Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung
Leitsatz (NV)
1. Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts.
2. Die Wiedereröffnung kann geboten sein, wenn ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung mit Hinweisen oder Fragen des Gerichts überrascht wurde, zu denen er nicht sofort Stellung nehmen konnte und ihm das Gericht keine Möglichkeit mehr zur Stellungnahme gegeben hat.
3. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung können Angriffs- und Verteidigungsmittel grundsätzlich nicht mehr vorgebracht werden. Die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist daher nicht geboten, wenn ein entsprechender Antrag sechs Tage nach deren Schließung gestellt wurde.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 3 S. 2, § 115 Abs. 2 Nrn. 1-3
Verfahrensgang
FG Köln (Urteil vom 27.04.2005; Aktenzeichen 7 K 147/02) |
Gründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
1. Das Finanzgericht (FG) hat den Anspruch des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzamt --FA--) auf rechtliches Gehör nicht verletzt, indem es von einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
a) Nach § 93 Abs. 3 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen. Die Wiedereröffnung steht danach grundsätzlich im Ermessen des Gerichts (vgl. u.a. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. April 2001 XI R 60/00, BFHE 195, 9, BStBl II 2001, 726; BFH-Beschluss vom 29. April 2005 VIII B 128/03, BFH/NV 2005, 1823; Senatsbeschluss vom 5. September 2005 IV B 155/03, BFH/NV 2006, 98; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 93 Rz. 9; Hellwig in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 93 FGO Rz. 11; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 93 FGO Tz. 8; a.A. Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 93 Rz. 77).
Das Ermessen ist allerdings dann auf Null reduziert, wenn durch die Ablehnung der Wiedereröffnung wesentliche Prozessgrundsätze verletzt würden, z.B. weil anderenfalls der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt würde oder die Sachaufklärung nicht ausreicht (BFH-Beschluss in BFHE 195, 9, BStBl II 2001, 726; Senatsbeschluss in BFH/NV 2006, 98). Eine Wiedereröffnung kann deshalb geboten sein, wenn ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung mit Hinweisen oder Fragen des Gerichts überrascht wurde, zu denen er nicht sofort Stellung nehmen konnte, und ihm das Gericht keine Möglichkeit mehr zur Stellungnahme gegeben hat (BFH-Beschluss in BFHE 195, 9, BStBl II 2001, 726).
Wenn sich ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung auf überraschende Fragen oder Ausführungen nicht sofort erklären kann, kann er die Einräumung einer Frist beantragen, um die Erklärung durch einen Schriftsatz nachzuholen (§ 155 FGO i.V.m. § 283 der Zivilprozessordnung --ZPO--; vgl. Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 93 FGO Tz. 11). Nach Schluss der mündlichen Verhandlung können allerdings Angriffs- und Verteidigungsmittel grundsätzlich nicht mehr vorgebracht werden (BFH-Beschluss vom 12. November 1993 VIII R 17/93, BFH/NV 1994, 492, m.w.N.).
b) Vorliegend hat das FA vor Schließung der mündlichen Verhandlung keine weitere Schriftsatzfrist beantragt. Der sechs Tage später gestellte Antrag gebot die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht.
aa) Da die Entscheidung des Rechtsstreits von der Zugehörigkeit des streitgegenständlichen Grundstücks zum Betriebsvermögen im Veräußerungszeitpunkt abhing, die das FA angenommen und die Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) von vornherein bestritten hatten, kann es nicht als überraschende Wendung angesehen werden, wenn das FG --dem Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung folgend-- sich mit der Frage auseinander gesetzt hat, ob die in den 50er Jahren von den Eltern des Klägers dafür im Umlegungsverfahren hingegebenen Grundstücke zu deren Betriebsvermögen gehört hatten. Selbst wenn zuvor in einem Erörterungstermin die Zugehörigkeit des erworbenen Grundstücks zum Betriebsvermögen der Eltern zwischen den Beteiligten unstreitig gewesen sein sollte und lediglich über die Frage einer Entnahme gestritten wurde, lag es angesichts der Umstände des Streitfalls --insbesondere im Hinblick auf Erwerb, Art und Lage des Grundstücks-- nicht fern, dass das Gericht dieser Frage nachging, um seiner Sachaufklärungspflicht zu genügen.
bb) Der Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung enthielt weder über bloße Behauptungen hinausgehende entscheidungserhebliche Tatsachen noch konkrete Beweisanträge oder nachvollziehbare Angaben zu den beabsichtigten weiteren Sachverhaltsermittlungen. Der allgemeine Hinweis auf unter Umständen vorhandene Quellen zur Feststellung der Art der getauschten Grundstücke genügte bei dieser Sachlage nicht, um das Ermessen des FG bei der Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung auf Null zu reduzieren.
cc) Die später zur Begründung der vorliegenden Beschwerde vorgetragenen Hinweise auf Überprüfungsmöglichkeiten anhand der Einheitswert-Akten rechtfertigen keine andere Beurteilung. Das FG konnte sie im Rahmen seiner Ermessensentscheidung nicht berücksichtigen. Denn das FA hat sie erst vorgetragen, nachdem die vorinstanzliche Entscheidung bereits ergangen war.
2. Auch eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht ergibt sich aus den Darlegungen des FA nicht. Zwar erfordert die Sachaufklärungspflicht, dass das FG Tatsachen und Beweismitteln nachgeht, die sich ihm in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hätten aufdrängen müssen (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 76 FGO Tz. 41, m.w.N.).
Das FA sieht eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht darin, dass das FG die Zuordnung des streitgegenständlichen Grundstücks zum landwirtschaftlichen Betriebsvermögen des Vaters nicht anhand der den Einheitswertbescheiden zu Grunde liegenden Auszüge aus dem Grundbesitzkataster und den vom Kataster geführten Flurbüchern nachgeprüft hat. Eine solche Nachprüfung musste sich nach den Umständen des vorliegenden Streitfalls dem FG jedoch nicht aufdrängen. Denn der Zusammenhang ergibt sich allenfalls mittelbar durch Verweisungen in der Einheitswertakte. Im Übrigen hatte auch das FA derartige Ermittlungen im Rahmen der Sachaufklärung nicht angestellt; es hat überdies weder bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung noch in dem Antrag auf deren Wiedereröffnung darauf hingewiesen, dass es sie für erforderlich hielt.
3. Bei dieser Sachlage bedarf es keiner Entscheidung, ob hinsichtlich der weiteren Begründung des FG ein vom FA geltend gemachter Revisionszulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 FGO gegeben ist. Ist nämlich das FG-Urteil kumulativ auf mehrere Gründe gestützt, von denen jeder für sich das Entscheidungsergebnis trägt, muss hinsichtlich jedes dieser Gründe ein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden und vorliegen (BFH-Beschluss vom 23. Dezember 2004 III B 14/04, BFH/NV 2005, 667).
Das FG hat die fehlende Zugehörigkeit des streitgegenständlichen Grundstücks zum landwirtschaftlichen Betriebsvermögen im Zeitpunkt der Veräußerung zwar kumulativ auch mit einer aus mehreren Indizien abgeleiteten Entnahme Mitte der 70er Jahre begründet. Da jedoch die gegen die fehlende Feststellung der vorherigen Zugehörigkeit des Grundstücks zum Betriebsvermögen gerichteten Verfahrensrügen nicht durchgreifen (dazu oben unter 1. und 2.), kommt es auf die gegen die weitere Urteilsbegründung vom FA geltend gemachten Revisionszulassungsgründe i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 FGO nicht mehr an.
Fundstellen
Haufe-Index 1606154 |
BFH/NV 2006, 2266 |