Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechnung gegen Einkommensteuererstattungsanspruch, der sich aus der Anwendung des § 32 d EStG ergibt
Leitsatz (NV)
1. Der Erstattungsanspruch des Arbeitnehmers wegen überzahlter Einkommensteuer (Lohnsteuer) ist nicht Bestandteil des Arbeitseinkommens i. S. der Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 850 ff. ZPO. Da mithin ein Pfändungsverbot nach § 850 c ZPO nicht besteht, ist auch die Aufrechnung des FA gegen einen solchen Anspruch nicht ausgeschlossen (Anschluß an Senatsbeschluß vom 13. Juli 1995 VII S 1/95, BFH/NV 1996, 10).
2. Ein Aufrechnungsverbot ergibt sich in einem solchen Fall auch nicht deshalb, weil die Einkommensteuererstattung auf der Anwendung des § 32 d EStG beruht. Diese Vorschrift zur Sicherstellung des Existenzminimums der Bezieher kleiner Einkommen gilt nur im Steuerfestsetzungsverfahren. Eine Anwendung auch im Erhebungsverfahren ginge über das vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Ziel, daß kein Steuerpflichtiger infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken, hinaus.
Normenkette
AO 1977 § 218 Abs. 2, § 226 Abs. 1; BGB § 394 S. 1; EStG § 32d; FGO § 142 Abs. 1; ZPO §§ 850, 850c
Tatbestand
Aufgrund der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1993 ergab sich für den Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) nach Anwendung des § 32 d des Einkommensteuergesetzes (EStG) ein Erstattungsanspruch in Höhe von ... DM. Dieses Steuerguthaben wurde vom Beklagten (Finanzamt -- FA --) mit rückständiger Einkommensteuer 1987 sowie mit Säumniszuschlägen zur Kraftfahrzeugsteuer 1992 und 1993 verrechnet. Nachdem der Antragsteller die Verrechnung beanstandet hatte, erließ das FA am 13. Oktober 1994 einen Abrechnungsbescheid, der die Steuern/Abgaben und Säumniszuschläge mit 0 DM auswies und auch insgesamt auf 0 DM lautete.
Nach erfolglosem Einspruch (Einspruchsentscheidung vom 11. November 1994) erhob der Antragsteller gegen den Abrechnungsbescheid Anfechtungsklage, über die das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden hat, und begründete diese im wesentlichen wie folgt: Die Aufrechnung des FA sei gemäß § 394 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) unzulässig, da der ihm zustehende Steuererstattungsanspruch für das Jahr 1993 als Teil seines Arbeitseinkommens nicht der Pfändung unterworfen sei. Nach § 850 c der Zivilprozeßordnung (ZPO) betrage nämlich sein unpfändbares Einkommen ... DM, während sein Nettoeinkommen im Jahre 1993 nur bei ... DM und damit unterhalb des Existenzminimums liege. Daher verstoße die Aufrechnung auch gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91 (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413), wonach ein Steuergesetz keine erdrosselnde Wirkung haben dürfe. Die Vorschrift des § 32 d EStG, die der Gesetzgeber auf die Entscheidung des BVerfG hin als Abhilfe zur Sicherung des Existenzminimums erstmals für den Veranlagungszeitraum 1993 geschaffen habe, gelte nicht nur für das Steuerfestsetzungsverfahren, sondern sei auch im Erhebungsverfahren zu berücksichtigen. Es mache nämlich keinen Unterschied, ob dem Steuerpflichtigen das zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs Erforderliche im Festsetzungsverfahren oder im Erhebungsverfahren genommen werde. Es müsse nach der Entscheidung des BVerfG auf jeden Fall verhindert werden, daß der Steuerpflichtige infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen werde, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken.
Der vom Antragsteller zur Durchführung des Klageverfahrens gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (PKH) ist vom FG mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt worden. Das FG hielt die Aufrechnung für wirksam, da der dem Antragsteller zustehende Einkommensteuererstattungsanspruch kein Anspruch auf Arbeitseinkommen sei und daher nicht den Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 850 ff. ZPO unterliege. Verfassungsrecht sei nicht verletzt, da das FA die Sicherung des Existenzminimums und die insoweit verfassungsrechtlich gebotene Befreiung des Antragstellers von der Besteuerung bei der Einkommensteuerfestsetzung für 1993 eingehalten habe. Weitere Folgerungen könnten aus diesem Prinzip nicht gezogen werden. Inbesondere könne dem FA nicht verwehrt werden, bestehende Steuerforderungen aus früheren Steuerjahren zu vollstrecken bzw. statt der Vollstreckung den Selbsthilfezugriff durch Aufrechnung in Anspruch zu nehmen.
Mit der Beschwerde hält der Antragsteller seinen PKH-Antrag für das Klageverfahren aufrecht. Er bezieht sich auf sein Klagevorbringen und macht zusammenfassend geltend, das FG habe sowohl die Tragweite der angeführten Entscheidung des BVerfG als auch den Begriff des Arbeitseinkommens für die Anwendung der Pfändungsschutzvorschriften verkannt.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das FG hat dem Antragsteller zu Recht die Bewilligung von PKH unter Beiordnung seines Prozeßbevollmächtigten versagt. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO -- i. V. m. § 114 ZPO). Das FG ist bei der gebotenen summarischen Betrachtung mit Recht davon ausgegangen, daß die Einwände des Antragstellers gegen die Zulässigkeit der vom FA erklärten Aufrechnung der Klage in der Hauptsache keine hinreichenden Erfolgsaussichten zu verleihen vermögen.
1. Gemäß § 394 Satz 1 BGB findet die Aufrechnung gegen eine Forderung nicht statt, soweit diese der Pfändung nicht unterworfen ist. Hiernach folgt das Aufrechnungsverbot dem Pfändungsverbot. Als Pfändungsverbot kommt im Streitfall nur die Vorschrift des § 850 c ZPO in Betracht, wonach in Geld zahlbares Arbeitseinkommen bis zu einer bestimmten Höhe pfändungsfrei ist.
Um in den Schutzbereich der Pfändungsfreigrenzen nach § 850 c ZPO zu fallen, müßte der dem Antragsteller gegenüber dem FA zustehende Erstattungsbetrag wegen überzahlter Einkommensteuer (Lohnsteuer) zum in Geld zahlbaren Arbeitseinkommen i. S. des § 850 Abs. 1 ZPO nach näherer Definition in § 850 Abs. 2 bis 4 ZPO gehören. Wie der Senat -- ebenfalls in einer PKH-Sache -- entschieden hat (Senatsbeschluß vom 13. Juli 1995 VII S 1/95, BFH/NV 1996, 10), handelt es sich bei der betreffenden Steuererstattung aber weder um aus einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis gewährte fortlaufende Einkünfte (§ 850 Abs. 2 ZPO) noch um eine sonstige (nicht wiederkehrend zahlbare) Vergütung, die dem Schuldner aus der Arbeits- oder Dienstleistung zusteht (§ 850 Abs. 4 ZPO; vgl. auch § 850 i ZPO). Der Senat hat dazu ausgeführt:
"Der Anspruch auf Erstattung überzahlter Lohnsteuer hat zwar seinen materiellen Ursprung in dem Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer insofern, als zum Arbeitslohn (Bruttolohn) auch die Lohnsteuer gehört, die der Arbeitgeber davon einzubehalten und für den Arbeitnehmer an das FA abzuführen hat (§ 38 EStG); entsprechend ist der Arbeitslohn auch Bemessungsgrundlage für die Lohnsteuer (§ 38 a EStG). Doch bereits zu dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt, wandelt sich die Rechtsnatur des vom Arbeitgeber einbehaltenen und an das FA abzuführenden Teils des Arbeitslohns: Es entsteht insoweit der Lohnsteueranspruch des Staates (§ 38 Abs. 2 Satz 2 EStG) als Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO 1977). Von diesem Zeitpunkt an gehen Lohnsteuer und (Rest-)Arbeitslohn rechtlich getrennte Wege. Das kommt auch im Gesetz dadurch zum Ausdruck, daß § 850 c ZPO unter Arbeitseinkommen, das auf seine Unpfändbarkeit hin zu überprüfen ist, ausschließlich das Arbeitseinkommen nach Abzug der Lohnsteuer, also das Nettoarbeitseinkommen, versteht, wie sich eindeutig aus § 850 c Abs. 3 ZPO i. V. m. der Lohnpfändungstabelle in der Anlage 2 zu dieser Vorschrift (Spalte "Nettolohn monatlich") entnehmen läßt (vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 319 AO 1977 Rz. 16). Hieraus folgt, daß der Begriff "Arbeitseinkommen" in § 850 ZPO nicht anders verstanden werden kann. Der Lohnsteuerabzugsbetrag, den der Arbeitgeber an das FA abzuführen hat, ist somit nicht Bestandteil des Arbeitseinkommens im Sinne der Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 850 ff. ZPO.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn sich bei der späteren Veranlagung herausstellt, daß infolge der Nichteintragung oder einer der Höhe nach zu geringen Eintragung des nach dem Gesetz zustehenden Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte (§ 39 a Abs. 1 EStG) während des Veranlagungszeitraums zuviel Lohnsteuer an das FA abgeführt worden ist. Der Steueranspruch des Staates verkehrt sich dann, ohne dabei seinen Charakter als Anspruch, der im öffentlichen Recht angesiedelt ist, zu verlieren, in einen Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Der aufgrund dieses Anspruchs an den Steuerpflichtigen zu erstattende Betrag erlangt, obschon er wirtschaftlich betrachtet im nachhinein das für den Steuerpflichtigen im Veranlagungszeitraum verfügbare Einkommen erhöht, nicht wieder den Charakter eines Einkommens, das aus einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis gewährt wird, und auch nicht den einer Vergütung, die dem Berechtigten aus einer Arbeits- oder Dienstleistung zusteht. Demgemäß hat der Bundesfinanzhof (BFH) für den Fall, daß dem Arbeitnehmer aufgrund eines vom Arbeitgeber selbst durchgeführten Lohnsteuer-Jahresausgleichs eine Steuererstattung zusteht, entschieden, daß der Arbeitgeber gegen den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch des Arbeitnehmers, weil dieser gegen den Fiskus gerichtet ist, mit einer Forderung gegen den Arbeitnehmer mangels Gegenseitigkeit grundsätzlich nicht aufrechnen kann (BFH-Urteil vom 28. April 1961 VI 301/60 U, BFHE 73, 289, BStBl III 1961, 372).
Der Lohnsteuererstattungsanspruch fällt somit nicht in den Anwendungsbereich der Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 850 ff. ZPO. Der Anspruch kann vielmehr ohne diese Einschränkungen nach der Spezialvorschrift des § 46 AO 1977 unter den dort genannten Modalitäten abgetreten, verpfändet oder gepfändet (s. Abs. 6 und 7 der Vorschrift) werden ...
Die bisher in Rechtsprechung und Literatur zu der genannten Rechtsfrage vertretenen Meinungen bestätigen die hier dargelegte Auffassung. In der Finanzgerichtsbarkeit wurde stets eine Anwendung der Pfändungsschutzbestimmungen der §§ 850 ff. ZPO auf den Lohnsteuererstattungsanspruch verneint (Niedersächsisches FG, Urteil vom 27. August 1959 V 22/59, Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1960, 155; FG Berlin, Urteil vom 24. Juli 1970 III 49/70, EFG 1970, 568; zuletzt FG Bremen, Urteil vom 10. Mai 1993 292161 K 5, EFG 1994, 77). Auch der beschließende Senat hat anläßlich einer Aufrechnung des FA gegen Lohnsteuererstattungsansprüche, die auf einer Geltendmachung des Verlustabzugs nach § 10 d EStG beruhten, ausgeführt -- ohne allerdings die hier interessierende Frage ausdrücklich zu entscheiden --: "Der bei der Veranlagung entstehende Steuererstattungsanspruch des Arbeitnehmers aus überzahlter Lohnsteuer, der dem FA zur Aufrechnung zur Verfügung steht, stellt nach den Wertungen des Gesetzgebers eine Forderung wie jede andere dar. Sie unterliegt weder nach Steuerrecht, noch nach Konkursrecht, noch nach dem Recht der Aufrechnung ... irgendwelchen Einschränkungen oder Besonderheiten. Mit ihr kann auch der Erstattungsberechtigte gegen Steuerforderungen des FA aufrechnen, und sie steht dessen Gläubigern zur Befriedigung im Wege der Zwangsvollstreckung zur Verfügung" (Senatsurteil vom 26. Februar 1985 VII R 32/84, BFH/NV 1885, 4). Zu ergänzen wären diese Aussagen dahingehend, daß auch die Einschränkungen der Pfändungsschutzvorschriften nach der ZPO für Steuererstattungsansprüche nicht einschlägig sind ...
Auch die überwiegende Meinung im Schrifttum folgt diesem Ergebnis (vgl. etwa Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 319 AO 1977 Rz. 42; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 5. Aufl. 1995, § 319 Anm. 2; Stöber in Zöller, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl. 1995, § 850 Rdnr. 16; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung mit Nebengesetzen, 19. Aufl. 1995, § 850 Rz. 12; Stöber, Forderungspfändung, 10. Aufl. 1993, Tz. 377; Wais, Zweifelsfragen bei der Pfändung des Anspruchs aus dem Lohnsteuer-Jahresausgleich, Betriebs-Berater -- BB -- 1969, 1441; Burhoff, Die Pfändung von Steuererstattungsansprüchen, Neue Wirtschafts-Briefe -- NWB --, Fach 2, 5977, 5980).
Demgegenüber kann die teilweise in der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit vertretene Gegenmeinung (vgl. Landgericht -- LG -- Köln, BB 1964, 175; Landesarbeitsgericht -- LAG -- Hamm, BB 1965, 668, und Der Betrieb -- DB -- 1989, 488 -- jeweils für den Fall der Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs durch den Arbeitgeber --; ebenso Quardt, Pfändbarkeit des Anspruchs aus dem Lohnsteuer-Jahresausgleich, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1959, 518; anders jedoch LG Braunschweig, NJW 1972, 2315, und LG Aachen, Der Deutsche Rechtspfleger -- Rpfleger -- 1988, 418) nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Sie verkennt sowohl die Einheitlichkeit des Begriffs "Arbeitseinkommen" in den §§ 850 ff. ZPO als auch die öffentlich-rechtliche Natur und Eingebundenheit des Lohnsteuererstattungsanspruchs (§ 37 Abs. 2, § 46 AO 1977). Soweit das Schrifttum sich für eine Anwendung wenigstens des § 850 i ZPO (so Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 53. Aufl. 1995, § 850 i Rz. 3; Schall, NJW 1959, 519) oder eine analoge Anwendung dieser Vorschrift (so Tipke/Kruse, a.a.O., § 319 AO 1977 Tz. 6 b) ausspricht, wird lediglich vom rechtspolitisch gewünschten Ergebnis her argumentiert. Nach geltendem Recht erscheint es nicht vertretbar, den Lohnsteuererstattungsanspruch, weil er sich auf eine über einen längeren Zeitraum hinaus ausgeübte Tätigkeit bezieht, mit den einmalig zahlbaren Vergütungen an selbständig Tätige für persönlich geleistete Dienste auf eine Stufe zu stellen (vgl. dazu Urteil des Senats vom 12. Juni 1991 VII R 54/90, BFHE 164, 399, 404, BStBl II 1991, 747, und FG Bremen, EFG 1994, 77)."
Der Senat sieht keinen Grund, in diesem Verfahren von der vorstehend wiedergegebenen Auffassung abzuweichen. Neue Gesichtspunkte haben sich nicht ergeben. Greift mithin ein Pfändungsverbot nach den §§ 850 ff. ZPO nicht ein, so ist die Aufrechnung des FA gegen den Steuererstattungsanspruch auch nicht nach § 394 BGB ausgeschlossen.
2. Die Unzulässigkeit der Aufrechnung folgt entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht aus verfassungsrechtlichen Überlegungen, insbesondere nicht aus Gründen des Schutzes des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums.
Aufgrund der Entscheidung des BVerfG zum Grundfreibetrag (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) war dem Gesetzgeber aufgegeben, mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1993 für Bezieher kleiner Einkommen (sog. Grenzsteuerzahler) sicherzustellen, daß bei der Einkommensbesteuerung dem Steuerpflichtigen die Erwerbsbezüge belassen werden, die er zur Deckung seines existenznotwendigen Bedarfs benötigt. Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber mit der durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (BGBl I, 944) eingeführten -- dort § 32 c EStG -- und durch das Standortsicherungsgesetz vom 13. September 1993 (BGBl I, 1569) mit § 32 d EStG bezeichneten Vorschrift nachgekommen. Aufgrund dieser Regelung wird in allen Fällen keine Einkommensteuer erhoben, in denen die Erwerbsbezüge die Beträge nicht überschreiten, die zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts von Alleinstehenden und nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten erforderlich sind (vgl. auch den Anwendungserlaß des Bundesministers der Finanzen -- BMF -- vom 26. Oktober 1993, BStBl I, 895, Rz. 1).
Wie sich aus dem Klagevorbringen des Antragstellers ergibt, hat das FA bei der Veranlagung des Antragstellers zur Einkommensteuer 1993 die Vorschrift des § 32 d EStG beachtet, indem es durch Steueränderungsbescheid vom 23. Juni 1994 die Einkommensteuer auf 0 DM festgesetzt hat.
Eine Anwendung des § 32 d EStG auch im Erhebungsverfahren mit der Folge, daß sich aufgrund der Veranlagung unter Anwendung dieser Vorschrift ergebende Erstattungsguthaben des Steuerpflichtigen diesem ohne Berücksichtigung möglicher Gegenansprüche des FA stets auszubezahlen wären, kommt mit dem FG nicht in Betracht. Schon nach seinem Wortlaut bezieht sich § 32 d EStG, wie sich aus Abs. 1 dieser Vorschrift ergibt, lediglich auf die "festzusetzende Einkommensteuer" (§ 2 Abs. 6 EStG)". Das entspricht der Vorgabe des BVerfG, wonach der existenznotwendige Bedarf des Steuerpflichtigen dem "Zugriff durch die Einkommensteuer" (vgl. Abschn. C I 2 des Urteils) entzogen ist, nicht aber notwendigerweise auch dem Zugriff auf andere Art und Weise, etwa durch Geltendmachung von Gegenansprüchen im Rahmen des Erhebungsverfahrens, entzogen sein muß.
Der Senat verkennt nicht, daß ein sich aufgrund der Anwendung des § 32 d EStG ergebendes Steuerguthaben der Höhe nach an sich zum steuerlich zu verschonenden Existenzminimum gehört. Dies besagt aber nicht, daß die Schutzwirkung des § 32 d EStG über die betreffende Steuerfestsetzung hinausreicht und -- in Höhe des sich daraus ergebenden Erstattungsguthabens -- auch Altsteuerschulden des Steuerpflichtigen aus vergangenen Veranlagungszeiträumen oder aus anderen Steuerarten (im Streitfall Kraftfahrzeug-Steuer) erfaßt. Bezieht man auch solche anderweitig bestehende Steuerforderungen in den Schutzbereich des § 32 d EStG ein und verbietet man insoweit dem FA die Geltendmachung von Gegenrechten (z. B. durch Aufrechnung), ist der Fiskus aufgrund der gegenwärtigen Rechtslage gegenüber anderen Gläubigern des Steuerpflichtigen ungerechtfertigt benachteiligt. Diese können dann nämlich sowohl den Steuererstattungsanspruch pfänden, weil, wie ausgeführt, insoweit kein Pfändungsverbot nach der ZPO besteht, als auch nach erfolgter Auszahlung des Steuerguthabens an den Steuerpflichtigen bei diesem auf das Guthaben im Wege der Vollstreckung zugreifen. Schon deshalb kann dem FA eine Aufrechnung im Erhebungsverfahren nicht verwehrt werden. Schließlich gibt es auch keinen einleuchtenden Grund dafür, daß das FA zunächst den Erstattungsbetrag an den Steuerpflichtigen auszubezahlen hat und ihn dann, ggf. in Konkurrenz mit anderen Gläubigern, im Wege der Pfändung beim Steuerpflichtigen wieder ganz oder teilweise beizutreiben versuchen muß.
Da das steuerlich zu verschonende Existenzminimum verfassungsrechtlich keine Drittwirkung im Privatrecht entfaltet und die Pfändungsschutzbestimmungen der ZPO bei einmalig auszuzahlenden Steuerguthaben nicht greifen, sieht der Senat die verfassungsmäßigen Rechte des Antragstellers durch die im Streitfall vom FA erklärte Aufrechnung nicht als verletzt an. Dabei hat er auch berücksichtigt, daß sich der Steuerpflichtige im Regelfall vor den unerwünschten Folgen einer solchen Aufrechnung schützen kann. Durch Eintragung eines angemessenen Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte können nämlich die im geltenden System des Lohn- und Einkommensteuerrechts angelegten möglichen Überzahlungen der Steuerschuld weitgehend vermieden und somit Geltung und ungestörter Genuß des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums durchgesetzt werden.
3. Unter Billigkeitsgesichtspunkten betrachtet, ergibt sich nichts anderes. Die Aufrechnung des FA gegen Lohnsteuer- bzw. Einkommensteuererstattungsansprüche stellt im Regelfall keine unzulässige Rechtsausübung dar (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1982 VII R 64/80, BFHE 138, 308, BStBl II 1983, 541). Die Aufrechnung ist auch dann nicht treu- oder sittenwidrig, wenn diese dazu führt, daß das dem Steuerpflichtigen für den zurückliegenden Veranlagungszeitraum gebührende steuerlich zu verschonende Existenzminimum unterschritten wird. Die Verschonung des Existenzminimums dient der Befriedigung des gegenwärtigen Bedarfs; aus diesem Grund hat das BVerfG auch eine Korrektur des verfassungswidrigen Grundfreibetrags für die Vergangenheit nicht für unbedingt geboten gehalten (Abschn. C III 3 b bb des bezeichneten Urteils). Es ist daher auch noch erträglich und hinzunehmen, wenn ein Steuerguthaben bei Grenzsteuerzahlern nach Ablauf des betreffenden Veranlagungszeitraums zur Begleichung alter oder anderweitiger Steuerschulden verwendet wird. Es dem Steuerpflichtigen ungeachtet anderweitig bestehender Steuerforderungen zu belassen, ginge über das vom BVerfG vorgegebene Ziel, daß nämlich kein Steuerpflichtiger infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu deken (s. Leitsatz 3 des vorbezeichneten Urteils), weit hinaus.
4. Ist die Aufrechnung durch das FA somit nach summarischer Prüfung insgesamt nicht zu beanstanden, so folgt daraus, daß der angefochtene Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO 1977), der diese Aufrechnung berücksichtigt, in gleicher Weise zu beurteilen ist. Eine hinreichende Erfolgsaussicht für die gegen den Abrechnungsbescheid erhobene Anfechtungsklage besteht daher, wie auch das FG im Ergebnis zutreffend entschieden hat, nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 420997 |
BFH/NV 1996, 281 |
BFH/NV 1996, 282 |