Kündigung, beim Kläger also am 25. September 1990, entstanden und nicht erst mit dem tatsächlichen Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis.
Voraussetzung des Abfindungsanspruchs nach Nr. 7.2. RSA ist nur der Ausspruch einer vom Träger der Sozialversicherung der DDR als unvermeidlich angesehenen rationalisierungsbedingten Kündigung. Damit ist der Abfindungsanspruch entstanden. Weitere Anspruchsvoraussetzungen, die nach Kündigungsausspruch noch erfüllt werden müßten, nennt das Rationalisierungsschutzabkommen ebensowenig wie negative Anspruchsvoraussetzungen. Die Regeln für die Berechnung der Abfindung, bei denen es auf den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ankommen kann, gehören nicht zu den Anspruchsvoraussetzungen. Rechtsgrund für die Pflicht, die Abfindung zu zahlen, ist die Rationalisierungsmaßnahme des Arbeitgebers und dessen darauffolgende Entscheidung, das Arbeitsverhältnis aufzukündigen. Mit Ausspruch der Kündigung ist aus der Sicht des Arbeitgebers alles getan, dessen es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses bedarf. Der gekündigte Arbeitnehmer weiß bereits zu diesem Zeitpunkt, daß sein Arbeitsverhältnis enden wird und richtet sich auf die ihm in Aussicht gestellte Abfindungszahlung ein.
Der Entstehung des Abfindungsanspruchs bereits bei Ausspruch einer rationalisierungsbedingten Kündigung steht Nr. 7.3. RSA nicht entgegen. Die Tarifvertragsparteien haben hier nur eine Bestimmung zur Fälligkeit des Anspruchs getroffen. Sie haben den Zeitpunkt bestimmt, zu dem der Arbeitnehmer die Abfindungszahlung verlangen kann und der Arbeitgeber die Leistung erbringen muß. Eine Aussage dazu, wann der Abfindungsanspruch als Vollrecht entstanden ist, enthält Nr. 7.3. RSA nicht. Gerade dann, wenn eine Regelung den Begriff Fälligkeit ausdrücklich verwendet, ist eine Gleichsetzung der Fälligkeit mit der Anspruchsentstehung nicht ohne weitere Hinweise in der Norm möglich, die hier fehlen. Damit bleibt es für den Abfindungsanspruch nach Nr. 7.2. RSA bei dem entsprechend für Sozialplanansprüche geltenden Grundsatz, daß ein Abfindungsanspruch mit dem Beginn der Durchführung der Maßnahme, dem Ausspruch der Kündigung aus Rationalisierungsgründen, entsteht (vgl. Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., §§ 112, 112 a Rz 28; Hansen, NZA, 1985, 609, 612; wohl auch Heinze, NZA 1984, 17, 19; a.A. LAG Frankfurt am Main Urteil vom 21. August 1984 - 4 Sa 114/84 - NZA 1985, 634).
Bedenken ergeben sich nicht daraus, daß die Kündigung vom 25. September 1990 nach Nr. 7.1. RSA unwirksam sein könnte. Auch hier bedarf diese Tarifvorschrift keiner abschließenden Würdigung. Der Träger der Sozialversicherung der DDR hat am 25. September 1990 aus Rationalisierungsgründen eine Kündigung ausgesprochen. Weitere Voraussetzungen, wie etwa die Wirksamkeit dieser Kündigung, nennt das Rationalisierungsschutzabkommen nicht. Damit ist der Abfindungsanspruch unabhängig davon entstanden, ob der Kläger sich mit Erfolg gegen die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung hätte zur Wehr setzen können.
Da der Abfindungsanspruch des Klägers nach Nr. 7.2. RSA am 25. September 1990 entstanden ist, kommt es nicht darauf an, ob das Rationalisierungsschutzabkommen ab dem 3. Oktober 1990 nach Nr. 1 Satz 2 EV nicht mehr anzuwenden war. Der einmal entstandene Abfindungsanspruch wird durch eine spätere Unanwendbarkeit der Rechtsgrundlage nicht beseitigt.
V. Ein nach Nr. 7.2. RSA gegenüber dem Träger der Sozialversicherung der DDR entstandener Abfindungsanspruch ist seit dem 1. Januar 1991 gegenüber der Beklagten geltend zu machen. Der Träger der Sozialversicherung der DDR ist durch die Bestimmung in der Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet F Abschnitt II Nr. 1 § 1 zum Einigungsvertrag in die beklagte Anstalt des öffentlichen Rechts umgewandelt worden. Diese Anstalt ist zwar nicht Gesamtrechtsnachfolgerin des Trägers der Sozialversicherung geworden. Dessen Vermögen wurde auf die einzelnen Sozialversicherungsträger übertragen, die im Beitrittsgebiet zuständig sind (§ 3 Abs. 1 Satz 1, aaO). Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 der Regelung im Einigungsvertrag sowie § 9 des Gesetzes zur Regelung von Vermögensfragen der Sozialversicherung im Beitrittsgebiet vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2313) können aber Verbindlichkeiten, die zum Vermögen des Trägers der Sozialversicherung der DDR gehören, und für die an sich die Sozialversicherungsträger als Gesamtschuldner haften, nur gegenüber der beklagten Überleitungsanstalt geltend gemacht werden, die sie aus dem Sonderkonto für das Gesamthandvermögen zu erfüllen hat.
B. Die Revision der Beklagten ist gleichwohl begründet. Es kann nicht festgestellt werden, ob das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 für den Träger der Sozialversicherung der DDR verbindlich zustande gekommen ist. Es steht nicht fest, ob der Träger der Sozialversicherung bei Abschluß des Tarifvertrages durch seinen Direktor ordnungsgemäß vertreten war. Insoweit bedarf es weiterer Sachaufklärung.
I. Die Beklagte ist mit ihrer erstmals in der Revisionsinstanz vorgebrachten Rüge nicht ausgeschlossen, das Landesarbeitsgericht habe nicht geprüft, ob das Rationalisierungsschutzabkommen wirksam zustande gekommen ist. Dieser Frage muß das zur Rechtsermittlung in jedem Stadium des Verfahrens verpflichtete Gericht auch in der Revisionsinstanz nachgehen (vgl. MünchKomm-ZPO-Prütting, § 293 Rz 4 f.).
II. Es kann nicht festgestellt werden, ob der Direktor des Trägers der Sozialversicherung der DDR die Arbeitgeberseite bei Abschluß des Rationalisierungsschutzabkommens rechtswirksam vertreten hat.
1. Der Direktor der Sozialversicherung war am 6. August 1990 nicht kraft Organstellung zur Vertretung des Trägers der Sozialversicherung befugt.
Bis zum Abschluß des Staatsvertrags zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 (BGBl. II S. 537) kannte das Recht der DDR die Rechtsfigur der Körperschaft des öffentlichen Rechts in Selbstverwaltung nicht. In Artikel 18 des Staatsvertrages verpflichtete sich die DDR dann dazu, die Sozialversicherung in selbstverwalteten Körperschaften unter staatlicher Rechtsaufsicht durchzuführen. Die Sozialversicherung sollte in eine der Rechtslage der Bundesrepublik Deutschland entsprechende Struktur überführt werden. Demgemäß wurde durch das Gesetz über die Sozialversicherung (SVG) vom 28. Juni 1990 der Träger der Sozialversicherung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Selbstverwaltung errichtet. Die Organisation des Trägers der Sozialversicherung wurde weder im SVG, das einen Direktor der Sozialversicherung nicht nennt, noch in anderen Gesetzen der DDR näher geregelt. Angesichts der Entstehungsgeschichte des SVG muß deshalb auf die Regelungen der Bundesrepublik Deutschland über die Organisation der Träger der Sozialversicherungen zurückgegriffen werden. Nach §§ 29 ff. SGB IV werden die Organe der selbstverwalteten Körperschaften durch die Wahl der Versicherten und Arbeitgeber legitimiert. Dafür, daß der Direktor des Trägers der Sozialversicherung der DDR in dieser Weise legitimiert worden ist, spricht nichts. Auch seine erstmalige Nennung in einer Durchführungsbestimmung zum Gesetz über die Sozialversicherung vom 20. August 1990 (GBl. DDR I S. 1334) gibt keinen Hinweis auf eine organschaftliche Stellung.
2. Da jedenfalls im August 1990 noch kein Organ der Sozialversicherung der DDR gewählt worden war, ist in entsprechender Anwendung von § 37 SGB IV davon auszugehen, daß die Geschäfte des Trägers der Sozialversicherung der DDR zu diesem Zeitpunkt durch die Aufsichtsbehörden selbst oder durch deren Beauftragte geführt worden sind. Aufsichtsbehörden des Trägers der Sozialversicherung waren nach § 33 SVG der Minister für Arbeit und Soziales sowie der Minister für Gesundheitswesen.
a) Da der Direktor der Sozialversicherung der DDR unstreitig in der Organisation des Trägers maßgeblich gehandelt hat, wird das Landesarbeitsgericht festzustellen haben, ob er als Beauftragter der zuständigen Minister entsprechend § 37 SGB IV ermächtigt war, für den Träger der Sozialversicherung das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 abzuschließen. Im Rahmen der erforderlichen Ermittlungen des Landesarbeitsgerichts treffen die Beklagte erhebliche Mitwirkungspflichten. Der Träger der Sozialversicherung der DDR ist in die beklagte Überleitungsanstalt umgewandelt worden. Die Beklagte muß deshalb wissen und im einzelnen darlegen, welche Befugnisse dem offenbar vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund übernommenen Direktor der Sozialversicherung der DDR übertragen worden waren. Möglicherweise wird auch eine ausdrückliche oder stillschweigende Genehmigung des Abschlusses des Rationalisierungsschutzabkommens in Betracht kommen. Es kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß der Abschluß des Rationalisierungsschutzabkommens den für die Geschäftsführung verantwortlichen Ministern verborgen geblieben ist. Da durch das Bekanntwerden eines Rationalisierungsschutzabkommens bei den möglicherweise betroffenen Arbeitnehmern ein schützenswertes Vertrauen entstehen kann, wird zu prüfen sein, inwieweit die zuständigen Minister einem etwa gegen ihren Willen abgeschlossenen Rationalisierungsschutzabkommen nach außen hin entgegengetreten sind.
Dabei ist das Zustandekommen des Rationalisierungsschutzabkommens auch anhand der Grundsätze über die Anscheins- und Duldungsvollmacht zu überprüfen. Tarifverträge nach dem Tarifvertragsrecht der Bundesrepublik Deutschland unterscheiden sich von dem früheren Recht der DDR für Rahmenkollektivverträge u. a. dadurch, daß sie nicht unter maßgeblicher staatlicher Beteiligung verordnet werden, sondern nach den Regeln der Privatautonomie zustande kommen. Mit der Übernahme des Tarifvertragssystems der Bundesrepublik Deutschland durch die DDR müssen daher auch für das Zustandekommen von Tarifverträgen die Regeln gelten, die im Tarifvertragsrecht der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich sind. Hierzu gehören die Regeln über die Anscheins- und Duldungsvollmacht.
b) Sollte das Landesarbeitsgericht eine Ermächtigung des Direktors der Sozialversicherung der DDR zum Abschluß des Rationalisierungsschutzabkommens feststellen, wäre dieses Abkommen für den Träger der Sozialversicherung rechtsverbindlich zustande gekommen.
Die Beklagte beruft sich demgegenüber zu Unrecht auf den Beschluß des Ministerrats vom 20. Juni 1990. Nach diesem Beschluß bedurften alle Regelungen tarifvertraglicher und sonstiger Art, die die Rechtsverhältnisse der Mitarbeiter in den zentralen und örtlichen Staatsorganen, in den Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, in den Gerichten sowie in den anderen staatlichen und kommunalen Verwaltungen, die aus öffentlichen Haushalten finanziert werden, vor ihrem Abschluß mit den Gewerkschaften bzw. vor ihrem Inkrafttreten der Zustimmung des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik.
Das Rationalisierungsschutzabkommen vom 6. August 1990 bedurfte dieser Zustimmung nicht. Der Beschluß des Ministerrates konnte zwar möglicherweise die Minister im Innenverhältnis auch insoweit binden, wie sie die Geschäfte einer rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und eigener Haushaltshoheit führten. Eine Außenwirkung des Beschlusses des Ministerrates vom 20. Juni 1990 ergibt sich daraus nicht. Anders als in dem vom Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts am 13. Juli 1994 entschiedenen Fall (- 4 AZR 699/93 -, zur Veröffentlichung vorgesehen) geht es bei dem Rationalisierungsschutzabkommen nicht darum, daß ein Minister den Ministerrat beim Tarifabschluß als Tarifvertragspartei vertreten hat und deshalb auch an Einschränkungen seiner Vertretungsmacht durch den Ministerrat gebunden war. Die Minister für Arbeit und Soziales und für Gesundheitswesen waren für einen Tarifabschluß beim Träger der Sozialversicherung durch das SVG ermächtigt. Diese gesetzliche Ermächtigung konnte ihnen durch den Ministerratsbeschluß nicht genommen werden. Nach dem Recht der DDR hatte jeder Minister verantwortlich das ihm übertragene Aufgabengebiet zu leiten (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 Verfassung der DDR; § 14 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Ministerrat). Da dem Minister für Arbeit und Soziales und dem Minister für Gesundheitswesen durch das SVG die Führung des Trägers der Sozialversicherung übertragen worden war, konnten die Minister auch innerhalb dieses Zuständigkeitsbereichs in selbständiger Verantwortung Tarifverträge abschließen oder hierzu ermächtigen. Anderslautende Ministerratsbeschlüsse konnten sie nur im Innenverhältnis, nicht zu Lasten der am Rechtsverkehr im übrigen Beteiligten binden.
C. Vor einer abschließenden Kostenentscheidung wird zu prüfen sein, ob § 97 Abs. 2 ZPO zu Lasten der Beklagten entsprechend anzuwenden ist.
Dr. Heither Kremhelmer Bepler
Dr. Bächle Schlaefke
Fundstellen
Haufe-Index 438530 |
EBE/BAG 1995, 85-88 (LT1-2) |
EWiR 1995, 913 (L) |
NZA 1996, 139 |
ZAP-Ost, EN-Nr 309/95 (S) |
AP § 4 TVG Rationalisierungsschutz (LT1-2), Nr 6 |