Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifkonkurrenz. Tarifkonkurrenz – Merkmale. Spezialitätsprinzip. Allgemeinverbindlicherklärung – Sinn und Zweck. Vergütungsabsenkung durch Tarifvertrag – Wirksamkeit. Vertragsauslegung durch Revisionsgericht bei typisierten Willenserklärungen
Leitsatz (amtlich)
Ein kraft vertraglicher Vereinbarung in einem Arbeitsverhältnis geltender Firmentarifvertrag verdrängt nach den Regeln der Tarifkonkurrenz als speziellere Regelung einen für das Arbeitsverhältnis kraft Allgemeinverbindlichkeit geltenden – zudem vertraglich in Bezug genommenen – von derselben Gewerkschaft abgeschlossenen Verbandstarifvertrag, auch soweit Ersterer einzelne ungünstigere Regelungen enthält; das Günstigkeitsprinzip ist bei dieser Fallgestaltung nicht anwendbar.
Orientierungssatz
- Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn verschiedene Tarifverträge für dasselbe Arbeitsverhältnis gelten sollen.
- Bei einer Tarifkonkurrenz kommt nur der speziellere Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis zur Anwendung.
- Tarifkonkurrenz liegt auch dann vor, wenn auf ein Arbeitsverhältnis neben einem kraft Allgemeinverbindlichkeit geltenden Tarifvertrag ein weiterer Tarifvertrag kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung findet.
- Ein kraft vertraglicher Vereinbarung in einem Arbeitsverhältnis geltender Firmentarifvertrag verdrängt nach den Regeln der Tarifkonkurrenz als speziellere Regelung einen für das Arbeitsverhältnis kraft Allgemeinverbindlichkeit geltenden – zudem vertraglich in Bezug genommenen – von derselben Gewerkschaft abgeschlossenen Verbandstarifvertrag, auch soweit Ersterer einzelne ungünstigere Regelungen enthält; das Günstigkeitsprinzip ist bei dieser Fallgestaltung nicht anwendbar.
- Zur Vergütungsabsenkung in einem Sanierungstarifvertrag
- Mit einer vom Arbeitgeber in einem Formulararbeitsvertrag vorformulierten Verweisungsklausel werden die fachlich und betrieblich einschlägigen Tarifverträge in Bezug genommen. Dies sind regelmäßig die spezielleren Tarifverträge, insbesondere Firmentarifverträge.
- Die Auslegung typischer Willenserklärungen ist vom Revisionsgericht voll überprüfbar.
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen der Höhe nach unstreitigen Anspruch des Klägers auf eine tarifliche Sonderzahlung für das Jahr 2002.
Die Beklagte ist ein Unternehmen des Groß- und Außenhandels. Sie ist nicht Mitglied eines tarifschließenden Arbeitgeberverbandes. Der Kläger ist nicht gewerkschaftlich organisiert.
Dem Arbeitsverhältnis der Parteien liegt der Formulararbeitsvertrag vom 4. November 1991, vom Kläger abgeschlossen mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der G… GmbH & Co. KG, zugrunde. Er enthält ua. folgende Regelung:
Ҥ 13 Anwendung tarifvertraglicher und gesetzlicher Bestimmungen
In Ergänzung der vorstehenden Vereinbarungen gelten insbesondere hinsichtlich des Urlaubs, Urlaubsgeldes, der vermögenswirksamen Leistungen u. a. Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis die Bestimmungen der jeweils gültigen Tarifverträge für den Groß- und Außenhandel des Landes Hessen.
Ist einer der Tarifverträge z. Z. des Abschlusses des Arbeitsvertrages abgelaufen, so finden bis zum Inkrafttreten eines neuen Tarifvertrages die Bestimmungen des beendeten Tarifvertrages Anwendung. Im übrigen gelten die gesetzlichen Bestimmungen, etwaige Betriebsvereinbarungen und Arbeitsordnungen.
…”
Am 28. November 2002 schloss die Beklagte mit der Gewerkschaft ver.di einen Firmentarifvertrag (im Folgenden: FTV), der ua. die Übernahme verschiedener im Einzelnen bezeichneter Tarifverträge für den Groß- und Außenhandel des Landes Hessen zum Inhalt hatte. Bezüglich des Manteltarifvertrages für diesen Wirtschaftszweig ist im FTV bestimmt:
“Kapitel I
…
2.Manteltarifvertrag
Während der Laufzeit dieser Vereinbarung findet der Tarifvertrag nebst Anlagen in der Fassung 23. Nov. 2000 Anwendung.
Ausgenommen hiervon sind die Bestimmungen des § 14 – Sonderzahlungen –
Diese werden im Jahre 2002 nicht erfüllt. Wenn im Jahre 2003 ein positives Betriebsergebnis in Höhe der zu zahlenden Sonderzahlung erzielt wird, wird die vorgenannte Leistung für dieses Jahr gewährt.”
Im Gegenzug verzichtete die Beklagte in Kapitel II des FTV für dessen Laufzeit auf den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen. Zur Laufzeit des FTV ist in dessen Kapitel III bestimmt, dass dieser für die Zeit vom 28. November 2002 bis zum 31. Dezember 2003 gilt und nicht nachwirkt. Die von der Gewerkschaft ver.di gebildete Clearingstelle hat am 23. Januar 2003 die in Kapitel III Abs. 1 für die Wirksamkeit des FTV vorausgesetzte Zustimmung erteilt.
Der in Kapitel I Ziff. 2 des FTV benannte § 14 des Manteltarifvertrages für den Groß- und Außenhandel/Verlage des Landes Hessen vom 4. Juli 1997 in der Fassung vom 23. November 2000 (im Folgenden: MTV), rückwirkend zum 1. Januar 1997 für allgemeinverbindlich erklärt (BAnz. Nr. 66 vom 4. April 1998 S. 5242), sieht für Arbeitnehmer und Auszubildende, die am 1. Dezember eines Kalenderjahres dem Betrieb/Unternehmen/Konzern ununterbrochen mindestens 12 Monate angehören, kalenderjährlich einen Anspruch auf eine Sonderzahlung vor. Deren Höhe beläuft sich ab dem Jahre 2000 auf 593,10 Euro.
Der Kläger erhebt Anspruch auf die Sonderzahlung für das Jahr 2002. Er hat die Ansicht vertreten, er sei an den FTV nicht gebunden. Für ihn sei nur der für allgemeinverbindlich erklärte Manteltarifvertrag verbindlich. Es liege bereits keine Tarifkonkurrenz vor, da er nicht Mitglied der Gewerkschaft ver.di sei, die den Firmentarifvertrag abgeschlossen habe. Der FTV könne den Manteltarifvertrag auch deshalb nicht im Wege einer Tarifkonkurrenz verdrängen, da es sich um keine eigenständige tarifliche Regelung handele. Der Ausschluss des Anspruchs nach § 14 MTV verstoße außerdem gegen § 4 Abs. 4 TVG. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass sich die Beklagte ihm gegenüber einzelvertraglich durch die in § 13 des Arbeitsvertrages getroffene Regelung zur Einhaltung des Manteltarifvertrages verpflichtet habe. Der Verweis im Arbeitsvertrag auf die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels dürfe nicht als Gleichstellungsabrede verstanden werden, da die Beklagte zu keinem Zeitpunkt tarifgebunden gewesen sei.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 593,10 Euro brutto nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. Januar 2003 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, der FTV sei ein wirksamer Firmentarifvertrag. Die Allgemeinverbindlichkeit des auf Verbandsebene abgeschlossenen Manteltarifvertrages beschränke nicht das Recht von Tarifvertragsparteien, einen Firmentarifvertrag abzuschließen. Bei gleichzeitigem Bestehen eines Firmen- und eines Verbandstarifvertrages gelte deshalb das Prinzip der betrieblichen, fachlichen, persönlichen und räumlichen Nähe (Spezialitätsprinzip), so dass der Firmentarifvertrag dem Manteltarifvertrag als speziellere Regelung vorgehe. § 4 Abs. 4 TVG sei nicht anwendbar, da es nicht um den Verzicht eines einzelnen Arbeitnehmers auf einen tariflichen Anspruch gehe. Für die Anwendung des Günstigkeitsprinzips nach § 4 Abs. 3 TVG sei kein Raum, da die Tarifverträge als gleichrangige Regelungen miteinander konkurrieren würden. Die Regelung in § 13 des Arbeitsvertrages sei als sog. Gleichstellungsabrede zu verstehen. Sie verweise auf die für den Betrieb anwendbaren Tarifverträge, damit auch auf den Firmentarifvertrag.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage im Ergebnis mit Recht abgewiesen.
I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Sondervergütung nach § 14 MTV. Dieser Sondervergütungsanspruch ist für das Jahr 2002 durch Ziffer 2 Abs. 2 des Kapitels I FTV ausgeschlossen.
1. Der FTV verdrängt als speziellere Regelung nach den Regeln der Tarifkonkurrenz den MTV.
a) Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn verschiedene Tarifverträge für dasselbe Arbeitsverhältnis gelten sollen. Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Tarifkonkurrenz nach dem Prinzip der Tarifeinheit dahin gehend aufzulösen, dass nur der speziellere Tarifvertrag zur Anwendung kommt. Das ist der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten gerecht wird (zB 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – BAGE 67, 330, zu B II 3 der Gründe; 20. März 1991 – 4 AZR 457/90 –, zu B II 3 der Gründe, jeweils mwN). Firmentarifverträge stellen dabei gegenüber Verbandstarifverträgen stets die speziellere Regelung dar (Senat 4. April 2001 – 4 AZR 237/00 – BAGE 97, 263, zu II 1d der Gründe; BAG 20. April 1999 – 1 AZR 631/98 – BAGE 91, 244, 256; Senat 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – aaO). Auch kritische Stimmen zum Spezialitätsprinzip räumen ein, dass dieser Grundsatz anzuwenden ist, wenn eine Tarifkonkurrenz vorliegt, die auf der Existenz eines Verbands- und Firmentarifvertrages einer Gewerkschaft in einem Betrieb beruht, der von derselben Gewerkschaft abgeschlossen worden ist (vgl. Kempen/Zachert TVG 3. Aufl. § 4 Rn. 131).
b) Vorliegend besteht eine Tarifkonkurrenz zwischen einem Verbands- und einem Firmentarifvertrag. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers finden sowohl der MTV als auch der FTV Anwendung, die jeweils von derselben Gewerkschaft – ver.di bzw. deren Rechtsvorgängerinnen der DAG und HBV – abgeschlossen worden sind.
aa) Der MTV gilt kraft Allgemeinverbindlichkeit gem. § 5 TVG für das Arbeitsverhältnis und findet auf dieses auch auf Grund arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung.
(1) Der ab dem 1. Januar 1997 für allgemeinverbindlich erklärte MTV gilt normativ für die Parteien. Davon gehen die Parteien mit Recht aus. Zwar unterfallen nach dem Wortlaut des § 1 Ziff. 3 MTV nur solche Arbeitnehmer dem persönlichen Geltungsbereich, die Mitglied der vertragsschließenden Gewerkschaften sind. Da eine Allgemeinverbindlicherklärung den tariflich geregelten persönlichen Geltungsbereich nicht erweitert, würde der nicht gewerkschaftlich organisierte Kläger nach dem Wortlaut des MTV auch bei seiner Allgemeinverbindlichkeit tatbestandlich nicht von dessen persönlichem Geltungsbereich erfasst. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien die Erstreckung des MTV kraft Allgemeinverbindlicherklärung auf Außenseiter verhindern wollten. Hierzu wären sie auch rechtlich nicht in der Lage. § 5 TVG ist gegenüber den Normen des Tarifvertrages höherrangiges Recht; die Tarifvertragsparteien können deswegen keine Regelungen treffen, die im Ergebnis die Erstreckung der Geltung von Tarifverträgen auf nichttarifgebundene Arbeitnehmer durch die Allgemeinverbindlicherklärung ausschließen. Vielmehr wollten die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs lediglich wiedergeben, dass eine normative Wirkung des von ihnen abgeschlossenen Tarifvertrages nach § 3 Abs. 1 TVG im Grundsatz nur bei einer Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der tarifschließenden Gewerkschaft möglich ist.
(2) Der MTV findet zudem auf Grund arbeitsvertraglicher Verweisung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Der Kläger und die Rechtsvorgängerin der Beklagten haben in § 13 des Arbeitsvertrages bestimmt, dass in Ergänzung ihrer vertraglichen Regelungen die Bestimmungen der jeweils gültigen Tarifverträge für den Groß- und Außenhandel des Landes Hessen gelten. Durch Vereinbarung der “jeweils gültigen Tarifverträge” haben die Vertragsparteien klargestellt, dass die Bezugnahme dynamisch ist.
bb) Der FTV findet ebenfalls kraft arbeitsvertraglicher Verweisung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung, wie das Landesarbeitsgericht mit Recht angenommen hat.
(1) Bei der arbeitsvertraglichen Verweisung handelt es sich um eine typisierte Erklärung. Ihre Auslegung durch das Landesarbeitsgericht ist danach in vollem Umfang vom Senat zu überprüfen (vgl. BAG 20. Juni 1985 – 2 AZR 427/84 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 33 = EzA KSchG § 4 Ausgleichsquittung Nr. 1, zu B I 2 der Gründe; 3. Mai 1979 – 2 AZR 679/77 – BAGE 32, 6, zu II 1 der Gründe).
(2) Die Auslegung der Verweisungsklausel ergibt, dass auch für den Betrieb geltende Firmentarifverträge für das Arbeitsverhältnis maßgebend sein sollen.
(a) Zwar verweist § 13 des Arbeitsvertrages seinem Wortlaut nach auf die jeweils gültigen “Tarifverträge für den Groß- und Außenhandel des Landes Hessen” und damit auf die Verbandstarifverträge. Bei der nach §§ 157, 133 BGB gebotenen Erforschung des wirklichen Willens der Vertragsparteien ist aber deren typische Interessenlage zu berücksichtigen. Der Arbeitgeber will – für den Arbeitnehmer erkennbar – durch eine arbeitsvertragliche Verweisungsklausel die fachlich und betrieblich einschlägigen Tarifverträge in Bezug nehmen (vgl. Senat 25. Oktober 2000 – 4 AZR 506/99 – BAGE 96, 177, zu II 3b aa der Gründe, für die Auslegung einer Verweisungsklausel bei Verbandswechsel des Arbeitgebers). Zu diesen gehört insbesondere ein vom Arbeitgeber abgeschlossener Firmentarifvertrag. Dass es der Rechtsvorgängerin der Beklagten gerade auf die Vereinbarung der für den Betrieb einschlägigen Rechtsnormen ankam, ergibt sich auch aus dem ausdrücklichen – wegen § 77 Abs. 4 BetrVG an sich überflüssigen – Hinweis auf die Geltung etwaiger Betriebsvereinbarungen in § 13 des Arbeitsvertrages.
(b) Der Anwendbarkeit des FTV steht wiederum nicht entgegen, dass nach dem Wortlaut des Kapitels I FTV dessen persönlicher Geltungsbereich auf die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft beschränkt ist. Zwar enthält § 13 des Arbeitsvertrages nach Sinn und Zweck nur eine Verweisung auf die persönlich und fachlich einschlägigen Tarifverträge. Ebenso wie bei der gleich lautenden Beschreibung des persönlichen Geltungsbereichs in § 1 Ziff. 3 MTV ist aber auch beim FTV davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien damit lediglich wiedergeben wollten, eine normative Wirkung nach § 3 Abs. 1 TVG setze die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der tarifschließenden Gewerkschaft voraus. Demgegenüber sollte der persönliche Geltungsbereich des Tarifvertrages nicht tatbestandlich auf Gewerkschaftsmitglieder beschränkt werden.
(c) Auf die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zur Wertung der Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede und den diesbezüglichen – unzulässigen – neuen Sachvortrag der Beklagten in der Revision kommt es nicht an.
cc) Die Anwendbarkeit bzw. Geltung (vgl. § 13 des Arbeitsvertrages) sowohl des MTV als auch des FTV für das Arbeitsverhältnis des Klägers begründet eine Tarifkonkurrenz.
(1) Nach der Rechtsprechung des Senats liegt eine Tarifkonkurrenz auch vor, wenn auf ein Arbeitsverhältnis neben einem kraft Allgemeinverbindlichkeit geltenden Tarifvertrag ein weiterer Tarifvertrag kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung findet (20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – BAGE 67, 330, zu B II 4 der Gründe; wohl auch – wenn auch im Ergebnis offen gelassen – 28. Mai 1997 – 4 AZR 663/95 – AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 6 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 8, zu II 1a der Gründe). Die vertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages ist danach letztlich eine von mehreren Arten, die Bindung an einen Tarifvertrag zu bewirken. Der einzige Unterschied zur beiderseitigen Tarifgebundenheit bzw. Allgemeinverbindlichkeit besteht darin, dass durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag keine zwingende Geltung des Tarifvertrages eintritt. Auch die vertragliche Vereinbarung der Geltung eines Tarifvertrages kann deshalb zum Entstehen einer Tarifkonkurrenz führen (Senat 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – aaO; 28. Mai 1997 – 4 AZR 663/95 – aaO). Somit kann ein (nur) auf Grund arbeitsvertraglicher Bezugnahme für das Arbeitsverhältnis geltender Firmentarifvertrag nach dem Spezialitätsprinzip einen für dieses ebenfalls geltenden allgemeinverbindlichen Tarifvertrag verdrängen.
(2) Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ist bei dieser Ausgangslage nicht anwendbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend – beide Tarifverträge bereits kraft arbeitsvertraglicher Verweisung gelten und nur bei einem eine Geltung kraft Allgemeinverbindlicherklärung hinzutritt und wenn beide Tarifverträge von derselben Gewerkschaft abgeschlossen worden sind. In diesem Falle würde eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips zu mit Sinn und Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führen.
(a) Für die Gewerkschaftsmitglieder gelten der FTV und der MTV nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG jeweils normativ im Arbeitsverhältnis, so dass unzweifelhaft eine Tarifkonkurrenz vorliegt. Der FTV verdrängt in seinem vollen Umfang nach dem Spezialitätsprinzip den MTV.
(b) Bei den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern gilt der MTV kraft seiner Allgemeinverbindlichkeit gem. § 5 Abs. 4 TVG (auch) normativ, der FTV kraft arbeitsvertraglicher Verweisung jedoch nur schuldrechtlich. Bei einer Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis von MTV und FTV stünde der nicht organisierte Arbeitnehmer besser als ein Gewerkschaftsmitglied, da er zum einen vom Kündigungsausschluss des FTV profitierte, andererseits sich aber darauf berufen könnte, die Regelung des § 14 MTV sei für ihn günstiger als der FTV.
(aa) Im Falle der Geltung von FTV und MTV für den Außenseiter jeweils nur auf Grund arbeitsvertraglicher Verweisung würde bei sachgerechter Auslegung der Verweisungsnorm der FTV im Umfang seines Regelungsgehalts den MTV verdrängen. Denn es ist davon auszugehen, dass die Vertragsparteien mit ihrer Verweisung dem Tarifvertrag Vorrang einräumen wollten, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trägt (vgl. auch Däubler/Zwanziger TVG § 4 Rn. 950). Dies ist der FTV.
(bb) Die oben dargelegte Besserstellung des Außenseiters im Vergleich zum organisierten Arbeitnehmer bei Anwendung des Günstigkeitsprinzips wäre demnach allein eine Folge der – zusätzlichen – Allgemeinverbindlicherklärung des MTV. Dieses Ergebnis ist mit Sinn und Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung nicht zu vereinbaren. Dieser besteht in der Verhinderung einer Beschäftigung von Außenseitern zu untertariflichen Bedingungen durch Ausdehnung der Kartellwirkung des Tarifvertrages; insoweit hat die Allgemeinverbindlicherklärung auch eine soziale Schutzfunktion (vgl. Wank in: Wiedemann 6. Aufl. § 5 TVG Rn. 1 ff.; Däubler/Lakies TVG § 5 Rn. 6 ff.). Die Allgemeinverbindlicherklärung zielt damit auf eine Gleichstellung der organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmer bei den tariflich geregelten Arbeitsbedingungen. Diesem Ziel widerspräche es, wenn im Ergebnis die zusätzliche Allgemeinverbindlicherklärung des MTV zu einer Besserstellung der Außenseiter gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern führte.
(cc) Die Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis von FTV und MTV würde auch der Struktur des FTV widersprechen. Der FTV stellt ein einheitliches Regelungswerk dar, in dem Einkommenseinbußen der Arbeitnehmer, die der Verbesserung der finanziellen Lage des Unternehmens dienen, mit einem – temporären – Ausschluss von Kündigungen verbunden werden. Dabei dient der Verzicht der Arbeitnehmer gerade dem Erhalt der Arbeitsplätze. Diese Verknüpfung schließt es aus, einen Günstigkeitsvergleich durchzuführen. Eine kumulierte selektive Elementenoptimierung würde der Intention der Tarifvertragsparteien widersprechen, die im FTV mit Gehaltsverzicht der Arbeitnehmer auf der einen und Kündigungsverzicht der Beklagten auf der anderen Seite sich bedingende – gewissermaßen synallagmatische – Leistungen der jeweiligen Seite statuiert haben.
dd) Der FTV unterliegt auch keinen rechtlichen Bedenken (vgl. für eine Vergütungsabsenkung durch einen Firmentarifvertrag bereits Senat 4. April 2001 – 4 AZR 237/00 – BAGE 97, 263; 24. Januar 2001 – 4 AZR 655/99 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 173 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 14); insbesondere ist unerheblich, ob der MTV eine Öffnungsklausel für Firmentarifverträge enthält (Senat 4. April 2001 – 4 AZR 237/00 – aaO, zu II 1d der Gründe; 24. Januar 2001 – 4 AZR 655/99 – aaO, zu I 1c bb (2) der Gründe). Vertrauensschutzgesichtspunkte stehen der Wirksamkeit des FTV ebenfalls nicht entgegen. Eine Tarifnorm steht stets unter dem Vorbehalt, durch eine nachfolgende tarifliche Regelung verschlechtert oder ganz gestrichen werden zu können. Ein Vertrauensschutz besteht insoweit grundsätzlich nicht (BAG 20. März 2002 – 10 AZR 501/01 – BAGE 100, 377, zu II 2c bb der Gründe; Senat 8. September 1999 – 4 AZR 661/98 – BAGE 92, 259, zu I 2 der Gründe). Dies gilt in gleicher Weise bei der Änderung eines Tarifvertrages durch einen anderen – spezielleren – Tarifvertrag (Senat 24. Januar 2001 – 4 AZR 655/99 – aaO, zu I 1d der Gründe). Bedenken wegen des Rückwirkungsverbots bestehen nicht. Soweit Änderungen der Tarifnorm Sachverhalte berühren, die in der Vergangenheit liegen, haben die Tarifvertragsparteien allerdings dieselben Grenzen der zulässigen Rückwirkung einzuhalten, wie sie vom Gesetzgeber zu beachten sind (Senat 23. November 1994 – 4 AZR 879/93 – BAGE 78, 309, zu II 2c dd der Gründe). Durch den FTV wird aber nicht rückwirkend in entstandene Rechte eingegriffen. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts greift der Kläger in der Revision nicht an.
2. Damit besteht keine Anspruchsgrundlage für den Klageanspruch.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Bepler, Friedrich, Bott, Gotsche, Kralle-Engeln
Fundstellen
Haufe-Index 1394610 |
BAGE 2006, 186 |
BB 2005, 2246 |
DB 2005, 2419 |
FA 2005, 323 |
FA 2005, 376 |
NZA 2005, 1003 |
SAE 2005, 297 |
SAE 2006, 252 |
ZAP 2005, 1299 |
ZTR 2005, 580 |
AP, 0 |
EzA-SD 2005, 15 |
EzA |
MDR 2005, 1300 |
AUR 2005, 426 |
ArbRB 2005, 296 |
BAGReport 2005, 341 |
SPA 2005, 6 |