Leitsatz (amtlich)
1. Wer sich in der Berufsausbildung befindet, hat keine eigene Erwerbsgrundlage im Sinne des § 10a EStG. Die Berufsausbildung eines Handwerkers ist regelmäßig nicht erst mit der Meisterprüfung abgeschlossen.
2. Ein Arbeitsverhältnis hat nur dann eine Erwerbsgrundlage gebildet, wenn es auf Dauer abgestellt war. Ob dies der Fall war, ist nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.
Normenkette
EStG § 10a
Tatbestand
Der am 9. März 1932 geborene Steuerpflichtige erlernte den Beruf des Herrenschneiders. Er bestand am 12. August 1949 die Gesellenprüfung. Der Lehrvertrag lief bis zum 30. September 1949. Auch nach Ablegung der Gesellenprüfung arbeitete der Steuerpflichtige bis zu seiner Flucht aus der Ostzone am 27. Oktober 1949 bei seinem bisherigen Lehrmeister weiter. Der Steuerpflichtige besitzt einen Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge, der von der zuständigen Behörde ausgestellt worden ist. In der Bundesrepublik Deutschland war der Steuerpflichtige zunächst als Angestellter tätig; seit dem 18. Juni 1963 betreibt er eine Fabrik zur Herstellung von Bekleidung.
Mit dem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1964 begehrte der Steuerpflichtige die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns in Höhe des zulässigen Höchstbetrags. Das FA (Beklagter und Revisionsbeklagter) wies den Einspruch mit der Begründung zurück, der Steuerpflichtige habe durch die Flucht nicht seine Erwerbsgrundlage verloren, da er zu diesem Zeitpunkt keine besessen habe.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FG führte im wesentlichen aus: Es sei nur streitig, ob der Steuerpflichtige seine frühere Erwerbsgrundlage verloren habe; denn die anderen Voraussetzungen des § 10a EStG lägen vor. Der Steuerpflichtige habe, obwohl der Begriff der Erwerbsgrundlage nicht eng auszulegen sei, diese nicht verloren. Er habe vor der Flucht lediglich kurze Zeit als Geselle gearbeitet. Da der Steuerpflichtige die Meisterprüfung noch nicht abgelegt gehabt habe, habe er sich noch in der Berufsausbildung befunden; denn es sei davon auszugehen, daß die Mehrzahl der Herrenschneider danach strebe, sich selbständig zu machen und die Meisterprüfung abzulegen. Es komme hinzu, daß ein Arbeitnehmerverhältnis nur dann als Erwerbsgrundlage angesehen werden könne, wenn es für längere Dauer angelegt sei. Das treffe im Streitfall nicht zu. Nach der Überzeugung des Sentas habe sich der Steuerpflichtige seine Existenzgrundlage erst in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen.
Mit der Revision rügt der Steuerpflichtige unrichtige Rechtsanwendung. Er trägt vor: Er habe aus seinen Einkünften als Schneidergeselle in der Ostzone seinen Lebensunterhalt bestritten. Mit seiner Gesellenprüfung sei seine Berufsausbildung abgeschlossen gewesen. In der Herrenschneiderbranche gebe es noch viele Gesellen, zum Beispiel als Zuschneider. Er selbst betreibe einen gutgehenden Konfektionsbetrieb, ohne Schneidermeister zu sein. Sein Arbeitsverhältnis in der Ostzone sei auch nach der Gesellenprüfung noch auf Dauer angelegt gewesen. Daß er schon früher Fluchtgedanken gehegt habe, müsse erst bewiesen werden.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Voraussetzung für die Steuerbegünstigung des nicht entnommenen Gewinns im Sinne des § 10a EStG ist u. a. , daß der Steuerpflichtige seine "frühere Erwerbsgrundlage verloren" hat. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß dieses Erfordernis auch bei Verlust einer unselbständigen Stellung gegeben sein kann (vgl. das Urteil des BHF VI 147/60 S vom 23. September 1960, BFH 71, 570, BStBl III 1960, 462; ebenso Herrmann-Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, § 7e EStG Anm. 3d E 602). Es kann also auch ein Gewerbetreibender - wie im Streitfall - die Steuerbegünstigung des § 10a EStG in Anspruch nehmen, wenn er vor der Flucht nicht Gewerbetreibender, sondern Arbeitnehmer gewesen ist. Selbst ein Minderjähriger - der Steuerpflichtige war im Streitfall bei der Flucht nur 17 1/2 Jahre alt - kann eine Erwerbsgrundlage besitzen (vgl. die BFH-Urteile VI 147/60 S, a. a. O.; VI 223/62 U vom 8. November 1963, BFH 78, 181, BStBl III 1964, 73) und infolge der Flucht diese seine Erwerbsgrundlage verlieren. Das FG hat auch richtig erkannt, daß der Begriff der Erwerbsgrundlage weit auszulegen ist (vgl. die BFH-Urteile VI 169/61 vom 4. Mai 1962, StRK, Einkommensteuergesetz, § 10 a, Rechtsspruch 72; VI 183/62 vom 29. März 1963, HFR 1963, 363; VI 214/62 vom 29. September 1963, HFR 1963, 332).
Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats hat allerdings ein Flüchtling eine Erwerbsgrundlage nur dann verloren, wenn er aus dieser seinen Unterhalt im wesentlichen bestreiten konnte und auch tatsächlich bestritten hat (vgl. die BFH-Urteile VI 147/60 S, a. a. O.; VI 78/59 S vom 9. Dezember 1960, BFH 72, 163, BStBl III 1961, 61). Wer sich noch in der Berufsausbildung befunden hat, hat noch keine eigene Erwerbsgrundlage in diesem Sinn gehabt (vgl. die BFH-Urteile VI 147/60 S, a. a. O.; VI 214/62, a. a. O.). Der Begriff der Erwerbsgrundlage darf aber gerade, weil er mit Rücksicht auf die Zweckbestimmung des § 10a EStG weit ausgelegt werden muß, nicht wieder dadurch eingeschränkt werden, daß die Zeit der Ausbildung und damit des Fehlens einer eigenen Erwerbsgrundlage zu weit ausgedehnt wird. Grundsätzlich muß die Zeit der Ausbildung mit dem Abschluß der Lehrlingstätigkeit als beendet angesehen werden. So hat der Senat bereits in anderem Zusammenhang entschieden, man könne den Abschluß der Berufsausbildung eines Handwerksgesellen einerseits erst in der Meisterprüfung sehen, diese jedoch andererseits auch als Vorgang der Berufsfortbildung auffassen, so daß die Kosten der Meisterprüfung jedenfalls vom Standpunkt des Gesellen aus Kosten der Fortbildung im ausgeübten Beruf seien (vgl. die BFH-Urteile VI 118/61 U vom 13. Oktober 1961, BFH 74, 124, BStBl III 1962, 48; I 290/63 vom 10. Mai 1966, BFH 86, 297, BStBl III 1966, 490). Auch unter Berücksichtigung der diesen Urteilen zugrunde liegenden Erwägungen ist es vertretbar, die Ausbildung eines Handwerkers mit der Gesellenprüfung als abgeschlossen anzusehen. Dafür spricht gerade im Streitfall die gerichtsbekannte Tatsache, daß infolge der Entwicklung der Verhältnisse der Herrenschneiderberuf immer weniger selbständig ausgeübt wird und viele Schneidergesellen in der Konfektionsindustrie tätig sind, ohne eine Meisterprüfung abgelegt zu haben. Man kann also entgegen der Ansicht des FG nicht - und zwar auch nicht für die Jahre, um die es sich hier handelt - davon ausgehen, daß erst die Meisterprüfung den Abschluß der mit der Lehre begonnenen Ausbildung als Schneider bilde.
Nun ist hier der Steuerpflichtige, wie auch das FG hervorgehoben hat, nur verhältnismäßig kurze Zeit als Geselle tätig gewesen. Ob man die Lehrlingstätigkeit als am 12. August 1949 (Tag der Gesellenprüfung) oder am 30. September 1949 (Ende der Lehrvertragsdauer) beendet ansieht, kann dahingestellt bleiben; jedenfalls hat er seine Tätigkeit als Geselle nur noch bis zum 26. Oktober 1949 ausgeübt. Wenn es auch nicht erforderlich ist, daß das Arbeitsverhältnis, das die Erwerbsgrundlage bildete, tatsächlich von längerer Dauer war (vgl. Herrmann-Heuer, a. a. O., § 7e EStG Anm. 3 e), so muß doch, wie das FG insoweit zutreffend ausgeführt hat, das Arbeitsverhältnis auf eine gewisse Dauer abgestellt gewesen sein, um eine eigene Erwerbsgrundlage gebildet zu haben (vgl. das Urteil des Senats VI 61/61 vom 20. Oktober 1961, StRK, Einkommensteuergesetz, § 10 a, Rechtsspruch 68; ebenso Nissen in Hartmann-Böttcher-Grass, Großkommentar zur Einkommensteuer, § 10a Anm. 2 b, S. 6). Daß für die Inanspruchnahme der Vergünstigung des § 10a EStG nicht lediglich die Flüchtlingseigenschaft genügt, sondern der Verlust der früheren Erwerbsgrundlage gefordert wird, zeigt, daß ein gewisser Besitzstand verlorengegangen sein muß. Zudem hat, wer das von ihm eingegangene Arbeitsverhältnis von vornherein nicht hat weiter betreiben wollen, dieses nicht allein durch die Flucht verloren.
Das FG hat aber seine Annahme, daß das Arbeitsverhältnis des Steuerpflichtigen als Geselle nicht auf Dauer angelegt gewesen sei und daß sich der Steuerpflichtige eine Erwerbsgrundlage erst nach der Flucht in die Bundesrepublik Deutschland geschaffen habe, nicht durch Tatsachen belegt. Es erscheint zwar auch dem Senat zweifelhaft, ob das Arbeitsverhältnis des Steuerpflichtigen auf Dauer angelegt war. Es könnte manches dafür sprechen, daß der Steuerpflichtige bei der tatsächlichen Gestaltung der Sachlage nur die Beendigung des Lehrlingsverhältnisses abwarten wollte, um dann zu fliehen. Ob das aber der Fall war oder ob das Arbeitsverhältnis des Steuerpflichtigen auf eine gewisse Dauer abgestellt war, entscheidet sich nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles. Die entsprechenden Tatsachenfeststellungen und die Tatsachenwürdigung obliegt zwar dem FG. Das FG konnte sich aber nicht lediglich auf den Ausspruch seiner "Überzeugung" beschränken, das Angestelltenverhältnis des Steuerpflichtigen sei nicht auf Dauer angelegt gewesen, zumal der Steuerpflichtige sowohl dem FA wie auch dem FG gegenüber geltend gemacht hatte, er habe erst seit Ende Oktober 1949 befürchtet, daß er zur kasernierten Volkspolizei oder zum Bergbau eingezogen werde. Nach § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO hat das FG die Gründe anzugeben, die für seine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Den Urteilsgründen muß zu entnehmen sein, auf Grund welcher Unterlagen oder Erwägungen das Gericht zu den für die Entscheidung erforderlichen, von ihm selbst zu treffenden tatsächlichen Feststellungen und zu seinen rechtlichen Folgerungen gelangt ist; denn nur auf diese Weise wird sowohl den Prozeßbeteiligten als auch dem Revisionsgericht gegenüber der Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde gelegt ist, und die Rechtsauffassung der Vorinstanz authentisch und nachprüfbar bekanntgegeben (vgl. das BFH-Urteil III 46/62 vom 22. April 1966, BFH 86, 219, und den BFH-Beschluß IV B 18/66 vom 15. Februar 1967, BFH 87, 502, BStBl III 1967, 181).
Da das nicht geschehen ist, kann der Senat nicht prüfen, ob die "Überzeugung" des FG zutreffend ist. Die Vorentscheidung mußte danach aufgehoben werden. Die Sache ist nicht spruchreif. Die Sache war deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 68632 |
BStBl II 1969, 615 |
BFHE 1969, 273 |