Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugang eines Schriftstücks innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977
Leitsatz (NV)
- Das Datum des Bescheides kann, muss aber nicht mit dem Tag der Aufgabe zur Post i.S. des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 identisch sein. Das FG hat den Sachverhalt insoweit aufzuklären.
- Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang eines Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 erhalten zu haben, so hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Die Anforderungen an eine hinreichende Substantiierung dürfen allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung des § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO 1977, wonach die Finanzbehörde die objektive Beweislast trifft, wenn der Zeitpunkt des Zugangs nicht aufgeklärt werden kann, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird.
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 2 Hs. 2
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde für das Streitjahr 1993 im Wege der Schätzung zur Einkommensteuer veranlagt. Der maschinell erstellte Einkommensteuerbescheid trägt das Datum vom 4. Dezember 1995 und wurde mit einfachem Brief zur Post gegeben. Der Bescheid war an die Steuerberaterin und Bevollmächtigte des Klägers adressiert und wurde in ihr Postfach eingelegt.
Mit Schreiben vom 9. Januar 1996, das am selben Tage beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) einging, legte der Kläger Einspruch ein. Auf den Hinweis des FA, dass die Einspruchsfrist versäumt worden sei, trug er vor, er habe fristgerecht Einspruch eingelegt, denn der Bescheid habe erst am 11. Dezember 1995 im Postfach seiner Steuerberaterin gelegen. Es könne zwar sein, dass er bereits am Samstag, dem 9. Dezember 1995, dort eingelegt worden sei; samstags werde jedoch keine Post abgeholt. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig.
Mit der hiergegen erhobenen Klage vertrat der Kläger die Auffassung, der Einspruch sei fristgerecht eingelegt worden. Die Steuerberaterin des Klägers legte im Laufe des Klageverfahrens einen Auszug aus ihrem Fristenkontrollbuch vor, worin der Eingang des angefochtenen Steuerbescheides auf den 11. Dezember 1995 vermerkt war. Sie trug vor, das Postfach werde täglich bis auf samstags und sonntags geleert, und zwar im Wechsel durch sie persönlich (mittwochs und freitags) sowie durch ihre Mitarbeiterinnen A (montags) und B (dienstags und donnerstags). Mit Schriftsatz vom 12. Juli 1996 versicherte sie an Eides statt, nach nochmaliger Überprüfung und Befragen ihrer Mitarbeiterinnen sowie nach Durchsicht ihrer persönlichen Aufzeichnungen betreffend die von ihr durchgeführten Leerungen sei der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr bis zum 8. Dezember 1995 nicht in ihr Postfach eingelegt worden. Vielmehr sei der Bescheid erst bei der Leerung des Postfachs am 11. Dezember 1995 vorgefunden und auch entsprechend in das Posteingangsbuch eingetragen worden.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Nach der Dreitagesvermutung des § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) gelte der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr, der das Datum vom 4. Dezember 1995 trage, am 7. Dezember 1995 als bekannt gegeben. Die Einspruchsfrist habe am 8. Januar 1996 geendet, weil das Fristende (7. Januar 1996) auf einen Sonntag gefallen sei. Damit sei der am 9. Januar 1996 beim FA eingegangene Einspruch verspätet. Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, der Einspruch sei fristgerecht, weil seine Steuerberaterin den Bescheid erst am 11. Dezember 1995 in ihrem Postfach vorgefunden habe, denn der Dreitageszeitraum sei auch dann maßgebend, wenn der Bekanntgabeempfänger ein Postfach unterhalte. Substantiierte Gründe für die Begründung von Zweifeln an der Dreitagesvermutung seien nicht geltend gemacht worden. Mit der Vorlage eines Auszugs aus dem Fristenkontrollbuch der Steuerberaterin, in dem als Tag der Bekanntgabe der 11. Dezember 1995 vermerkt sei, sei nicht schlüssig dargetan, dass der Bescheid erst nach Ablauf des Dreitageszeitraums zugegangen sei. Im Streitfall stehe nicht einmal fest, ob die Steuerberaterin das Postfach täglich geleert habe. Sie habe zwar vorgetragen, dass sie bis auf Samstag und Sonntag das Postfach täglich leere; es sei aber offen geblieben, ob und wann sie dies auch am 8. Dezember 1995 getan habe.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe den Vortrag des Klägers betreffend den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheids zu Unrecht als unsubstantiiert zurückgewiesen. Dem liege eine Verkennung der Untersuchungsmaxime nach § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zugrunde. Angesichts des Vorbringens der Steuerberaterin hätte das FG die Umstände des tatsächlichen Zugangs durch gezieltes Befragen der Klägerseite aufklären müssen.
Zudem habe das FG den Begriff der Bekanntgabe aus §§ 355 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 verkannt. Es habe eine Sachaufklärung betreffend die Aufgabe des Bescheides zur Post offensichtlich deswegen nicht durchgeführt, weil es das Datum des Bescheides mit dem Datum der Aufgabe zur Post gleichgesetzt habe. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gebe es aber weder eine tatsächliche noch eine rechtliche Vermutung, dass das Datum des Bescheides mit dem Tag der Aufgabe zur Post identisch sei.
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Der Einspruch des Klägers ist nur dann zulässig, wenn er rechtzeitig eingelegt wurde. Nach den den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) legte der Kläger den Einspruch am 9. Januar 1995 ein. Die Frage, ob an diesem Tag die Frist für die Einlegung des Einspruchs bereits abgelaufen war, hängt wesentlich davon ab, wann sie zu laufen begonnen hat.
1. Nach § 355 AO 1977 ist der Einspruch gegen einen Steuerbescheid innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Der Bekanntgabezeitpunkt bestimmt sich nach der Regelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977. Nach dieser Vorschrift gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post im Geltungsbereich dieses Gesetzes übermittelt wird, mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 erhalten zu haben, so hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen (vgl. BFH-Beschluss vom 20. August 1992 VI B 99/91, BFH/NV 1993, 75). Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss darauf zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische ―Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post― ernstlich in Betracht zu ziehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 5. Dezember 1974 V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286). Es genügt danach nicht schon ein einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssigen oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Urteil vom 7. Februar 1962 II 137/60 U, BFHE 75, 628, BStBl III 1962, 496, und das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ―OVG― für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster vom 28. März 1995 15 A 3217/94, Die öffentliche Verwaltung ―DÖV― 1995, 785). An diese Substantiierung sind aber keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, denn das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Finanzverwaltungsbehörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (vgl. BFH-Urteil vom 26. Februar 1964 II 52/63, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1964, 219).
Hat der Steuerpflichtige seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das FG den Sachverhalt unter Berücksichtigung dieses Vorbringens aufzuklären und die festgestellte oder unstreitigen Umstände im Wege freier Beweiswürdigung nach § 96 Abs. 1 FGO gegeneinander abzuwägen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1993, 75). Der Zugang bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht des FG. Lediglich für den Fall, dass nach deren Erfüllung den Zugang betreffend keine Überzeugungsbildung möglich ist ("im Zweifel"), muss auf die Beweislastregel des § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO 1977 zurückgegriffen werden (vgl. BFH-Urteil vom 26. Oktober 1998 X B 117/98, BFH/NV 1999, 450).
2. Die angefochtene Entscheidung beruht schon deshalb auf einer Verletzung des § 122 AO 1977, weil das FG nicht den Tag der Aufgabe der Bescheide zur Post festgestellt hat. Entgegen der Auffassung des FG ergibt sich dieser Tag nicht aus dem von ihm festgestellten Datum des Bescheides. Das Datum des Bescheides hat die Funktion, die vom FA vorgenommene Steuerfestsetzung zeitlich zu fixieren und in diesem Sinne den Bescheid zu kennzeichnen. Das Datum der Aufgabe zur Post betrifft dagegen nur die Bekanntgabe des Steuerbescheides. Das Datum des Bescheides kann, muss aber nicht mit dem Tag der Aufgabe des Bescheides zur Post identisch sein (vgl. BFH-Urteile vom 19. Dezember 1984 I R 7/82, BFHE 143, 200, BStBl II 1985, 485, und vom 28. September 2000 III R 43/97, BFHE 193, 28, BStBl II 2001, 211). Da jedoch das FG diesbezügliche Feststellungen nicht getroffen hat, lässt das Datum des Bescheides im Streitfall keinen Rückschluss auf das Datum der Aufgabe zur Post zu, zumal das Vorbringen des Klägers im Revisionsverfahren auch dahin gehend zu verstehen ist, dass er bezweifelt, ob der Bescheid tatsächlich am 4. Dezember 1995 zur Post aufgegeben worden ist. In einem solchen Fall ist der Sachverhalt weiter aufzuklären.
3. Zudem sieht der Senat den Tatsachenvortrag des Klägers betreffend den Zugang des Bescheides noch als hinreichend substantiiert im Sinne der angeführten Rechtsgrundsätze an.
Mit dem Vortrag, das Postfach seiner Steuerberaterin werde an Wochentagen außer samstags täglich geleert, der Bescheid sei aber nach dem 8. Dezember 1995 dort vorgefunden worden, macht er schlüssig geltend, der Bescheid habe in der Zeit vom Dienstag, dem 5. Dezember 1995 bis zum Freitag, dem 8. Dezember 1995 nicht im Postfach gelegen, obwohl es jeden Tag geleert worden sei. Dies bedeutet, dass der Bescheid nach den Ausführungen des Klägers in dem der Anwendung des § 122 AO 1977 auf den Streitfall zugrunde zu legenden Dreitageszeitraum von 5. bis zum 7. Dezember 1995 nicht zugegangen sei. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass zusätzlich noch ein Fristenkontrollbuch vorgelegt wurde, in dem der Tag der tatsächlichen Abholung vermerkt ist. Zudem hat die Bevollmächtigte des Klägers an Eides statt versichert, dass das Postfach täglich außer samstags und sonntags geleert werde, mittwochs und freitags von ihr persönlich.
Soweit die Vorentscheidung ausführt, die Nachweispflicht sei nicht auf das FA übergegangen, weil offen geblieben sei, ob das Postfach auch am 8. Dezember 1995 geleert worden sei, kann dies nur dahin gehend verstanden werden, dass der Kläger zwar vorgetragen, aber nicht bewiesen habe, dass das Postfach auch tatsächlich geleert worden sei. Auch insoweit verkennt das FG die Anforderungen an einen substantiierten Tatsachenvortrag i.S. des § 122 AO 1977, der das FG zur Sachaufklärung in Bezug auf den tatsächlichen Zugang des Verwaltungsakts verpflichtet. Denn der Beweis eines diesen Anforderungen entsprechenden Vortrags ist nach den o.a. Grundsätzen gerade nicht zu fordern.
4. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie wird daher zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückverwiesen. Dieses wird den Zeitpunkt der Aufgabe des Verwaltungsakts zur Post feststellen und dem FA Gelegenheit geben, den Nachweis des Zugangs zu erbringen. Dabei wird das FG allerdings auch zu beachten haben, dass eine nur einmalige tägliche Leerung des Postfachs zu Lasten des Klägers gehen kann (vgl. BFH-Urteil vom 22. Oktober 1975 I R 214/73, BFHE 117, 139, BStBl II 1976, 76, m.w.N.). Sollte das FA nach der aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung in freier Beweiswürdigung gewonnenen Überzeugung des Gerichts den Nachweis eines früheren Zugangs als den vom Kläger behaupteten nicht erbracht haben, ist von einem rechtzeitig eingelegten Einspruch auszugehen. Das FG wird in diesem Fall die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides zu prüfen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 613843 |
BFH/NV 2001, 1365 |
ZKF 2002, 186 |
AO-StB 2001, 172 |