Entscheidungsstichwort (Thema)
Gestattung abweichender Vereinbarungen durch Tarifvertrag
Leitsatz (redaktionell)
§ 22 Nr 1 des MTV für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 29. Juni 1989 ist so auszulegen, daß nicht nur Angestellten, sondern auch Arbeitern die einzelvertragliche Verlängerung der beiderseitigen Kündigungsfristen gestattet ist.
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.08.1993; Aktenzeichen 6 Sa 50/93) |
ArbG Pforzheim (Entscheidung vom 12.03.1993; Aktenzeichen 4 Ca 436/92) |
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch um die Zahlung einer Vertragsstrafe und die Rückerstattung eines tariflichen Urlaubsgelds.
Die Beklagte betreibt Lebensmittelgeschäfte, eines davon in P . Dort war der 1938 geborene Kläger zunächst vom 1. Juli bis zum 1. September 1990 und dann ab 8. Oktober 1990 als Metzger beschäftigt. Er verdiente zuletzt monatlich 4.377,00 DM brutto.
Der Arbeitsvertrag vom 19. Oktober 1990 enthält u.a. folgende Bestimmungen:
1. Für das Dienstverhältnis gelten - soweit im
Rahmen dieses Vertrages nicht anderes verein-
bart wird - die Bestimmungen des örtlich maß-
geblichen Tarifvertrages für den Einzelhandel
einschließlich der entsprechenden Zusatzabkom-
men.
2. Der Dienstvertrag wird auf unbestimmte Dauer
abgeschlossen. Für beide Seiten gilt eine Kün-
digungsfrist von 1 Monat(en) zum Monatsende.
....
4. Die auf der Rückseite abgedruckten allgemeinen
Vertragsbedingungen sind Bestandteil dieses
Dienstvertrages.
Darunter befinden sich die Unterschriften beider Parteien. Auf der nicht unterschriebenen Rückseite des Vertragsformulares heißt es u.a.:
11. Tritt der Mitarbeiter das Arbeitsverhältnis
nicht an, löst er das Arbeitsverhältnis
unter Vertragsbruch oder wird der Arbeitge-
ber durch schuldhaft vertragswidriges Ver-
halten des Mitarbeiters zur fristlosen Kün-
digung des Arbeitsverhältnisses veranlaßt,
so hat der Mitarbeiter an den Arbeitgeber
eine Vertragsstrafe in Höhe eines Brutto--
Monatsgehaltes zu zahlen. Der Arbeitgeber
kann einen weitergehenden Schaden geltend
machen.
16. Besteht das diesem Vertrag zugrundeliegende
Dienstverhältnis länger als 12 Monate,
tritt an die Stelle der unter Ziffer 2 ,
Satz 2 dieses Vertrages vereinbarten Kündi-
gungsfrist eine Kündigungsfrist von 3 Mona-
ten zum Monatsende.
Der Manteltarifvertrag für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 29. Juni 1989 (im folgenden: MTV), der für allgemeinverbindlich erklärt ist (BAnz 1989, Nr. 233), lautet auszugsweise:
"§ 2
Beginn und Änderung des Arbeitsverhältnisses
1. Der Arbeitsvertrag wird schriftlich, in der
Regel vor Arbeitsaufnahme, abgeschlossen. In
ihm müssen mindestens festgelegt sein: Dauer
einer etwa vereinbarten Probezeit, Art und Um-
fang der Tätigkeit, tarifliche Eingruppierung,
Art, Höhe und Zusammensetzung des Entgelts und
sonstiger Bezüge sowie besonders vereinbarte
Kündigungsfristen.
...
§ 3
Probezeit
1. Eine Probezeit muß schriftlich vereinbart wer-
den und darf 3 Monate nicht überschreiten.
Während der Probezeit kann das Arbeitsverhält-
nis beiderseits
bei Angestellten mit einer Frist von
1 Monat zum Monatsende,
bei gewerblichen Arbeitnehmern/-
Arbeitnehmerinnen mit einer Frist von 7 Ka-
lendertagen zum Ende einer Kalenderwoche
gekündigt werden. ...
§ 22
Kündigung des Arbeitsverhältnissees
1. Das Angestelltenverhältnis ist, wenn keine an-
deren Kündigungsfristen vereinbart sind, mit
einer Frist von 6 Wochen auf Quartalsende
kündbar.
Für gewerbliche Arbeitnehmer/-innen gelten
- ohne Rücksicht auf den Lohnzahlungszeit-
raum - beiderseits folgende Kündigungsfristen:
Bei einer Betriebszugehörigkeit
bis zu 2 Jahren 2 Wochen zum Ende
einer Kalenderwoche
vom 3. Jahr ab 4 Wochen zum Ende
einer Kalenderwoche
vom 6. Jahr ab 1 Monat zum Monatsende
vom 11. Jahr ab 2 Monate zum Monats-
ende
vom 20. Jahr ab 3 Monate zum Quartals-
ende
..."
Der Kläger, der in der Folgezeit mit der Fleischzubereitung im Vorbereitungsraum, also nicht überwiegend im Verkauf, eingesetzt war, kündigte mit undatiertem Schreiben, das der Beklagten in der 28. Kalenderwoche (6. - 12. Juli 1992) zuging, sein Arbeitsverhältnis zum 15. August 1992. Die Beklagte widersprach der Kündigung unter Hinweis auf die einzelvertraglichen Kündigungsfristen, wonach das Arbeitsverhältnis erst zum 31. Oktober 1992 beendet sei. Sie forderte ihn auf, die Arbeit am 17. August 1992 bei ihr fortzusetzen. Dem kam der Kläger nicht nach. Er steht seit diesem Zeitpunkt im Dienste eines Konkurrenzunternehmens der Beklagten. Daraufhin kündigte die Beklagte ihrerseits das Dienstverhältnis fristlos mit Schreiben vom 29. August 1992.
Mit der Klage hat der Kläger u.a. die Zahlung seines Lohns für die erste Augusthälfte 1992 verlangt. Insoweit ist der Rechtsstreit erledigt. Die Beklagte hat im Wege der Widerklage Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe eines Monatsverdiensts und Rückzahlung des Urlaubsgelds verlangt. Sie hat vorgetragen: Der Kläger sei zur Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe eines Monatsgehalts von 4.377,00 DM und zur Rückzahlung des im Mai 1992 bezahlten Urlaubsgelds in Höhe von 1.333,00 DM brutto = 742,87 DM netto verpflichtet, weil er das Arbeitsverhältnis vertragswidrig aufgelöst habe. Auf die kürzeren tariflichen Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer könne sich der Kläger nicht berufen, weil die vertraglich vereinbarten beiderseitigen Kündigungsfristen für ihn günstiger als die tarifvertraglichen seien. Zudem werde mit der vertraglichen Regelung dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz entsprochen; bei den Kündigungsfristen werde nicht mehr zwischen Angestellten und Arbeitern unterschieden. Die Beklagte hat - soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse - beantragt,
den Kläger zu verurteilen, an sie 5.119,87 DM
nebst 4 % Zinsen seit Zustellung der Widerklage
zu zahlen.
Der Kläger hat beantragt, die Widerklage abzuweisen. Er hat die Ansicht vertreten, die Vertragsstrafe sei nicht verwirkt, da er die tarifvertragliche Kündigungsfrist eingehalten habe. Die Vereinbarung längerer Kündigungsfristen sei unwirksam, da diese nicht günstiger seien als die tarifvertraglichen Kündigungsfristen. Selbst wenn die einzelvertraglichen Kündigungsfristen maßgebend seien, fehle es doch angesichts der unklaren Rechtslage an einem Verschulden.
Das Arbeitsgericht hat die Widerklage abgewiesen. Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Widerklageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Beklagte kann vom Kläger Rückzahlung des Urlaubsgelds und eine Vertragsstrafe in Höhe eines Monatsverdienstes verlangen.
I. Der Anspruch der Beklagten auf Zahlung der Vertragstrafe folgt aus der Vereinbarung der Parteien (§ 339 BGB).
1. Die arbeitsvertragliche Vereinbarung einer Vertragsstrafe für den Fall des Vertragsbruchs ist wirksam.
a) Ihr stehen weder die Vorschriften des AGB-Gesetzes, noch die Regelungen des Manteltarifvertrags für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 29. Juni 1989 entgegen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 23. Mai 1984 (- 4 AZR 129/82 - BAGE 46, 50 = AP Nr. 9 zu § 339 BGB) für eine Vertragsstrafenklausel mit identischem Wortlaut wie die hier im Streit befindliche entschieden.
b) Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht ausgeführt, daß die in Nr. 11 des Arbeitsvertrages enthaltene Vertragsstrafenklausel nicht wegen Verstoßes gegen das in § 2 Nr. 1 MTV enthaltene Schriftformgebot unwirksam ist.
Es bestehen bereits erhebliche Zweifel daran, ob es sich hierbei überhaupt um ein konstitutives Formerfordernis handelt. Dagegen spricht, daß nach § 2 Nr. 1 MTV die Schriftform nicht notwendig vor Arbeitsaufnahme eingehalten werden muß (Birk in Anm. II zu EzA Nr. 3 zu § 397 BGB; offengelassen im Urteil des BAG vom 24. Juni 1981, aaO). Vielmehr wird nach § 2 Nr. 1 MTV der Arbeitsvertrag nur "in der Regel vor Arbeitsaufnahme" schriftlich abgeschlossen. Im übrigen ist das Schriftformerfordernis nach § 2 Nr. 1 Satz 2 MTV nicht auf alle getroffenen Vereinbarungen zu beziehen. Nur die dort ausdrücklich genannten Punkte, zu denen die Vertragsstrafe nicht gehört, müssen im schriftlichen Arbeitsvertrag enthalten sein. Dies kann jedoch letztlich dahingestellt bleiben, da die Schriftform gewahrt ist.
Die Vertragsstrafenklausel auf der Rückseite des Vertrages ist zwar nicht gesondert unterschrieben worden. Das war aber hier nicht erforderlich, da sie Teil einer Gesamturkunde ist. Eine Gesamturkunde ist dann gegeben, wenn mehrere Blätter einer Urkunde so zusammengefaßt sind, daß sich ihre Zusammengehörigkeit ergibt. Die Einheitlichkeit der Urkunde kann durch Zusammenheften, Numerieren der Blätter, Bezugnahme oder den eindeutigen Sinnzusammenhang des fortlaufenden Textes hergestellt werden. Bei einer Gesamturkunde muß nicht jedes Blatt oder jede Seite gesondert unterschrieben werden (BAG Urteil vom 30. Oktober 1984 - 3 AZR 213/82 - BAGE 47, 125 = AP Nr. 46 zu § 74 HGB; Beschluß vom 11. November 1986 - 3 ABR 74/85 - AP Nr. 18 zu § 77 BetrVG 1972). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Vertragsstrafenklausel befindet sich auf der Rückseite des unterschriebenen Arbeitsvertrages. Dieser erklärt die rückseitig abgedruckten Vertragsbedingungen zu seinem Bestandteil. Damit ist eine Zusammenfassung zwischen Arbeitsvertrag und Vertragsstrafenklausel hergestellt.
2. Der Kläger hat die Vertragsstrafe verwirkt. Er hat die für ihn maßgebende einzelvertragliche Kündigungsfrist nicht eingehalten, wobei dahinstehen kann, ob die vertragliche Kündigungsfrist einen Monat zum Monatsschluß oder drei Monate zum Monatsschluß betrug.
a) An der Wirksamkeit von Nr. 16 des Arbeitsvertrags, wonach die Kündigungsfrist drei Monate zum Monatsende beträgt, wenn das Dienstverhältnis länger als zwölf Monate besteht, bestehen allerdings erhebliche Zweifel. Sie ergeben sich daraus, daß damit von Nr. 2 des Arbeitsvertrags abgewichen wird. Dieser stellt eine Individualabrede dar; die entsprechende Frist ist in den vorgedruckten Vertragstext eingesetzt worden. Individualabreden haben aber Vorrang vor allgemeinen Geschäftsbedingungen. Dies ergibt sich unabhängig von der positiven Regelung in § 4 AGBG aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der Vorrang gilt demnach auch für solche Verträge, die vor dem Inkrafttreten des AGBG geschlossen worden sind (BGH Urteil vom 13. Januar 1982 - IV a ZR 162/80 - VersR 1982, 489; Palandt/Heinrichs, BGB, 53. Aufl., §§ 4, 5 AGBG Rz 2). Der Vorrang der Individualabrede gilt auch für Arbeitsverträge. Allgemeine Rechtsgrundsätze bleiben im Arbeitsrecht nicht deshalb außer Betracht, weil sie im AGBG ihren Niederschlag gefunden haben (BAG Urteil vom 23. Mai 1984 - 4 AZR 129/82 -, aaO). Die Frage kann jedoch letztlich dahinstehen, da der Kläger sogar die sich aus Nr. 2 des Arbeitsvertrages ergebende einmonatige Kündigungsfrist bis zum Monatsende nicht eingehalten hat.
b) Nach § 4 Abs. 3 TVG sind vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen "nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten". Da der Kläger gewerblicher Arbeitnehmer war, galt für ihn eine tarifvertragliche Kündigungsfrist von zwei Wochen zum Ende einer Kalenderwoche. Die Parteien haben aber abweichende Abmachungen getroffen.
aa) Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, daß derartige abweichende Abmachungen weder durch den Tarifvertrag gestattet seien noch eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung enthielten. Ersteres hat das Landesarbeitsgericht wie folgt begründet: Der MTV enthalte keine Öffnungsklausel. Eine solche könne insbesondere nicht aus der Schriftformklausel des § 2 Nr. 1 MTV abgeleitet werden, die "besonders vereinbarte Kündigungsfristen" ausdrücklich erwähne. Denn § 2 Nr. 1 MTV enthalte ausschließlich eine Formvorschrift, während § 22 MTV die einzuhaltenden Kündigungsfristen bestimme, aber keine Öffnungsklausel enthalte. Das rechtfertige die Annahme, daß der MTV eine arbeitsvertragliche Abweichung nicht dulde.
bb) Dieser Auslegung des Manteltarifvertrags vermag der Senat nicht zu folgen.
Zutreffend ist, daß § 22 Nr. 1 MTV für gewerbliche Arbeitnehmer die Vereinbarung abweichender Kündigungsfristen anders als für Angestellte nicht ausdrücklich gestattet. Daraus ist zunächst nur ableitbar, daß für Arbeiter anders als für Angestellte keine kürzeren als die tarifvertraglichen festgelegten Kündigungsfristen vereinbart werden dürfen, soweit es um Kündigungen durch den Arbeitgeber geht. Für Angestellte können nach dieser Bestimmung auch beiderseits verlängerte Kündigungsfristen vereinbart werden. Die Auslegung, daß nur die Vereinbarung kürzerer Kündigungsfristen erlaubt sein soll, scheidet aus (Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung). Daß aber für gewerbliche Arbeitnehmer auch die Verlängerung der beiderseitigen Kündigungsfristen untersagt werden soll, ist § 22 Nr. 1 MTV nicht zu entnehmen. Vielmehr gingen die Tarifvertragsparteien insoweit von der Zulässigkeit einer Verlängerung aus. Für eine andere Auslegung des Tarifvertrags ließen sich keinerlei Sachgründe anführen. Im Zweifel ist aber derjenigen Tarifauslegung der Vorzug zu geben, die zu einer vernünftigen, gerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG Urteil vom 12. September 1984, BAGE 46, 308 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung).
Für diese Auslegung spricht entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch § 2 Nr. 1 MTV, der ganz allgemein "besonders vereinbarte Kündigungsfristen" dem Schriftformgebot unterstellt und dabei nicht zwischen Arbeitern und Angestellten unterscheidet. Letztlich stellt das Landesarbeitsgericht zu hohe Anforderungen an die Klarheit und Eindeutigkeit einer tarifvertraglichen Regelung, die abweichende Abmachungen gestattet. Es ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht erforderlich, daß die Gestattung abweichender Abmachungen in derselben oder einer benachbarten Tarifvorschrift enthalten sein muß. Die Zulässigkeit einer Abweichung kann sich auch aus anderen Vorschriften ergeben. Ergibt die Auslegung, daß die Tarifvertragsparteien bestimmte einzelvertragliche Abmachungen für günstiger als die tarifvertragliche Regelung halten, so liegt schon darin die Gestattung abweichender Vereinbarungen, und zwar unabhängig davon, wie der nach objektiven Maßstäben vorzunehmende Günstigkeitsvergleich nach § 4 Abs. 3 TVG ausginge.
Im übrigen ist diese Tarifauslegung auch von Verfassungs wegen geboten. Es ist zweifelhaft, ob die für gewerbliche Arbeitnehmer kürzeren tariflichen Kündigungsfristen mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar sind. Jedenfalls läßt sich der vom Bundesarbeitsgericht anerkannte Differenzierungsgrund der personalwirtschaftlichen Flexibilität im produktiven Bereich (vgl. z. B. Urteil vom 16. September 1993 - 2 AZR 697/92 - AP Nr. 42 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) nicht ohne weiteres auf den Bereich des Handels übertragen. Unabhängig davon ist es unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gerechtfertigt, zwischen Arbeitern und Angestellten insofern zu unterscheiden, als nur letztere mit dem Arbeitgeber einzelvertraglich beiderseits verlängerte Kündigungsfristen vereinbaren dürfen, nicht aber Arbeiter.
c) Den Kläger trifft auch ein Verschulden. Nach § 339 BGB setzt die Verwirkung der Vertragsstrafe voraus, daß der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten.
Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt. Dabei wird nicht auf das Maß der Sorgfalt abgestellt, das der individuelle Schuldner aufzubringen im Stande ist. Es reicht aus, daß er seine Pflicht bei ordentlicher Sorgfalt hätte erkennen können. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß der Schuldner dann nicht in Verzug kommt, wenn er infolge eines entschuldbaren Rechtsirrtums nicht leistet (BAG Urteil vom 12. November 1992 - 8 AZR 503/91 - AP Nr. 1 zu § 285 BGB). Ein Rechtsirrtum ist aber nicht schon immer dann entschuldbar, wenn die Rechtslage ungeklärt ist. Hinzukommen muß, daß der Schuldner sie sorgfältig geprüft hat. Unverschuldet wird ein Rechtsirrtum insbesondere dann sein, wenn der Schuldner sich auf höchstrichterliche Rechtsprechung berufen kann (BAG Urteil vom 12. November 1992, aaO; BGH Urteil vom 18. April 1974 - KZR 6/73 - NJW 1974, 1903, 1905).
Der Kläger behauptet selbst nicht, daß er die Rechtslage sorgfältig geprüft habe. Er hätte sich auch nicht auf höchstrichterliche Rechtsprechung berufen können. Das Bundesarbeitsgericht hat zum Günstigkeitsprinzip im Zusammenhang mit beiderseits verlängerten Kündigungsfristen noch nicht Stellung genommen (vgl. BAG Urteil vom 27. August 1982 - 7 AZR 190/80 - BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung).
Nach alledem hat der Kläger eine Vertragsstrafe verwirkt.
3. Die verwirkte Strafe ist auch nicht nach § 343 BGB herabzusetzen.
Den nach dieser Vorschrift erforderlichen Antrag hat der Schuldner erst in der Revisionsinstanz gestellt. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antrag noch in der Revisionsinstanz gestellt werden kann. Denn die verwirkte Strafe in Höhe eines Monatsverdienstes ist nicht unverhältnismäßig hoch.
Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Strafe sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Nach § 343 Abs. 1 Satz 2 BGB ist jedes berechtigte Interesse des Gläubigers, nicht bloß das Vermögensinteresse, in Betracht zu ziehen. Insbesondere kommt es auf die Funktion der Strafe als Druck- und Sicherungsmittel an (BGH Urteil vom 7. Oktober 1982 - I ZR 120/80 - NJW 1983, 941, 943), ferner auf die Art des Verstoßes, den Verschuldensgrad und die wirtschaftliche Lage des Schuldners. Das Fehlen eines Schadens rechtfertigt allein eine Herabsetzung nicht; entscheidend ist, welchen Schaden der Vertragsbruch hätte herbeiführen können (BGH Urteil vom 13. März 1953 - I ZR 136/52 - LM Nr. 2 zu § 339 BGB).
Selbst wenn man zugunsten des Klägers von der (kürzeren) Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende ausgeht, ist er einen halben Monat zu früh ausgeschieden. Dadurch konnte der Beklagten durchaus ein erheblicher Schaden entstehen. Zudem ist der Kläger trotz ausdrücklichen Hinweises auf die vereinbarten längeren Kündigungsfristen vorzeitig ausgeschieden, ohne sich um diesen Hinweis zu scheren oder sich rechtlich beraten zu lassen. Sein Verschulden kann also nicht als gering bewertet werden. Weitere Umstände, die eine Herabsetzung der Vertragsstrafe nahelegen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
II. Der Kläger schuldet auch die Rückzahlung des Urlaubsgelds in Höhe von 742,47 DM. Nach § 19 A Nr. 7 MTV ist das Urlaubsgeld "in voller Höhe als Entgeltvorschuß zurückzuzahlen, wenn der/die Arbeitnehmer/-in wegen verschuldeter fristloser Entlassung oder vertragswidriger Lösung des Arbeitsverhältnisses vor Beendigung des Urlaubsjahres nach Auszahlung des Urlaubsgeldes aus dem Betrieb ausscheidet". Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Auf die Ausführungen zu I. wird verwiesen.
Griebeling Schliemann Reinecke
Winterfeld Kreienbaum
Fundstellen
Haufe-Index 440406 |
NZA 1995, 695 |
NZA 1995, 695-697 (LT1) |
AP § 4 TVG (LT1), Nr 16 |
AP, 0 |
AR-Blattei, ES 1010.5 Nr 41 (LT1) |
AR-Blattei, ES 1710 Nr 16 (T) |
EzA § 4 TVG, Nr 43 (LT1) |