Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschäftsführerhaftung - Begründung der Ermessensentscheidung
Leitsatz (NV)
Die vom FA im Rahmen des § 191 Abs. 1 AO 1977 (§ 118 AO) zu treffende Ermessensentscheidung kann nur dann als rechtmäßig angesehen werden, wenn das FA den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Daraus folgt, daß die Ermessensentscheidung fehlerhaft ist, wenn die Behörde bei ihrer Entscheidung Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art, die nach dem Sinn und Zweck der Ermessensvorschrift zu berücksichtigen wären, außer acht läßt.
Normenkette
AO 1977 §§ 69, 119 Abs. 1; AO §§ 103, 108, 118 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) durch Bescheid vom 30. Januar 1980 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. April 1982 für rückständige Lohnsteuer, Ergänzungsabgabe, Lohnkirchensteuer und Stabilitätszuschläge Dezember 1972 bis Juni 1974 der I-GmbH & Co. KG (KG) nach §§ 103, 105 Abs. 1, 109 der Reichsabgabenordnung (AO) i. V. m. § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) in Haftung. Die Haftungssumme betrug 262 085,71 DM.
Der Kläger war seit 1965 alleiniger Geschäftsführer der I-GmbH (GmbH), die ihrerseits alleinige persönlich haftende Gesellschafterin der KG war. Beitreibungsversuche des FA bei der KG waren erfolglos. Das am 1. April 1974 beantragte Vergleichsverfahren und das Anschlußkonkursverfahren wurden mangels Masse abgelehnt.
Die Klage war erfolgreich. Das Finanzgericht (FG) führte aus: Das FA habe das ihm nach § 191 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zustehende Ermessen nicht ausreichend ausgeübt (Ermessensunterschreitung). Nach dem Akteninhalt und dem Vortrag des Klägers hätte das FA prüfen müssen, ob nicht an Stelle des Klägers der Prokurist B der KG in Anspruch zu nehmen gewesen sei. Dazu hätte es insbesondere der Aufklärung des Aufgabenbereichs und der Tätigkeit des B bedurft. Der Kläger habe im Verwaltungsverfahren vorgetragen, B sei für die Anmeldung und Abführung der Lohnsteuerbeträge zuständig gewesen. Dies hätte das FA zum Anlaß nehmen müssen, im Rahmen der Ermessensentscheidung eine Haftung des B nach § 108 AO zu prüfen.
Die Ausführungen des FA in der Einspruchsentscheidung seien dafür nicht ausreichend. Das FA habe rechtsirrig das Vorliegen der Voraussetzungen des § 108 AO mit der Begründung verneint, daß nach außen nicht B, sondern der Kläger als Geschäftsführer ausgewiesen sei; nur er sei in den Geschäftsbriefbögen der KG als Geschäftsführer genannt gewesen. Nach § 108 AO sei für die Haftung des Prokuristen jedoch lediglich Voraussetzung, daß dieser für den betreffenden Aufgabenbereich nach der internen Pflichtzuweisung zuständig gewesen und insofern auch als Bevollmächtigter aufgetreten sei. Diese Vorschrift setze nicht voraus, daß der Prokurist auch in den Briefbögen des Unternehmens namentlich genannt werde. Das FA hätte daher für eine rechtmäßige Ermessensentscheidung den Aufgabenbereich des B und sein etwaiges Auftreten als Bevollmächtigter aufklären müssen. Das sei nicht geschehen. Eine Abwägung, ob der Kläger oder B als Haftender in Anspruch zu nehmen gewesen sei, habe deshalb nicht fehlerfrei getroffen werden können.
Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung der §§ 76, 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und §§ 103, 109 AO. Der vom FG festgestellte Ermessensfehler (Ermessensunterschreitung) liege nicht vor. Die Ermessensentscheidung sei in der Einspruchsentscheidung ausführlich begründet worden. Der Kläger sei alleiniger Geschäftsführer der GmbH und damit auch der KG gewesen. B sei lediglich Prokurist der KG gewesen. Seine Haftung nach § 108 AO habe das FA pflichtgemäß geprüft.
Der Haftungsbescheid sei damit begründet worden, daß der Kläger als Geschäftsführer auch dann hafte, wenn er einen Prokuristen mit der kaufmännischen Leitung betraut habe. Öffentlich-rechtliche Verpflichtungen können nicht durch privatrechtliche Vereinbarungen ersetzt werden. B sei nicht Organ einer juristischen Person, sondern Bevollmächtigter gewesen. Als Beauftragter seines Geschäftsherrn habe dieser seinen Wirkungskreis bestimmt. B sei nicht mit der Geschäftsführung der KG beauftragt gewesen. Dies sei in der Einspruchsentscheidung ausdrücklich dargelegt worden.
Das FA beantragt, die Klage unter Aufhebung der Vorentscheidung abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das FG hat das Vorliegen eines Ermessensfehlers zu Recht bejaht.
Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig ist (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508). Das FA hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich - wie das FG richtig festgestellt hat - um eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 118 AO (nunmehr § 191 Abs. 1 AO 1977) zu treffende Ermessensentscheidung des FA an, ob und wen es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar.
Die Ermessensentscheidung kann nur dann als rechtmäßig angesehen werden, wenn das FA den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Daraus folgt umgekehrt, daß die Ermessensentscheidung fehlerhaft ist, wenn die Behörde bei ihrer Entscheidung Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art, die nach dem Sinn und Zweck der Ermessensvorschrift zu berücksichtigen wären, außer acht läßt (Senatsurteil vom 1. Juli 1981 VII R 84/80, BFHE 134, 79, 86, BStBl II 1981, 740; BFH-Urteile vom 15. Juni 1983 I R 76/82, BFHE 139, 146, 148, BStBl II 1983, 672, und vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, 513, BStBl II 1985, 489). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.
Nach den Feststellungen der materiell-rechtlichen Haftungsvoraussetzungen hatte das FA nach § 191 Abs. 1 AO 1977 die Entscheidung darüber zu treffen, ob überhaupt und in welcher Höhe eine Haftungsinanspruchnahme erfolgen sollte. Insbesondere war zu entscheiden, wer von mehreren Haftungsschuldnern in Anspruch genommen werden sollte. Im Streitfall kam neben dem Kläger als Geschäftsführer eine Inanspruchnahme des Prokuristen B nach §§ 108, 103 AO in Betracht.
Nach § 108 Satz 1 AO hat die Pflichten des gesetzlichen Vertreters (§ 103 AO), wer als ,,Bevollmächtigter oder als Verfügungsberechtigter auftritt". Dieser haftet gemäß § 109 Abs. 1 AO ,,insoweit persönlich neben dem Steuerpflichtigen, als durch schuldhafte Verletzung der ihm" in § 108 Satz 1 AO i. V. m. § 103 Satz 1 AO ,,auferlegten Pflichten Steueransprüche verkürzt worden sind". Nun war sich das FA zwar der Möglichkeit einer Inanspruchnahme des B bewußt; es hat aber die Voraussetzungen seiner Haftung im Einspruchsbescheid mit der Begründung verneint, B sei nach außen nicht als Vertretungsberechtigter ausgewiesen worden; er sei zwar als Prokurist mit einem bestimmten Aufgabenkreis betraut gewesen, in den Geschäftsbriefen der KG sei jedoch allein der Kläger als Geschäftsführer ausgewiesen gewesen. Diese Ausführungen verkennen die Voraussetzungen einer Haftung nach §§ 108, 103 AO.
Als Prokurist gehörte B zu dem von § 108 Satz 1 AO angesprochenen Personenkreis (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., Stand Dezember 1975, § 108 Tz. 2). Davon ist auch das FG ausgegangen. Die Erfüllung des Haftungstatbestands setzt weiter voraus, daß B als Bevollmächtigter der KG als solcher nach außen aufgetreten ist. Dazu hätte das FA Feststellungen darüber treffen müssen, ob B als Bevollmächtigter der KG am Rechtsverkehr teilgenommen hat. Derartige Feststellungen sind offenbar nicht getroffen, zumindest aber im Haftungsbescheid oder der Einspruchsentscheidung nicht niedergelegt worden. Unerheblich ist dabei, ob B als Vertretungsberechtigter (Bevollmächtigter) nach außen hin ausgewiesen worden war. Auf den Ausweis des B als Vertretungsberechtigten (Bevollmächtigten) in den Geschäftsbriefköpfen der KG kann es auch deshalb nicht ankommen, weil ein derartiger Ausweis allein eine Haftung nach § 108, § 103 AO niemals hätte begründen können. Entscheidend ist allein, ob B als Beauftragter der KG in deren Wirkungskreis nach außen handelnd aufgetreten war (vgl. BFH-Urteil vom 19. Juli 1984 V R 70/79, BFHE 142, 11, BStBl II 1985, 147, 148; Tipke/Kruse, a. a. O., § 108 Rz. 4). Um diese Frage beantworten zu können, hätte das FA den Tätigkeitsbereich des B und sein tatsächliches Wirken für die KG aufklären müssen. Erst danach hätte eine Haftung des B nach § 108, § 103 AO abschließend bejaht oder verneint und damit eine sachgerechte Ermessensentscheidung darüber getroffen werden können, ob nur der Kläger, nur B oder beide zusammen als Haftungsschuldner herangezogen werden sollten.
Die Rechtsentscheidung des FA über die haftungsrechtliche Inanspruchnahme des Prokuristen B nach § 108 AO ist somit fehlerhaft. Dieser Fehler führt dazu, daß die notwendige Ermessensentscheidung (Auswahlermessen) bei der Inanspruchnahme des Klägers nicht mehr rechtsfehlerfrei getroffen werden konnte; denn aufgrund der falschen Rechtsentscheidung im Rahmen des § 108 AO verblieb für das FA nur noch der Kläger als Haftungsschuldner. Die Vorentscheidung hat somit die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner zu Recht wegen Ermessensfehlers aufgehoben.
Fundstellen
Haufe-Index 416039 |
BFH/NV 1989, 274 |