Prof. Dr. Stefan Müller, Dr. Lina Warnke
Rz. 155
§ 252 Abs. 2 HGB gestattet Abweichungen von den allgemeinen Bewertungsgrundsätzen des Abs. 1 in begründeten Ausnahmefällen, wobei die Vorschrift als grds. Abweichungsverbot in unbegründeten Fällen und nicht als Wahlrecht zu verstehen ist. Entsprechend ist § 252 Abs. 2 HGB als Ausnahmeregelung zu verstehen, der nur in seltenen und stets begründeten Fällen zum Tragen kommt.
Rz. 156
Die Vorschrift gestattet explizit Abweichungen von sämtlichen Bewertungsgrundsätzen des § 252 Abs. 1 HGB. Die mitunter vertretene Auffassung, Ausnahmen kämen bei einigen Bewertungsgrundsätzen – explizit beim Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip – infolge ihres tragenden Charakters nicht in Betracht, ist abzulehnen. Einerseits liegt innerhalb der Grundsätze weder eine Rangfolge vor (Rz 6), die eine Ausnahme dieser aus der Vorschrift des § 252 Abs. 2 HGB bzw. einen tragenden Charakter begründet, noch besteht dafür eine gesetzliche Grundlage. Diese Auffassung ist vielmehr von der Doktrin der Unantastbarkeit der "guten alten" Prinzipien des HGB getrieben. Spätestens infolge der Neuerungen des HGB durch das BilMoG sind diese Prinzipien (explizit auch jene mit "tragendem" Charakter) an zahlreichen Stellen durchbrochen und tendenziell durch IFRS-orientierte Regelungen ersetzt worden – zu verweisen ist hier auf die Bewertung mit dem beizulegenden Zeitwert. Hinsichtlich des § 252 Abs. 2 HGB auf dieser Argumentationsbasis eine nicht vom Gesetz gedeckte Limitierung der expliziten Regelung vorzunehmen, scheint weder sachlich richtig noch zeitgemäß. Nichtsdestotrotz dürften Ausnahmen in Bezug auf einzelne Grundsätze – etwa den Grundsatz der Bilanzidentität oder der Periodisierung – sehr selten sein.
Rz. 157
Wenngleich § 252 Abs. 2 HGB im Zuge des BilRUG keine Überarbeitung erfahren hat, ergibt sich in Konsequenz der neuen Bilanzrichtlinie 2013/34/EU 2013/34/EU künftig das Erfordernis zur engeren Auslegung des Anwendungsbereichs der Ausnahmeregelung. Hintergrund ist das Aufgehen der Regelung zu den Ausnahmefällen aus Art. 31 Abs. 2 der 4. EG-Richtlinie in Art. 4 Abs. 4 Bilanzrichtlinie 2013/34/EU nebst inhaltlichen Änderungen. Art. 4 Abs. 4 Bilanzrichtlinie 2013/34/EU sieht (in letzter Instanz) eine zwingende Nichtanwendung der Vorschriften vor, die eine Nichterfüllung des Erfordernisses zur Darstellung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unt bedingen. Korrespondierend ist die Generalnorm als sog. overriding principle ausgestaltet.
Zwar hat der deutsche Gesetzgeber i. R. d. Nationalisierung der Bilanzrichtlinie 2013/34/EU Art. 4 Abs. 4 nicht in deutsches Recht überführt (und damit eindeutig gegen europäisches Recht verstoßen), zumindest aber i. R. d. Auslegung des § 252 Abs. 2 HGB wird Art. 4 Abs. 4 Bilanzrichtlinie 2013/34/EU künftig zu beachten sein, da die Ausnahmeregelung mit besonderem Bezug zu den allgemeinen Bewertungsvorschriften des § 252 Abs. 1 HGB bzw. den diesen zu Grunde liegenden Regelungen des Art. 6 Abs. 1 Bilanzrichtlinie 2013/34/EU in eine Ausnahmeregelung mit Fokus auf die Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unt transformiert wurde.
Eine Anwendung des § 252 Abs. 2 HGB kommt nur in Betracht, wenn eine Beibehaltung der Bewertungsgrundsätze der Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unt entgegenstehen respektive diese gefährden würde oder mit Blick auf den Grundsatz der Wesentlichkeit auf eine Beibehaltung dieser verzichtet werden kann und daraus zumindest keine Verschlechterung der Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage resultiert.