Entscheidungsstichwort (Thema)
Rationalisierungsmaßnahme. Stillegung eines Betriebs
Leitsatz (redaktionell)
Die Stillegung eines Betriebs stellt eine wesentliche Änderung der Arbeitsorganisation dar. Die dadurch erreichte Kostenersparnis führt aber nur dann zu einer Rationalisierungsmaßnahme gemäß § 2 Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Angestellte vom 29. Oktober 1971 idF vom 18. Oktober 1973, wenn darüber hinaus durch die Stillegung in einem anderen Betrieb eine rationellere Arbeitsweise bezweckt wird.
Normenkette
TVG § 1
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.10.1986; Aktenzeichen 8 Sa 1220/86) |
ArbG Osnabrück (Entscheidung vom 09.05.1986; Aktenzeichen 3 Ca 47/86) |
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte der Klägerin eine Abfindung nach dem Tarifvertrag über den Rationalisierungsschutz für Angestellte vom 29. Oktober 1971 in der Fassung vom 18. Oktober 1973 (TV-Rat) zahlen muß.
Der beklagte Bezirksverband, dem mehrere Gebietskörperschaften angehören, ist Träger von Pflegeheimen in S, St und O, ferner der Arbeiterkolonie D in D und des Kurkinderheimes R. In diesem Kurkinderheim war die Klägerin seit dem Jahre 1974 als Erzieherin mit einem Monatsgehalt von zuletzt 2.998,71 DM beschäftigt.
Im Juni 1985 beschloß der Beklagte, den Betrieb des Kinderheims mangels Auslastung aufzugeben. Er kündigte im Oktober das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 31. März 1986. Anfang November 1985 stellte der Beklagte den Kurbetrieb ein und verkaufte das Kinderheim.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Stillegung des Kinderheims stelle eine Rationalisierungsmaßnahme gemäß § 2 TV-Rat dar. Gemäß § 8 TV-Rat habe sie daher Anspruch auf eine Abfindung, zumal durch die Schließung des Kinderheimes Mittel frei geworden seien, die der Beklagte für seine anderen Objekte verwenden könne.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin eine
Abfindung in Höhe von 23.989,68 DM zu zahlen.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und ausgeführt, die Stillegung des Kinderheimes, dessen Aufgaben von keiner anderen von ihm unterhaltenen Einrichtung wahrgenommen werde, stelle keine Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des TV-Rat dar. Die Stillegung sei nicht durch ihn veranlaßt worden. Ursächlich hierfür sei vielmehr die durch Rückgang der Kuren hervorgerufene mangelnde Auslastung des Heimes gewesen. Im übrigen setze eine Rationalisierung begrifflich voraus, daß die bisherige Tätigkeit zu wirtschaftlicheren Bedingungen fortgeführt werde. Seit der Schließung des Kinderheimes R stehe ihm aber kein Heim mehr für Kuren von Kindern zur Verfügung.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter. Der Beklagte bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin infolge der Stillegung des Kinderheimes des Beklagten begründet keinen Anspruch auf Abfindung gemäß § 8 Abs. 1 TV-Rat, weil durch die Stillegung keine Rationalisierungsmaßnahme gemäß § 2 TV-Rat bezweckt wurde.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, das Abfindungsbegehren der Klägerin sei unbegründet, da die Schließung des Kinderheimes des Beklagten keine Rationalisierungsmaßnahme i.S. des TV-Rat darstelle. Wenn in § 2 TV-Rat u.a. auch die Stillegung als Rationalisierungsmaßnahme genannt sei, so gelte dies nur, wenn diese Maßnahme zugleich eine erhebliche Änderung der Arbeitstechnik oder wesentliche Änderung der Arbeitsorganisation darstelle, die eine rationellere Arbeitsweise bezwecke. Die Schließung des Kinderheimes bezwecke aber keine rationellere Arbeitsweise. Diese liege nur vor, wenn bei der im Betrieb oder Verwaltung verrichteten Arbeit durch Umgestaltung der Arbeitstechnik oder Arbeitsorganisation die Qualität oder Quantität des Arbeitsergebnisses erhöht oder das Arbeitsergebnis unter geringerem Zeit- und Kostenaufwand erreicht werden solle. Insbesondere könne auch ohne Zusammenlegung der Betriebe eine rationellere Arbeitsweise dadurch eintreten, daß gleichzeitig mit der Stillegung eines Betriebes die Kapazität eines anderen Betriebes mit gleichartiger Arbeit erweitert werde. Diese Voraussetzungen seien hier jedoch nicht gegeben. Der Beklagte habe die in dem Kinderheim verrichtete Arbeit gänzlich aufgegeben. Seit der Stillegung des Kinderheimes unterhalte der Beklagte kein Kurkinderheim mehr. Die übrigen von dem Beklagten unterhaltenen Einrichtungen verfolgten andere arbeitstechnische Zwecke, nämlich die Pflege geistig oder seelisch Behinderter und die Betreuung Nichtseßhafter.
II. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Das Landesarbeitsgericht hat rechtlich zutreffend die Stillegung des Kinderheimes des Beklagten nicht als Rationalisierungsmaßnahme im Sinne von § 2 TV-Rat angesehen. Nach dieser Vorschrift sind Rationalisierungsmaßnahmen "vom Arbeitgeber veranlaßte erhebliche Änderungen der Arbeitstechnik oder wesentliche Änderungen der Arbeitsorganisation, die eine rationellere Arbeitsweise bezwecken, insbesondere zu Verlegungen, Zusammenlegungen, Stillegungen oder Ausgliederungen von Verwaltungen oder Betrieben bzw. von Verwaltungs- oder Betriebsteilen führen, und für Angestellte einen Wechsel der Beschäftigung oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Folge haben".
2. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Stillegung des Kinderheimes von dem Beklagten veranlaßt worden ist (vgl. dazu Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, BAT, Stand: Januar 1988, Bd. III, Teil VI, TV-Rat, Erl. 2 e). Jedenfalls stellt die Stillegung keine Änderung der Arbeitstechnik oder der Arbeitsorganisation dar, die eine rationellere Arbeitsweise bezweckt.
a) Ob eine Stillegung eines Betriebes den Begriff Rationalisierungsmaßnahme gemäß § 2 TV-Rat erfüllt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist zunächst vom Wortlaut auszugehen und der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, zuletzt erkennender Senat Urteil vom 17. September 1987 - 6 AZR 560/84 -, zur Veröffentlichung bestimmt; Urteile vom 14. Mai 1987 - 6 AZR 555/85 - AP Nr. 46 zu § 611 BGB Ärzte, Gehaltsansprüche und vom 30. April 1987 - 6 AZR 428/84 - AP Nr. 3 zu § 23 SchwbG; BAG Urteil vom 24. September 1986 - 4 AZR 400/85 - AP Nr. 2 zu § 2 BAT). Außerdem ist der tarifliche Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnormen zutreffend ermittelt werden kann. Im übrigen können ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages und eine bereits existierende praktische Tarifübung ergänzend herangezogen werden. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, aaO; Senatsurteil vom 30. April 1987 - 6 AZR 644/84 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Ausbildungsverhältnis).
b) Die grammatikalische, am Wortlaut orientierte Auslegung dieser Vorschrift zeigt, daß der mit dem Wort "insbesondere" eingeleitete Teilsatz, der die Begriffe Verlegungen, Zusammenlegungen, Stillegungen oder Ausgliederungen enthält, an den Relativsatz "die eine rationellere Arbeitsweise bezwecken" anschließt. Die Verknüpfung der beiden Teilsätze durch den Begriff "insbesondere" macht deutlich, daß die im einzelnen genannten Maßnahmen beispielhaft für die von den Tarifvertragsparteien angenommenen Möglichkeiten einer rationelleren Arbeitsweise stehen. Bereits die Verknüpfung der Satzteile miteinander und deren grammatikalische Zuordnung zueinander machen somit deutlich, daß nicht jede Verlegung, Zusammenlegung, Stillegung oder Ausgliederung stets eine rationellere Arbeitsweise bezweckt. Es bedarf somit schon bei grammatikalischer Auslegung des Hinzutretens weiterer tariflicher Merkmale, um den Begriff der Rationalisierungsmaßnahme im Sinne dieses Tarifvertrages zu erfüllen. Nicht jede Stillegung stellt demnach eine Rationalisierungsmaßnahme dar. Ebensowenig können nur die in dem mit "insbesondere" eingeleiteten Teilsatz genannten Möglichkeiten als Rationalisierungsmaßnahmen im Sinne des Tarifvertrages bezeichnet werden. Hinzukommen muß vielmehr stets eine vom Arbeitgeber veranlaßte, erhebliche oder wesentliche Änderung der Arbeitstechnik oder -organisation und eine damit bezweckte rationellere Arbeitsweise, um dem tarifvertraglichen Verständnis der Rationalisierungsmaßnahme gerecht zu werden (so auch Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, BAT, Stand: Januar 1988, Bd. III, Teil VI, TV-Rat, Erl. 2 c ff.; ebenso für den Bereich des insoweit inhaltsgleichen Tarifvertrages über den Rationalisierungsschutz für Arbeiter vom 6. Mai 1970 i.d.F. der Tarifverträge vom 5. August 1970, 18. Oktober 1973 und 7. November 1974; Scheuring/Lang, BMT-G II, Stand: Januar 1988, Bd. II, § 2 TV-Rat (Arbeiter) Erl. 2 f.; vgl. auch Durchführungserlaß des Bundesministers des Innern vom 13. Januar 1972 D III 2 - 220 140/6 zu dem Rationalisierungsschutzabkommen vom 29. Oktober 1971 I 2 e, abgedruckt in Scheuring/Steingen, MTB II Anh. I/29 a S. 257).
c) Entgegen der Auffassung der Revision stellt auch eine durch die Stillegung des Kinderheimes etwa eingetretene Kostensenkung für sich allein keine Änderung der Arbeitsorganisation dar, die eine rationellere Arbeitsweise bezweckt. Zwar stellt die ersatzlose und dauerhafte Stillegung des Kinderheimes des Beklagten eine wesentliche Änderung der Arbeitsorganisation dar. Denn eine Änderung setzt begrifflich nicht den Erhalt eines Teils der Arbeitsorganisation voraus. Vielmehr stellt gerade die völlige Beendigung der betrieblichen Organisationsstruktur die weitgehendste Erscheinungsform der Änderung der Arbeitsorganisation dar.
Durch die wesentliche Änderung der Arbeitsorganisation in Form der Stillegung des Kinderheimes hat der Beklagte aber keine rationellere Arbeitsweise bezweckt. Auch die Stillegung eines Betriebs oder einer Verwaltung kann eine rationellere Arbeitsweise bezwecken, wenn die in diesem Betrieb oder der Verwaltung erledigten Aufgaben nunmehr zumindest teilweise in einem anderen Betrieb oder einer anderen Verwaltung, auf die der Inhaber der stillgelegten Einheit Einfluß hat, etwa durch Kapazitätserweiterungen oder bessere Auslastung dort miterledigt werden können. Die mit dem Ziel einer rationelleren Arbeitsweise veranlaßte Stillegung setzt also bei einer funktionsbezogenen, am arbeitstechnischen Zweck des anderen Betriebes oder der anderen Verwaltung ausgerichteten Betrachtungsweise die Verbesserung dort bestehender Zustände oder Abläufe, die Steigerung der qualitativen Ergiebigkeit und/oder der Erzeugnisqualität voraus bzw. sie muß durch Verringerung des Arbeitsaufwandes zu weniger Sach- oder Personalmitteln oder zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch Umgestaltung des Produktionsprozesses führen. Dabei kann die quantitative oder qualitative Steigerung an anderer Stelle und in anderen Formen in Erscheinung treten. Zum Begriff der rationelleren Arbeitsweise gehört somit nicht notwendig, daß sie sich gerade in dem Betrieb oder der Verwaltung oder der betroffenen Abteilung bemerkbar macht. Es genügt vielmehr, daß eine rationellere Arbeitsweise in einem anderen Betrieb oder einer anderen Verwaltung zum Tragen kommt, wenn nur der die Maßnahme anordnende, eine rationellere Arbeitsweise bezweckende Arbeitgeber auf diese Einheiten, in dessen Geschäftskreis sich die positiven Erscheinungen rationellerer Arbeitsweise auswirken, Einfluß hat.
d) Den Vorzug verdient eine funktionsbezogene, am arbeitstechnischen Zweck orientierte Betrachtung vor einem rein wirtschaftlichen Verständnis des tariflichen Rationalisierungsbegriffs. Nicht jede Rationalisierungsmaßnahme, die eine rationellere Arbeitsweise zum Ziel hat, muß mit Kostenersparnissen zwingend einhergehen. Auch die kostenaufwendigere Maßnahme kann eine rationellere Arbeitsweise bezwecken, ohne daß dies ihr den Charakter einer Rationalisierungsmaßnahme nimmt. Andererseits ist eine mit Kostenersparnis verbundene Personalmaßnahme nicht notwendig Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des Tarifvertrages, weil sie keine rationellere Arbeitsweise zum Ziele haben muß.
Davon geht auch der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 3. Mai 1978 (BAGE 30, 272 = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung) aus. Wenn dort festgestellt wird, daß eine rationelle Arbeitsweise auch durch Verringerung der Personalverwaltung durch Entlassung einer Gruppe von Arbeitnehmern bezweckt werde, weil dies zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit der Verwaltung führe, und es nicht auf eine Kostenersparnis entscheidend ankommt, so zeigt dies die funktionsbezogene, am arbeitstechnischen Zweck orientierte Betrachtungsweise. Nach dem Sinn und Zweck des Rationalisierungs-TV geht es nicht vorrangig um den Ausgleich von durch verwaltungstechnische Vereinfachung, Entlastung oder effizientere Kapazitätsauslastung der Personalverwaltung entstandenen Nachteilen des einzelnen betroffenen Arbeitnehmers. Geregelt werden soll vielmehr die durch die Aufgabe oder Veränderung des Betriebszweckes hervorgerufene Beeinträchtigung des dadurch in Mitleidenschaft gezogenen Arbeitnehmers. Nicht berücksichtigt wird hingegen, wenn sich als mittelbare Folge einer Rationalisierungsmaßnahme an anderer Stelle der Verwaltung oder des Betriebes mittelbare rationellere Arbeitsweisen ergeben, die nicht bezweckt waren. Eine rationellere Arbeitsweise muß also das Ziel der vom Arbeitgeber veranlaßten Veränderung sein.
III. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Beklagte das Kinderheim, in dem die Klägerin tätig war, geschlossen, ohne daß dessen betriebstechnische Aufgabe durch eine andere Einrichtung, auf die der Beklagte unmittelbaren Einfluß hat, zumindest teilweise mitübernommen worden ist. Der Beklagte hat die von dem geschlossenen Kinderheim durchgeführten Kinderkuren von keiner seiner sonstigen Einrichtungen übernommen und damit einen seiner Betriebszwecke aufgegeben. Durch die Schließung des Kinderheimes hat der Beklagte auch keine rationellere Arbeitsweise in einer anderen in seiner Trägerschaft befindlichen Einrichtung bezweckt. Eine Rationalisierungsmaßnahme gemäß § 2 TV-Rat liegt daher nicht vor.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Dr. Röhsler Dr. Jobs Dörner
Ramdohr Buschmann
Fundstellen
Haufe-Index 440891 |
BAGE 58, 31-37 (LT1) |
BAGE, 31 |
BB 1989, 494-495 (LT1) |
DB 1988, 1957-1958 (LT1) |
EBE/BAG 1988, 3-5 (LT1) |
JR 1989, 44 |
NZA 1988, 851-852 (LT1) |
RdA 1988, 317 |
ZTR 1988, 462-463 (LT1) |
AP § 2 TV RatAng (LT1), Nr 1 |
AR-Blattei, ES 1300 Nr 6 (LT1) |
AR-Blattei, Rationalisierungsschutz Entsch 6 (LT1) |
EzA § 111 BetrVG 1972, Nr 22 (LT1) |
EzBAT TV Rationalisierungsschutz, TV v. 29.10.1971 Nr 1 (LT1) |
PersR 1988, 278-279 (LT1) |