Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtanzeige der Massenentlassung. Kündigung durch Insolvenzverwalter und unterbliebene Massenentlassungsanzeige
Orientierungssatz
- Ist eine notwendige Massenentlassungsanzeige unterblieben, ist das Arbeitsverhältnis durch die entsprechende Kündigung nicht aufgelöst worden, denn ohne die Anzeige kann eine wirksame Entlassung nicht erfolgen.
- Im Falle der Nichtanzeige führen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zB 13. April 2000 – 2 AZR 215/99 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 = EzA KSchG § 17 Nr. 9), nach der die Massenentlassungsanzeige zeitlich der Kündigungserklärung nachfolgen kann und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk/Kühnel] EzA KSchG § 17 Nr. 13) nach der der Arbeitgeber erst kündigen darf, wenn die Massenentlassung angezeigt wurde, zu demselben Ergebnis. Auf die Auswirkungen der genannten Entscheidung des EuGH für das nationale Recht der Massenentlassung kommt es deshalb nicht an.
- § 113 Abs. 2 InsO aF schloss bei rechtzeitiger Klageerhebung ein Nachschieben weiterer Unwirksamkeitsgründe nach Fristablauf nicht aus.
Normenkette
KSchG 1969 §§ 4, 17-18; InsO a.F. § 113 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der dem Kläger gegenüber durch den Beklagten erklärten ordentlichen betriebsbedingten Kündigung vom 22. November 2002.
Der Kläger war seit Juli 1999 bei der Schuldnerin als Betonbauer beschäftigt. Am 1. November 2002 wurde über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Beklagte wurde zum Insolvenzverwalter berufen. Mit Schreiben vom 13. November 2002, dessen Zugangszeitpunkt streitig ist, hörte der Beklagte den Betriebsrat unter Beifügung einer Namensliste aller zu kündigenden Arbeitnehmer, die zugleich deren Geburts- und Eintrittsdatum sowie den beabsichtigten Kündigungstermin enthielt, zur Kündigung sämtlicher Arbeitnehmer an. Außerdem wies er in diesem Schreiben darauf hin, dass die geplanten Entlassungen gem. § 17 KSchG anzeigepflichtig seien. Zum 31. Dezember 2002 sollten 20 der zuletzt insgesamt 57 Arbeitnehmer, bis 31. Januar 2003 drei weitere Mitarbeiter und zum 28. Februar 2003 die übrigen Mitarbeiter entlassen werden. Eine Massenentlassungsanzeige erfolgte nicht.
Mit Schreiben vom 22. November 2002 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristgemäß zum 31. Dezember 2002. Wegen einer Verzögerung bei der Abwicklung des letzten Auftrags wurde der Kläger über den 31. Dezember 2002 hinaus bis zum 28. Februar 2003 weiterbeschäftigt.
Mit seiner am 9. Dezember 2002 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung sei sozialwidrig iSv. § 1 KSchG, da dringende betriebliche Gründe nicht vorlägen. Auch habe der Beklagte bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt. Die Betriebsratsanhörung sei nicht ordnungsgemäß erfolgt. Ihm sei die für den Kläger einzuhaltende Kündigungsfrist nicht mitgeteilt worden. Erstmals mit Schriftsatz vom 14. April 2003 hat der Kläger bestritten, dass der Beklagte seiner Anzeigepflicht nach § 17 KSchG gegenüber der Agentur für Arbeit nachgekommen ist.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass die mit Schreiben vom 22. November 2002 ausgesprochene Kündigung des Arbeitsverhältnisses unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis nicht beendet hat,
2. den Beklagten zu verurteilen, den Kläger über den 28. Februar 2003 hinaus zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen,
3. festzustellen, dass auch aus anderen Gründen das zwischen dem Kläger und der b GmbH & Co. KG bestehende Arbeitsverhältnis nicht beendet ist,
hilfsweise,
den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger gegenüber eine Annahmeerklärung abzugeben, gerichtet auf den Abschluss eines Arbeitsvertrages mit Wirkung ab 1. März 2003 zu den bisherigen Arbeitsbedingungen aus dem Arbeitsvertrag vom 28. Juni 1999 unter Anrechnung der früheren Beschäftigungszeiten.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei aus dringenden betrieblichen Gründen sozial gerechtfertigt. Der Beklagte habe sich bereits zum Zeitpunkt des Kündigungsschreibens vom 22. November 2002 entschlossen gehabt, den Betrieb stillzulegen und sämtliche Mitarbeiter zu entlassen. Der einzige bei Insolvenzeröffnung bestehende Auftrag habe zum Jahresende 2002 vollständig abgeschlossen werden sollen. Dies habe sich jedoch verzögert, so dass die Montagearbeiten erst zum 28. Februar 2003 beendet gewesen seien. Im März 2003 seien noch Aufräumarbeiten durchgeführt worden. Der letzte Arbeitnehmer sei zum 31. März 2003 ausgeschieden. Mit Schreiben vom 13. November 2002 seien dem Betriebsratsvorsitzenden die Kündigungsgründe mitgeteilt worden. Soweit sich der Kläger erstmals mit Schriftsatz vom 14. April 2003 auf die unterbliebene Massenentlassungsanzeige berufe, sei er damit nach § 113 Abs. 2 InsO aF präkludiert.
Das Arbeitsgericht hat dem Klageantrag zu 1) stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die – ausschließlich vom Beklagten eingelegte – Berufung zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass das Arbeitsverhältnis durch die streitbefangene Kündigung nicht aufgelöst worden ist.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei zwar sozial gerechtfertigt, könne jedoch gleichwohl keine Wirkung entfalten, weil der Beklagte keine Massenentlassungsanzeige erstattet habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beeinträchtige eine nach § 17 KSchG erforderliche, aber unterbliebene Massenentlassungsanzeige die Wirksamkeit der Kündigung nicht. Vielmehr sei nur die Entlassung des betreffenden Arbeitnehmers unzulässig. Hier wirke sich die Unwirksamkeit der Entlassung dagegen auch auf die Kündigung aus. Es sei nämlich keine Fallkonstellation denkbar, in der die Agentur für Arbeit einer Entlassung des Klägers zum in der Kündigung bestimmten Zeitpunkt zustimmen dürfe.
II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der vom Kläger gestellte Antrag zu 1), der als Kündigungsschutzantrag iSv. § 4 Satz 1 KSchG auszulegen ist. Den ursprünglichen Antrag zu 3), einen allgemeinen Feststellungsantrag, hat das Arbeitsgericht als unzulässig abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger kein Rechtsmittel eingelegt. Daher kann der Antrag zu 1) auch nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses über den 28. Februar 2003 hinaus mit umfasst.
2. Der Kläger musste die Unwirksamkeit der Kündigung nach §§ 17, 18 KSchG nicht innerhalb der Dreiwochenfrist des § 113 Abs. 2 InsO aF geltend machen. Diese Norm, die inzwischen mit Gesetz vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3002) wegen der Neufassung des § 4 Satz 1 KSchG aufgehoben wurde, lautete:
“Will ein Arbeitnehmer geltend machen, dass die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses durch den Insolvenzverwalter unwirksam ist, so muss er auch dann innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Klage beim Arbeitsgericht erheben, wenn er sich für die Unwirksamkeit der Kündigung auf andere als die in § 1 Abs. 2 und 3 des Kündigungsschutzgesetzes bezeichneten Gründe beruft. § 4 Satz 4 und § 5 des Kündigungsschutzgesetzes gelten entsprechend.”
Mit seiner am 9. Dezember 2002 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage gegen die ordentliche Kündigung des Beklagten vom 22. November 2002 hat der Kläger diese Frist gewahrt. Allerdings hat er sich auf die Unwirksamkeit der Entlassung nach §§ 17, 18 KSchG erstmals mit Schreiben vom 14. April 2003 berufen.
Umstritten ist, ob § 113 Abs. 2 InsO aF so auszulegen ist, dass alle Unwirksamkeitsgründe innerhalb der Frist des § 113 Abs. 2 InsO aF geltend zu machen sind (so ErfK/Müller-Glöge 4. Aufl. § 113 InsO Rn. 37; Irschlinger in HK-InsO 3. Aufl. § 113 Rn. 20; Hess in Hess/Weis/Wienberg InsO 2. Aufl. § 113 Rn. 428; Braun InsO § 113 Rn. 20; FK-InsO/Eisenbeis 3. Aufl. § 113 Rn. 112; Boewer RdA 2001, 380, 391; Schaub DB 1999, 217, 224; KR-Weigand 6. Aufl. §§ 113, 120 ff. InsO Rn. 83, anders jetzt in der 7. Aufl. aaO Rn. 85) oder ob über die analoge Anwendung von § 6 KSchG bei rechtzeitiger Klageerhebung später weitere Unwirksamkeitsgründe geltend gemacht werden können (so MünchKommInsO-Löwisch/Caspers § 113 Rn. 76 f.; Berscheid in Uhlenbruck InsO 12. Aufl. § 113 Rn. 131; Kittner/Däubler/Zwanziger-Däubler KSchR 6. Aufl. § 113 InsO Rn. 52; Zwanziger Das Arbeitsrecht in der Insolvenzordnung 2. Aufl. § 113 InsO Rn. 33).
Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts konnte diese Frage bislang offen lassen (19. Januar 2000 – 4 AZR 70/99 – AP InsO § 113 Nr. 5 = EzA InsO § 113 Nr. 10, zu I der Gründe; 16. Juni 1999 – 4 AZR 191/98 – BAGE 92, 41, 43, zu I der Gründe), hat allerdings in seiner Entscheidung vom 16. Juni 1999 ausgeführt, es spreche viel dafür, dass nicht nur § 4 Satz 4 und § 5 KSchG entsprechend anwendbar seien, wie es § 113 Abs. 2 Satz 2 InsO ausdrücklich vorsehe, sondern auch § 6 KSchG über die verlängerte Anrufungsfrist. Wenn nicht nur die Sozialwidrigkeit iSv. § 1 KSchG, sondern auch Kündigungsmängel iSd. § 13 Abs. 3 KSchG nach § 113 Abs. 2 Satz 1 InsO innerhalb von drei Wochen geltend zu machen seien, könne es dem Arbeitnehmer nicht zum Nachteil gereichen, wenn er wie im Falle des § 6 KSchG zunächst einen sonstigen Nichtigkeitsgrund fristgerecht rüge und erst außerhalb der Dreiwochenfrist die Sozialwidrigkeit der Kündigung geltend mache. Für den Fall der Sozialwidrigkeit gölten die §§ 4 ff. KSchG und damit auch § 6 KSchG ohnehin. Dies müsse auch im umgekehrten Fall gelten, wenn zunächst fristgerecht die Sozialwidrigkeit der Kündigung und außerhalb der Dreiwochenfrist ein anderer Unwirksamkeitsgrund geltend gemacht werde. Der Gesetzgeber bezwecke mit § 113 Abs. 2 InsO “Verzögerungen bei der Abwicklung der Rechtsverhältnisse des Schuldners zu vermeiden” (Begründung zu § 127 Abs. 2 Regierungsentwurf = § 113 Abs. 2 InsO, BT-Drucks. 12/2443 S. 149). Diesem Ziel stehe nicht entgegen, sich außerhalb der Frist auf sonstige Nichtigkeitsgründe zu berufen. Deren Klärung sei in der Regel mit weniger Zeitaufwand verbunden als im umgekehrten Fall die nachträgliche Geltendmachung von Sozialwidrigkeit.
Darüber hinaus weisen Kübler/Prütting/Moll (InsO Stand Mai 2005 § 113 Rn. 98) zu Recht darauf hin, dass der Wortlaut des § 113 Abs. 2 Satz 1 InsO aF nur eine Klageerhebung innerhalb der Dreiwochenfrist verlangt. Die Regelung besagt nicht, dass Voraussetzung für die Fristeinhaltung durch die Klageerhebung zugleich ist, dass bereits alle Unwirksamkeitsgründe in der Klagebegründung oder sonst innerhalb der Dreiwochenfrist geltend gemacht werden.
3. Fehlt die Massenentlassungsanzeige, so führte die etwa im Übrigen wirksame Kündigungserklärung des Beklagten nicht dazu, dass der Beklagte den Kläger zu dem in Aussicht genommenen Beendigungstermin oder zu einem späteren Termin hat entlassen können. Von dem Antrag des Klägers ist die Rechtsfolge erfasst, dass das Arbeitsverhältnis bei unterbliebener Massenentlassungsanzeige durch die entsprechende Kündigung nicht aufgelöst worden ist.
a) Gegenstand einer Kündigungsschutzklage mit einem Antrag nach § 4 Satz 1 KSchG ist die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine konkrete, mit dieser Klage angegriffene Kündigung zu dem in ihr vorgesehenen Termin (sogenannter punktueller Streitgegenstandsbegriff, vgl. BAG 27. Januar 1994 – 2 AZR 484/93 – AP KSchG 1969 § 4 Nr. 28 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 48, zu B II 2b (1) der Gründe; 13. März 1997 – 2 AZR 512/96 – BAGE 85, 262, 266, zu II 1 der Gründe). Voraussetzung für die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch eine bestimmte Kündigung nicht aufgelöst worden ist, ist der Bestand eines Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der mit der Kündigung beabsichtigten Beendigung des Rechtsverhältnisses (BAG 20. September 2000 – 5 AZR 271/99 – BAGE 95, 324, 326, zu I der Gründe; KRFriedrich 7. Aufl. § 4 KSchG Rn. 225).
b) Auch wenn es für die Wirksamkeit der Kündigung nicht darauf ankommt, ob eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG nicht erfolgt ist, führt eine (gänzlich) unterbliebene Massenentlassungsanzeige doch dazu, dass das Arbeitsverhältnis nicht zu dem in der Kündigung genannten Termin endet, denn die Entlassung darf nicht vollzogen werden (BAG 13. April 2000 – 2 AZR 215/99 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 = EzA KSchG § 17 Nr. 9, zu B III 2a der Gründe). Jedenfalls in dem Fall, in dem, wie hier, zu keinem Zeitpunkt die Zustimmung zur Massenentlassung eingeholt wurde, führen der Lösungsansatz des Europäischen Gerichtshofs – Anzeige der Massenentlassung vor Ausspruch der Kündigungen – (27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk/Kühnel] EzA KSchG § 17 Nr. 13) und der des Bundesarbeitsgerichts – Anzeige der Massenentlassung auch nach Ausspruch der Kündigung, während die Kündigungsfristen schon laufen, und Bestand des Arbeitsverhältnisses ggf. über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bis nach den nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG maßgebenden Zeitpunkten – zum gleichen Ergebnis, nämlich dazu, dass das Arbeitsverhältnis zum in der Kündigung vorgesehenen Termin nicht aufgelöst wurde. Auf die im Zusammenhang mit der Entscheidung des EuGH vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – aaO) auftretenden Fragen kommt es hier nicht an (vgl. insoweit auch BAG 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04 – NZA 2005, 766). Auf die vom Landesarbeitsgericht indirekt bejahte Frage, ob der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört worden ist, braucht der Senat nicht mehr einzugehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Fischermeier, Dr. Armbrüster, Friedrich, Hinsch, Spiekermann
Fundstellen
Haufe-Index 1413193 |
DB 2005, 2141 |
JR 2007, 307 |
NZA 2005, 1109 |
SAE 2005, 300 |
StuB 2006, 208 |
ZIP 2005, 1931 |
AP, 0 |
EzA-SD 2005, 16 |
EzA |
ArbRB 2005, 361 |