Leitsatz (amtlich)
Hat der Steuerpflichtige im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion Klage beim Finanzgericht erhoben, so ist - während dieses Verfahren schwebt - ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung unzulässig. Der erkennende Senat verbleibt bei der vom Großen Senat des Bundesfinanzhofs im Beschluß vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67 (BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199) vertretenen Rechtsauffassung.
Normenkette
FGO § 40 Abs. 1, § 69 Abs. 3; AO § 230 Abs. 1, § 242 Abs. 2
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) hat aufgrund einer Steuerfahndungsprüfung bei der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Jahre 1968 bis 1973 Körperschaftsteuer- und Umsatzsteuerbescheide, außerdem einen Bescheid über den Einheitswert des gewerblichen Betriebs zum 1. Januar 1969 und zum 1. Januar 1972, verbunden mit einem Vermögensteuerbescheid für die Jahre 1969 bis 1972 erlassen. Die Klägerin hat gegen alle Bescheide Einsprüche eingelegt, über die zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorentscheidung noch nicht entschieden war. Außerdem hatte die Klägerin beim FA die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide beantragt. Das FA war nur bereit, eine Aussetzung gegen Sicherheitsleistung zu gewähren, und hat, da die Klägerin auf einer Aussetzung ohne Sicherheitsleistung bestand, die Aussetzungsanträge abgelehnt. Die Beschwerde der Klägerin hiergegen blieb erfolglos. Die Klägerin erhob Klage beim FG, mit der das FA zur Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung verpflichtet werden sollte. Die Klägerin war der Meinung, die Rechtmäßigkeit der gegen sie erlassenen Bescheide sei ernstlich zweifelhaft.
Nach Eingang der Klage hat der Vorsitzende des Senats beim FG die Klägerin darauf hinweisen lassen, daß wegen der angespannten Arbeitslage des Gerichts nicht mit einer alsbaldigen Entscheidung über die Klage gerechnet werden könne und deshalb anheimgestellt werde, anstelle der Klage Anträge nach § 69 Abs. 3 FGO zu stellen. Die Klägerin hat daraufhin - unter Aufrechterhaltung ihrer Klage - entsprechende Anträge gestellt. Das FG hat mit Beschluß die Vollziehung ausgesetzt, hinsichtlich der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer jedoch nur gegen Sicherheitsleistung.
Die Verpflichtungsklage der Klägerin hat das FG, abgesehen vom Kostenpunkt der Beschwerdeentscheidung, als unzulässig abgewiesen. Mit dem Beschluß des BFH vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67 (BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199) war das FG der Auffassung, daß eine nach Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörden beim FG erhobene Verpflichtungsklage neben einem Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO nicht zulässig sei. Entgegen der Ansicht des Großen Senats des BFH meinte das FG jedoch, daß nicht ohne weiteres der früher eingelegte Rechtsbehelf den späteren unzulässig mache, sondern daß der Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage ausschließe. Zur Begründung führte das FG u. a. aus: Die Auffassung des Großen Senats des BFH würde zur Folge haben, daß in einem Fall, in dem der betroffene Bürger - insbesondere aufgrund der einer Beschwerdeentscheidung beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung - zunächst eine Klage erhoben habe, nicht mehr zulässigerweise einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellen könne, es sei denn, daß er die Klage zurücknehme. Der Bürger wäre damit gerade von demjenigen Rechtsbehelf abgeschnitten, der für die Gewährung des erstrebten vorläufigen Rechtsschutzes speziell geschaffen worden sei und der vielfach überhaupt die einzige Möglichkeit mit sich bringe, diesen Rechtsschutz rechtzeitig zu erhalten. Ein solches Ergebnis lasse sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung entnehmen.
Mit ihrer Revision tritt die Klägerin der Auffassung des FG entgegen. Sie folgt dem Großen Senat des BFH in der Ansicht, daß die zunächst erhobene Verpflichtungsklage die Zulässigkeit des später nach § 69 Abs. 3 FGO gestellten Antrags ausschließe. Ferner macht die Klägerin Ausführungen zur sachlichen Begründetheit ihrer Klage.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und der Klage stattzugeben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Hinsichtlich des Einheitswerts des Betriebsvermögens und der Vermögensteuer ist die Revision mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
Das FG hat die Vollziehung dieser Bescheide ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt. Die Klägerin hat gleichwohl ihren im Verfahren vor dem FG gestellten Antrag nicht eingeschränkt, aber auch nicht dargetan, inwiefern sie sich insoweit noch beschwert fühlt.
II. Hinsichtlich der Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer führt die Revision zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Der erkennende Senat teilt die Auffassung des FG, daß die nach Ablehnung einer Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörden beim FG erhobene Verpflichtungsklage (§ 40 Abs. 1 FGO) und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Gericht der Hauptsache nach § 69 Abs. 3 FGO dem Steuerpflichtigen wahlweise zustehen. Diese Rechtsauffassung stimmt überein mit der Ansicht des Großen Senats des BFH im Beschluß GrS 4/67.
2. Dagegen vermag der erkennende Senat dem FG darin nicht zuzustimmen, daß ein Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO, der nach Anhängigkeit einer auf die Aussetzung der Vollziehung gerichteten Verpflichtungsklage beim FG gestellt wird, die Verpflichtungsklage unzulässig mache.
a) Für die Ansicht des FG, daß ein Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO Vorrang vor der auf das gleiche Ziel gerichteten Verpflichtungsklage habe, kann dem Gesetz nichts entnommen werden. Beide Verfahren sind unterschiedlich ausgestaltet und bringen dem Steuerpflichtigen sowohl Vor- wie Nachteile. Das Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO wird in der Regel zu einer schnelleren Entscheidung des Gerichts führen als das Urteilsverfahren. Es ermöglicht auch eine abschließende Entscheidung des FG, während das Verfahren über die Verpflichtungsklage mit einem Bescheidungsurteil nach § 101 FGO enden kann. Andererseits kann der Beschluß des FG nach § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO jederzeit geändert und aufgehoben werden, während das auf die Verpflichtungsklage ergangene Urteil gemäß § 110 Abs. 1 FGO in Rechtskraft erwächst. Über den Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO kann das FG ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 1 Satz 2 FGO), während im Urteilsverfahren der Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, in einer mündlichen Verhandlung unter Beteiligung der ehrenamtlichen Finanzrichter sein Anliegen vorzutragen (§ 5 Abs. 3, § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO). Auch was die Einlegung von Rechtsmitteln anbelangt, kann die Stellung des Steuerpflichtigen, wie der Streitfall zeigt, im Klageverfahren günstiger sein. Gegen Beschlüsse des FG nach § 69 Abs. 3 FGO steht dem Beteiligten die Beschwerde nur zu, wenn sie in dem Beschluß zugelassen worden ist (Art. 1 Nr. 3 BFH-EntlastG vom 8. Juli 1975; BGBl I, 1861, BStBl I, 932). Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Beschwerde ist nicht statthaft (BFH-Beschlüsse vom 22. Januar 1976 V B 91/75, BFHE 117, 531, BStBl II 1976, 241, und vom 23. Januar 1976 VI B 144/75, BFHE 117, 440, BStBl II 1976, 120). Dagegen ist gegen die Entscheidung des FG im Urteilsverfahren unter den Voraussetzungen des Art. 1 Nr. 5 BFH-EntlastG die Revision gegeben. Durch sie erreicht der Steuerpflichtige, daß sich der erkennende Senat des BFH in voller Besetzung mit seinem Aussetzungsbegehren zu befassen hat (§ 121, § 90 Abs. 1 Satz 1, § 10 Abs. 3 FGO).
b) Fehlt es danach an der Möglichkeit, einem der auf die Aussetzung der Vollziehung abzielenden gerichtlichen Rechtsbehelfe aus sachlichen Gründen Vorrang einzuräumen, so ist es - unabhängig von der Frage, ob dies schon der Grundsatz der Rechtshängigkeit (§ 66 FGO) gebietet - sachgerecht, dasjenige Verfahren als vorrangig anzusehen, das zuerst beim FG anhängig wird. Damit wird für die Frage der Zulässigkeit an die Disposition des Steuerpflichtigen selbst angeknüpft, der wählen kann, welchem der Verfahren er den Vorzug geben will. Für diese Rechtsauffassung spricht auch eine andere Erwägung. Macht der Steuerpflichtige beide Verfahren nacheinander beim FG anhängig, so ist einer der Rechtsbehelfe unzulässig. Der Steuerpflichtige muß- wenn er die Abweisung eines der Rechtsbehelfe mangels Rechtsschutzbedürfnisses vermeiden will - einen Rechtsbehelf zurücknehmen. Diese Folge ergibt sich nach der Rechtsauffassung des Großen Senats des BFH ebenso wie nach derjenigen der Vorinstanz. Es bleibt sich für den Steuerpflichtigen im wesentlichen gleich, ob er - nach der Rechtsprechung des BFH - seine Verpflichtungsklage zurücknehmen muß, um einen zulässigen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellen zu können, oder ob er - wie das FG meint - nach Stellung des Antrags nach § 69 Abs. 3 FGO seine Verpflichtungsklage deshalb zurücknehmen muß, weil er andernfalls ihre Abweisung als unzulässig zu befürchten hat.
3. Durch die Entscheidung des FG im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO ist das Rechtsschutzbedürfnis für die Verpflichtungsklage der Klägerin nicht entfallen. Das folgt im Streitfall schon daraus, daß das FG dem Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung der Körperschaftsteuer- und Umsatzsteuerbescheide ohne Sicherheitsleistung nicht stattgegeben hat. In sachlicher Hinsicht kann über das Begehren der Klägerin im Revisionsverfahren nicht entschieden werden, weil das FG bisher in diesem Verfahren keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, die dem Revisionsgericht eine abschließende Entscheidung ermöglichen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Die Sache geht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Verpflichtungsklage an das FG zurück.
Fundstellen
Haufe-Index 72387 |
BStBl II 1977, 647 |
BFHE 1978, 222 |