Leitsatz (amtlich)
Die Frist für einen außergerichtlichen Rechtsbehelf beginnt auch dann nicht, wenn die Finanzbehörde an Stelle des Tages der Aufgabe zur Post zu Unrecht den dritten Tag nach der Aufgabe zur Post der Belehrung über die einzuhaltende Frist zugrunde legt.
Normenkette
AO § 237 i.d.F. des § 162 Nr. 40 FGO
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) hat den Kläger und Revisionskläger (Kläger) durch einen auf § 112 der Reichsabgabenordnung (AO) gestützten Haftungsbescheid in Anspruch genommen.
Vor Absendung des Haftungsbescheides hatte das FA den Kläger zweimal schriftlich aufgefordert, einen Zustellungsvertreter im Inland zu bestellen, und dabei auf die Rechtsfolgen des § 89 Satz 2 AO hingewiesen. Der Kläger hat einen Zustellungsvertreter nicht bestellt.
Ausweislich seines Postbuches hat das FA den Haftungsbescheid am 18. Dezember 1975 als Einschreibsendung an die Wohnungsanschrift des Klägers in Österreich zur Post gegeben. In der Rechtsbehelfsbelehrung heißt es, daß der Haftungsbescheid bei Zustellung durch eingeschriebenen Brief oder bei Zusendung durch einfachen Brief mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben gelte.
Den am 22. Januar 1976 eingelegten Einspruch des Klägers wies das FA zurück. Auch die Klage hatte keinen Erfolg. Das FA habe den Kläger über den Beginn der Einspruchsfrist falsch belehrt. Zwar hätten unrichtige Rechtsbehelfsbelehrungen gemeinhin zur Folge, daß die Rechtsbehelfsfrist nicht in Lauf gesetzt werde. Doch gelte eine Ausnahme für die Fälle, in denen die Belehrung zugunsten des Belehrten unrichtig sei. Im Streitfall sei der Kläger so zu behandeln, als ob die Einspruchsfrist am dritten Tag nach der Aufgabe des Haftungsbescheides zur Post begonnen habe. Auch bei dieser Auffassung sei am 22. Januar 1976 - dem Tag, an dem der Einspruch beim FA eingegangen sei - die Einspruchsfrist verstrichen gewesen. Gründe, die es hätten rechtfertigen können (wegen der Fristversäumung um einen Tag), Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, seien nicht ersichtlich.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er beantragt, das angefochtene Urteil und den Haftungsbescheid aufzuheben, hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Finanzgericht (FG) zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
1. Der Senat braucht nicht zu prüfen, ob die Verfahrensrüge begründet ist.
Auf die Rüge des Klägers, ihm sei das rechtliche Gehör durch Verweigerung der Akteneinsicht und dadurch versagt worden, daß ihm keine Gelegenheit gegeben worden sei, sich sachbezogen zum Inhalt der Akten und Unterlagen im Zusammenhang mit der Fristversäumung zu äußern, könnte es nur dann ankommen, wenn die Ansicht des FG zuträfe, der Einspruch sei verspätet eingelegt worden. Ist er nicht verspätet eingelegt worden, so kommt es auf die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das FG unter keinem denkbaren Gesichtspunkt an (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 12. Juli 1972 I R 205/70, BFHE 107, 186, 188, BStBl II 1973, 59). Die Frage, ob es Entschuldigungsgründe für die verspätete Einlegung des Einspruchs gab, die es rechtfertigen könnten, Wiedereinsetzung wegen der Fristversäumung zu gewähren, ist dann unerheblich.
2. Entgegen der Ansicht des FG hat der Kläger fristgerecht Einspruch eingelegt. Die Einspruchsfrist war durch die Bekanntgabe des Haftungsbescheides nicht in Lauf gesetzt worden, weil die dem Bescheid beigegebene Rechtsbehelfsbelehrung (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO i. d. F. des § 162 Nr. 40 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) unrichtig war. Der Einspruch ist innerhalb der Jahresfrist des § 237 Abs. 2 Satz 1 AO eingelegt worden.
a) Das FA hat fehlerhaft über die einzuhaltende Rechtsbehelfsfrist belehrt. Die Berechnung der Monatsfrist des § 236 Abs. 1 AO ist an die Ermittlung des Beginns dieser Frist geknüpft. Maßgebend für den Fristbeginn ist der Tag der Zustellung oder Bekanntgabe (§§ 91 Abs. 1, 236 Abs. 1 AO).
Im Streitfall konnte gemäß § 89 AO oder gemäß § 14 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) zugestellt werden. Das FA hat die Bekanntgabe nach § 89 AO gewählt. Zwar hat die Behörde den Haftungsbescheid durch eingeschriebenen Brief übersandt. Damit wollte sie ersichtlich nicht durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes zustellen (§ 4 VwZG); durch die Übersendung mittels eingeschriebenen Briefes wollte sie sich offensichtlich nur einen Nachweis über die Absendung und den tatsächlichen Zugang des Bescheides verschaffen. Hätte sie die Zustellung gemäß § 4 VwZG gewollt, so wäre die vorherige Aufforderung nach § 89 AO unverständlich. Für eine Zustellung im Ausland kam aus Rechtsgründen nur die nach § 14 VwZG oder nach Maßgabe des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Rechtsschutz und Rechtshilfe in Abgabensachen vom 4. Oktober 1954 (BGBl II 1955, 833) in Frage.
b) Da der Kläger trotz Aufforderung durch die beklagte Behörde einen inländischen Zustellungsvertreter i. S. des § 89 Satz 1 AO nicht bestellt hat, galt der umstrittene Haftungsbescheid mit der Aufgabe zur Post - am 18. Dezember 1975 - als zugestellt und nicht, wie das FA in der Rechtsbehelfsbelehrung ausgeführt hat, mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post.
Die Frist zur Einlegung des Rechtsbehelfs gegen den am 18. Dezember 1975 als zugestellt geltenden Haftungsbescheid wäre - der 18. Januar 1976 war ein Sonntag - am 19. Januar 1976 abgelaufen, wenn die dem Haftungsbescheid beigegebene Rechtsbehelfsbelehrung richtig gewesen wäre. Gemäß § 237 Abs. 1 AO begann die Frist für schriftlich erteilte Bescheide nur, wenn der Beteiligte u. a. über die Frist belehrt worden war, binnen deren der Bescheid mit einem Rechtsbehelf angefochten werden konnte; da der Haftungsbescheid - der sich auf Einkommensteuer und Umsatzsteuer bezog - schriftlich zu erteilen war (§§ 97 Abs. 2, 118, 210 b Abs. 1 Satz 1 AO), griff die Ausnahmeregelung des § 237 Abs. 1 Satz 2 AO nicht ein.
c) § 237 Abs. 2 AO schrieb - insoweit regelungsgleich mit § 356 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977), § 55 Abs. 2 FGO, § 58 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 66 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - u. a. vor, im Falle unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung sei die Einlegung des Rechtsbehelfs nur binnen eines Jahres seit Bekanntgabe der Verfügung zulässig. § 237 AO bestimmte als Rechtsfolge unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung, daß die Rechtsbehelfsfrist nicht beginnt und die Einlegung des Rechtsbehelfs grundsätzlich nur binnen Jahresfrist zulässig ist. Das Gesetz unterschied nicht danach, ob die dem angefochtenen Verwaltungsakt beigegebene Rechtsbehelfsbelehrung zugunsten oder zuungunsten dessen unrichtig war, an den sich der Verwaltungsakt richtete. Angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung kann die bisher zu § 246 Abs. 3 AO i. d. F. bis zum Inkrafttreten des § 162 Nr. 40 FGO vertretene Auffassung der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs - RFH - (vgl. Urteil vom 26. Mai 1937 VI A 138/37, RFHE 41, 265, RStBl 1937, 732; anderer Meinung Urteil vom 22. Dezember 1931 II A 361/31, RFHE 30, 99, RStBl 1932, 75) und des BFH (Urteil vom 30. April 1952 IV 285/51 U, BFHE 56, 415, BStBl III 1952, 162) für die Zeit seit Inkrafttreten des § 237 AO i. d. F. des § 162 Nr. 40 FGO nicht aufrechterhalten bleiben. Sie beruht auf einem Verständnis des Gesetzesvollzuges, das mit heute allgemein anerkannten Auslegungsregeln nicht vereinbar ist (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Mai 1952 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299, 312; vom 17. Mai 1960 2 BvL 11/59, 11/60, BVerfGE 11, 126, 129).
d) Die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (§ 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes) ist nicht geboten. Der Senat weicht mit der vorstehenden Rechtsauffassung nicht von entscheidungserheblichen Ausführungen anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes zu gleichen Rechtsfragen ab (vgl. Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3. März 1956 V BLw 3/56, Der Deutsche Rechtspfleger 1956, 159; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. November 1966 VI C 99.64, Verwaltungs-Rechtsprechung Bd. 18 Nr. 218).
3. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung an das FG beruhen auf § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO. ...
Fundstellen
Haufe-Index 74843 |
BStBl II 1984, 84 |
BFHE 1984, 218 |