Leitsatz (amtlich)
1. "Hinterzogen" im Sinne des § 144 AO können nur solche Beträge sein, die Gegenstand einer den steuerstrafrechtlichen Hinterziehungstatbestand erfüllenden Handlung waren.
2. Kann die Steuerbehörde eine Abgabennachforderung nur noch darauf stützen, daß es sich um hinterzogene Beträge im Sinne des § 144 AO handelt, so gilt sowohl im Besteuerungsverfahren der Behörde selbst als auch im Klageverfahren des Finanzgerichts für die im Rahmen der amtlichen Ermittlungspflicht nach § 204 AO bzw. § 76 FGO zu treffende Feststellung, daß die Beträge Gegenstand einer Steuerhinterziehung waren, der strafverfahrensrechtliche Grundsatz in dubio pro reo.
Normenkette
AO §§ 144, 204; FGO § 76
Tatbestand
Der Kläger führte in den Jahren 1955 bis 1959 Teppiche ein und meldete dem ZA als Zollwert Preise an, die den Marktpreisen nicht entsprachen. Deshalb richtete das HZA jeweils an ihn und an seine Firma am 1. und 10. Dezember 1959 sowie am 1. Februar 1960 vorläufige Bescheide über zu wenig entrichtete Eingangsabgaben. Am 4. Juli 1962 erteilte das HZA dem Kläger persönlich einen endgültigen Steuerbescheid über 343 653 DM. Im Begleitschreiben vom gleichen Tage wie auch im Bescheid selbst erklärte das HZA, die dem Kläger erteilten vorläufigen Steuerbescheide würden durch diesen endgültigen Steuerbescheid ersetzt. Der Kläger erhob am 3. August 1962 gegen den endgültigen Bescheid Einspruch und beantragte am 27. September 1962, die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf bis zum rechtskräftigen Abschluß des gegen ihn schwebenden Strafverfahrens auszusetzen. Diesem Antrag gab das HZA am 14. November 1962 statt. Am 4. Februar 1965 verurteilte das Amtsgericht den Kläger wegen gewerbsmäßiger Abgabenhinterziehung im Rückfall und legte dieser Entscheidung einen hinterzogenen Betrag von 237 387 DM zugrunde. Nachdem das Strafurteil am 9. Januar 1967 rechtskräftig geworden war, erklärte das HZA dem Kläger im März 1967, daß es nunmehr das Besteuerungsverfahren fortsetzen werde. Am 25. September 1967 erließ es eine an den Kläger gerichtete Einspruchsentscheidung, in deren Rubrum es davon ausging, daß die dem Kläger erteilten und angefochtenen vorläufigen Bescheide vom 1. und 10. Dezember 1959 und vom 1. Februar 1960 noch gültig seien. Durch die Einspruchsentscheidung setzte das HZA seine Nachforderung auf 326 678 DM herab. Die auf eine weitere Herabsetzung auf 237 387 DM gerichtete Klage vom 31. Oktober 1967 wies das FG am 30. August 1969 mit folgender Begründung ab:
Das Amtsgericht habe unter Ausschöpfung und Würdigung aller zur Verfügung stehenden Beweismittel dargelegt, aus welchen Gründen es zur Feststellung der Steuerhinterziehung gekommen sei. Diese Gründe halte das FG für zutreffend und überzeugend. Es mache sich deshalb die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts zu eigen. Ihnen zufolge habe der Kläger im Einfuhrzeitraum durch Anmeldung falscher Rechnungspreise zu seinem eigenen Vorteil vorsätzlich Steuereinnahmen fortlaufend verkürzt. Alle auf diese Weise vom Kläger im Einfuhrzeitraum eingesparten Abgabenbeträge seien im Sinne des § 144 Satz 1 AO a. F. als hinterzogen anzusehen. Für jeden der zu wenig entrichteten Abgabenbeträge gelte daher die zehnjährige Verjährungsfrist. Es verstoße nicht gegen § 144 Satz 1 AO a. F., wenn die mit größter Wahrscheinlichkeit richtige Höhe der hinterzogenen Beträge durch Schätzung festgestellt werde.
Gegen die Höhe der durch das HZA als hinterzogen ermittelten Beträge bestünden keine Bedenken. Sie ergebe sich beim Vergleich der tatsächlich gezahlten Abgaben mit der gesetzlichen Höhe der Steuerschuld. Auf die Feststellungen des Amtsgerichts könne hierfür nicht zurückgegriffen werden. Denn das Amtsgericht habe auf eine möglichst exakte Ermittlung der hinterzogenen Beträge bewußt verzichtet. Im Besteuerungsverfahren müßten jedoch auch hinterzogene Beträge so genau wie möglich bestimmt werden. Der Grundsatz in dubio pro reo sei zwar auch im Steuerprozeß anwendbar, gelte jedoch nur, wenn zu prüfen sei, ob eine Steuerhinterziehung im steuerstrafrechtlichen Sinne vorliege (Urteil des BFH II 7/61 S vom 9. April 1964, BFH 79, 241, BStBl III 1964, 318). Das HZA habe unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren den Einstandspreis des Klägers geschätzt, der als Normalpreis der Abgabenberechnung zugrunde zu legen sei. Es sei von den Verkaufspreisen des Klägers ausgegangen, die anhand der tatsächlich aufgeklärten Geschäfte ermittelt worden seien. Die Gewinnaufschläge aus diesen Geschäften habe es der Errechnung der Verkaufspreise aller Teppiche zugrunde gelegt. Sodann habe es für alle Teppiche die Einstandspreise errechnet. Die Gegenüberstellung dieser Einstandspreise und der Einstandspreise, die den angemeldeten Rechnungspreisen entsprochen hätten, habe den Betrag ergeben, um den der Wert der Teppiche zu niedrig angemeldet worden sei. Dieser Unterschiedsbetrag sei nach einer gewissen Bereinigung vom HZA als Besteuerungsgrundlage gemäß § 217 AO zugrunde gelegt worden. Die Ermittlung der zu gering angemeldeten Beträge sei danach schlüssig und nicht zu beanstanden.
Der Kläger rügt mit der Revision die Verletzung des § 144 Abs. 1 AO a. F. und der §§ 143 bis 147 AO a. F. und n. F. Er macht geltend:
Das HZA habe am 1. und 10. Dezember 1959 sowie am 1. Februar 1960 vorläufige Steuerbescheide gegen die Firma des Klägers und gleichzeitig Haftungsbescheide gegen den Kläger selbst erlassen. Die Steuerbescheide habe es später zurückgenommen. Die Einspruchsentscheidung habe ersichtlich nur die Haftungsbescheide zum Gegenstand gehabt. Da diese gegen den Kläger nicht hätten ergehen dürfen, sei das ganze Verfahren unzulässig; es fehle an einem wirksamen Leistungsgebot. Selbst wenn gegen den Kläger wirksame Haftungsbescheide erlassen wären, sei zu berücksichtigen, daß von der Einlegung der Einsprüche bis zur Einspruchsentscheidung für die vorläufigen Bescheide fast acht Jahre und für den endgültigen Bescheid über fünf Jahre verstrichen seien. Nach den Grundsätzen des BFH-Urteils VI R 188/70 vom 6. Mai 1971 (BFH 102, 449, BStBl II 1971, 754) seien daher die Abgabenforderungen trotz des anhängigen Einspruchsverfahrens verjährt. Im übrigen könnten entgegen der früheren Rechtsprechung des BFH auf das Einspruchsverfahren die Grundsätze des § 211 BGB nicht angewandt werden. Das ergebe sich unter anderem als Umkehrschluß aus § 146a Abs. 2 AO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOÄG) vom 15. September 1965 (BGBl I 1965, 1356). Nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 AOÄG hätten zwar nach altem Recht vorgenommene Unterbrechungshandlungen ihre Wirksamkeit behalten, nicht aber über den 1. Januar 1966 hinaus. Nach der ersten Unterbrechungshandlung sei gemäß einem vorgelegten Gutachten des Prof. Dr. Tipke nicht erneut eine zehnjährige, sondern nur eine einjährige Verjährungsfrist angelaufen.
Das FG habe § 144 AO verkannt und sich selbst widersprochen, indem es zunächst erklärt habe, es mache sich die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts zu eigen, dann aber zum Ausdruck gebracht habe, daß es sich in bezug auf die Höhe der verkürzten Steuern nicht den Feststellungen des Amtsgerichts, sondern den Ermittlungen des HZA anschließe. An die Feststellungen des Amtsgerichts, die sich auch auf die Höhe der verkürzten Steuern bezögen, sei das FG aus rechtlichen Gründen gebunden gewesen. Es habe jedenfalls verkannt, daß im Besteuerungsverfahren für die Feststellung einer Steuerhinterziehung die gleichen Beweisgrundsätze anzuwenden seien wie im Strafverfahren, insbesondere der Grundsatz in dubio pro reo. Zwar dürften auch im Strafverfahren die verkürzten Beträge geschätzt werden, jedoch nicht nach den Grundsätzen des § 217 AO. Schließlich habe das FG selbst auch keine konkreten Feststellungen zur Höhe der nach seiner Ansicht schuldhaft verkürzten Steuern getroffen, sondern sich lediglich das dem Steuerbescheid zugrunde liegende Ergebnis der Zollfahndung zu eigen gemacht.
Das FG habe die §§ 143 bis 147 AO a. F. und n. F. dadurch verletzt, daß es den Steuerbescheid auch in bezug auf den bisher unangefochtenen Betrag von 237 387 DM bestätigte. Obwohl der Kläger insofern eine Aufhebung des Bescheides nicht beantragt habe, sei das FG verpflichtet gewesen, den Bescheid wegen Verjährung von Amts wegen aufzuheben (BFH-Beschluß Gr. S. 3/66 vom 17. Juli 1967, BFH 91, 213, BStBl II 1968, 285). Die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, daß das Gericht bei seiner Entscheidung nicht über das Klagebegehren hinausgehen darf, gelte nicht, wenn es um die Frage gehe, ob und inwieweit der Abgabenanspruch verjährt sei. Denn sowohl nach altem wie auch nach neuem Recht sei die Frage der Verjährung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.
Der Kläger hat beantragt, das FG-Urteil und den Steuerbescheid einschließlich der Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das HZA hat beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, soweit mit ihr die Aufhebung des angefochtenen Steuerbescheides über den Betrag von 89 291 DM hinaus begehrt wird, die Revision im übrigen als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision kann nur zum Teil Erfolg haben.
Gegenstand der vom Kläger nach der Einspruchsentscheidung vom 25. September 1967 erhobenen, auf eine weitere herabsetzung der Nachforderung gerichteten Klage war gemäß § 44 Abs. 2 FGO der endgültige Steuerbescheid vom 4. Juli 1962 in der Gestalt, die er durch die Einspruchsentscheidung gefunden hatte. Dessen war sich der Kläger selbst bewußt. Denn sein Klageantrag bezog sich nur auf die Einspruchsentscheidung und auf den endgültigen Steuerbescheid vom 4. Juli 1962. Da das HZA im endgültigen Steuerbescheid wie auch im Begleitschreiben erklärt hatte, durch ihn würden die vorläufigen Bescheide ersetzt, waren diese zur Zeit der Einspruchsentscheidung rechtlich nicht mehr vorhanden. Es war daher unerheblich, daß das HZA in der Einspruchsentscheidung irrtümlich davon ausging, daß neben dem Einspruch gegen den endgültigen Bescheid auch noch die Einsprüche gegen die vorläufigen Bescheide anhängig seien. Für das Verfahren vor dem FG kam es allein darauf an, daß das HZA durch den endgültigen Steuerbescheid vom Kläger 343 653 DM gefordert und diesen Betrag in der Einspruchsentscheidung auf 326 678 DM herabgesetzt hatte.
Die Revision ist insoweit unzulässig, als mit ihr begehrt wird, den endgültigen Steuerbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung über den Betrag von 89 291 DM hinaus aufzuheben. Denn insofern ist der Kläger durch das seine Klage abweisende FG-Urteil rechtlich nicht beschwert. Da der Kläger vor dem FG den Steuerbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung mit dem Antrag angefochten hatte, die zuletzt auf 326 678 DM festgesetzte Abgabennachforderung auf den Betrag von 237 387 DM herabzusetzen, der dem Strafurteil zugrunde lag, konnte das gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO an diesen Antrag gebundene FG nur darüber entscheiden, ob der Steuerbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung in bezug auf den umstrittenen Unterschiedsbetrag von 89 291 DM rechtmäßig war. Soweit die Revision rügt, das FG habe den Steuerbescheid in bezug auf den bisher unangefochtenen Betrag von 237 387 DM zu Unrecht bestätigt, übersieht sie, daß das FG angesichts des eindeutigen Klageantrags gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO an einer Herabsetzung des Nachforderungsbetrags unter den angefochtenen Betrag rechtlich gehindert war. Die im § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO enthaltene Bindung des FG an das Klagebegehren ist durch den BFH-Beschluß Gr. S. 3/66 vom 17. Juli 1967 (a. a. O.) nicht in Zweifel gezogen worden. In dem durch diesen Beschluß entschiedenen Fall ging es nur um die Frage, ob der BFH zur Prüfung der erst in der Revision geltend gemachten Verjährung des Steueranspruchs die in den Akten befindlichen Unterlagen selbst würdigen darf, wenn das FG in seinem Urteil zur Verjährungsfrage nicht ausdrücklich Stellung genommen hat. Da der Steuerpflichtige vor dem FG nur eine Berufung auf die Verjährung unterlassen, nicht aber das mit der Klage verfolgte Ziel beschränkt hatte, bestand für den BFH kein Anlaß, sich auch mit der Bindung des FG an das Klagebegehren zu befassen.
Die Auffassung des Klägers, die im § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO enthaltene Bindung des Gerichts an den Antrag entfalle, wenn es um die Frage gehe, ob und inwieweit der Abgabenanspruch verjährt sei, findet im Gestz keine Stütze. Der Kläger übersieht die durch die FGO eingetretene grundlegende Änderung der Aufgabe des FG im Verhältnis zur Verwaltung. Während nach früherem Recht das Verfahren vor dem FG als Fortsetzung des von der Verwaltungsbehörde betriebenen Besteuerungsverfahrens gestaltet war und demgemäß § 243 Abs. 2 und 3 AO a. F. bestimmte, daß das Gericht an die Anträge des Rechtsmittelführers nicht gebunden ist und sogar die angefochtetene Entscheidung zum Nachteil des Rechtsmittelführers ändern kann, sieht die FGO dem Grundsatz der Gewaltenteilung entsprechend die Aufgabe des Gerichts in der Gewährung von Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung. Die nunmehr auch im funktionellen Bereich vollzogene Trennung der Finanzgerichte von den Finanzbehörden findet gerade in der Vorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO ihren Ausdruck. Das FG darf demnach dem Steuerpflichtigen gegenüber einen von der Finanzbehörde erlassenen Verwaltungsakt Rechtsschutz nur insoweit gewähren, als er diesen selbst gewollt hat.
Soweit jedoch die Revision rügt, das FG habe den Antrag auf Herabsetzung der Steuernachforderung auf 237 387 DM zu Unrecht abgelehnt, fürt sie zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Bei der Prüfung der Frage, ob der Steuerbescheid in bezug auf den 237 387 DM übersteigenden Betrag von 89 291 DM rechtmäßig war, konnte das FG zwar davon ausgehen, daß im steuerlichen Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren die Schätzungsvorschrift des § 217 AO auch dann anwendbar ist, wenn Steuern hinterzogen worden sind. Es mußte jedoch bedenken, daß die in § 217 AO vorgesehene Schätzung die Besteuerungsgrundlagen, nicht etwa die Steuerbeträge zum Gegenstand hat (vgl. Paulick in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1.-6. Aufl., II, § 217 AO, Anm. 18) und daß sie deshalb erst recht nicht für die Entscheidung der Frage in Betracht kommen kann, welche Steuerbeträge im Sinne des § 144 AO a. F. und n. F. "hinterzogen" sind und infolgedessen erst nach zehn Jahren verjähren. "Hinterzogen" im Sinne der genannten Vorschrift sind nur solche Beträge, die Gegenstand einer Steuerhinterziehung waren, nämlich gemäß dem Straftatbestand des § 396 AO a. F. bzw. des § 392 AO n. F. vorsätzlich verkürzt wurden.
Die Finanzbehörde kann also in einem auf die Ermittlung und Festsetzung hinterzogenener Steuerbeträge gerichteten Verfahren die Besteuerungsgrundlagen unter den Voraussetzungen des § 217 AO schätzen und danach die Steuerbeträge berechnen. Wenn die für die betreffende Steuerart in Betracht kommende gewöhnliche Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist, kann die Steuerbehörde diese Steuerbeträge nachfordern, ohne geltend machen zu müssen, daß sie hinterzogen worden sind. Hier kann es von vornherein nicht auf die Frage ankommen, wie und mit welchem Ergebnis in einem Strafverfahren die Besteuerungsgrundlagen geschätzt und die Höhe der hinterzogenen Beträge ermittelt worden sind.
Ist aber die gewöhnliche Verjährungsfrist bereits abgelaufen, können also Steuerbeträge nur noch deshalb nachgefordert werden, weil sie hinterzogen wurden und aus diesem Grunde bei ihnen die Verjährungsfrist zehn Jahre beträgt, dann bedarf es auch im Besteuerungsverfahren der Feststellung, daß in bezug auf die nachgeforderten Beträge der gesetzliche Straftatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt worden ist. Ob das der Fall ist, kann die Steuerbehörde allerdings ohne Rücksicht darauf prüfen, ob und mit welchem Ergebnis ein Strafverfahren stattgefunden hat. Dasselbe Recht steht im Finanzrechtsstreit dem FG zu (vgl. BFH-Urteil II 7/61 S vom 9. April 1964 (a. a. O.)). Die Steuerbehörde und das FG müssen jedoch bei ihrer Entscheidung über die Verwirklichung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung die Grundsätze des Strafverfahrensrechts beachten, insbesondere den Grundsatz in dubio pro reo. Im Urteil II 7/61 S vom 9. April 1964 (a. a. O.) hat der BFH die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes im Steuerrecht besonders hervorgehoben für die strafrechtliche Verschuldensfrage, sie damit aber nicht auf diese Frage begrenzt. Denn er hat anschließend allgemein ausgesprochen, daß dieser Grundsatz im Steuerrecht Anwendung finden muß, wenn als Vorfrage der Dauer der Verjährungsfrist zu prüfen ist, ob ein nichtentrichteter Steuerbetrag im steuerstrafrechtlichen Sinne hinterzogen ist oder nicht. Mit der Meinung, der Grundsatz in dubio pro reo gelte nur, wenn zu prüfen sei, ob eine Steuerhinterziehung im steuerstrafrechtlichen Sinne vorliege, übersieht das FG, daß "hinterzogen" im Sinne des § 144 AO nur solche Beträge sein können, die Gegenstand einer den steuerstrafrechtlichen Hinterziehungstatbestand erfüllenden Handlung waren. Kann also die Steuerbehörde eine Abgabennachforderung nur noch darauf stützen, daß es sich um hinterzogene Beträge im Sinne des § 144 AO handelt, so gilt sowohl im Besteuerungsverfahren der Behörde selbst als auch im Klageverfahren des FG für die im Rahmen der amtlichen Ermittlungspflicht nach § 204 AO bzw. § 76 FGO zu treffende Feststellung, daß die Beträge Gegenstand einer Steuerhinterziehung waren, der strafverfahrensrechtliche Grundsatz in dubio pro reo.
Aus den dargelegten Gründen irrt das FG mit der Meinung, § 217 AO gestatte, auch die mit größter Wahrscheinlichkeit richtige Höhe der hinterzogenen Beträge zu schätzen. § 217 AO gestattet zwar auch im vorliegenden Falle die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen. Inwieweit aber die sich aus den Besteuerungsgrundlagen ergebenden Steuerbeträge Gegenstand einer den Straftatbestand der Steuerhinterziehung erfüllenden Handlung waren, hätte das FG nach dem Grundsatz in dubio pro reo ermitteln müssen. Da bereits ein rechtskräftiges Strafurteil vorlag, das von einem hinterzogenen Abgabenbetrag von 237 387 DM ausgeht, hätte es für das FG wegen dessen eigener Verpflichtung, strafverfahrensrechtliche Grundsätze anzuwenden, nahegelegen, diesen bereits nach solchen Grundsätzen ermittelten Betrag auch in seiner Entscheidung zu übernehmen. Da die Vorentscheidung insoweit auf der unzutreffenden Rechtsauffassung des FG beruht, war sie in diesem Umfange aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif, da es einer anderweitigen Feststellung des hinterzogenen Betrags bedarf; sie war daher an das FG zurückzuverweisen.
Angesichts des rechtskräftigen Strafurteils kann allerdigs eine eigenständige Feststellung des hinterzogenen Betrags durch das FG nur noch in Betracht kommen, wenn und soweit Anhaltspunkte dafür vorliegen sollten, daß das Strafverfahren in bezug auf den hinterzogenen Betrag zu einem falschen Ergebnis geführt hat. Das FG wird nunmehr prüfen müssen, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt.
Hinsichtlich der Verjährung gilt folgendes.
Für die vom Kläger durch Anmeldung falscher Zollwerte für die Teppiche in den Jahren 1955 bis 1959 fortgesetzt hinterzogenen Eingangsabgabenbeträge beträgt die Verjährungsfrist gemäß § 144 AO zehn Jahre. Die Verjährung wurde bereits durch die vorläufigen Bescheide vom Dezember 1959 und Februar 1960 gemäß § 147 Abs. 1 AO a. F. unterbrochen. Da der Kläger gegen diese Bescheide und gegen den sie ersetzenden endgültigen Steuerbescheid vom Juli 1962 jeweils Einspruch erhob, dauert die Unterbrechung bis zur rechtskräftigen Erledigung des Steuerrechtsstreits fort. Der Senat hält an der im Urteil V z 72/55 U vom 31. Oktober 1957 (BFH 65, 576, BStBl III 1957, 454) vertretenen Auffassung fest, daß der Erlaß eines Steuerbescheides als erste maßgebliche Verfolgung des Steueranspruchs der Klage im bürgerlichen Recht gleichzustellen ist und deshalb der Grundgedanke des § 211 Abs. 1 BGB auch hier eingreift. Die am 1. Januar 1966 in Kraft getretene Änderung der Verjährungsvorschriften durch das AOÄG vom 15. September 1965 hat auf den vorliegenden Fall keinen Einfluß, da nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 AOÄG die nach altem Recht vorgenommenen Unterbrechungshandlungen wirksam bleiben. Da diese Bestimmung erst mit dem 1. Januar 1966 in Kraft getreten ist, kann sie nur dahin verstanden werden, daß sie die bis dahin ohnehin gesetzlich begründete Wirksamkeit bisheriger Unterbrechungshandlungen über den 1. Januar 1966 hinaus fortdauern lassen will. Auf die Frage, ob nach der ersten Unterbrechungshandlung bei hinterzogenen Steuern eine für nicht hinterzogene Steuern in Betracht kommende neue Frist anläuft, kommt es hier nicht an, da die durch den Erlaß der vorläufigen Bescheide eingetretene Unterbrechung selbst noch fortdauert. Aus dem Umstand, daß vom Erlaß der vorläufigen Bescheide und des endgültigen Bescheides bis zur Einspruchsentscheidung mehrere Jahre verstrichen sind, kann zugunsten des Klägers nichts hergeleitet werden, da dieser selbst die Aussetzung des Einspruchsverfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens vom HZA erbeten hatte und weil das HZA nach dem Abschluß des Strafverfahrens alsbald das Einspruchsverfahren fortgesetzt und abgeschlossen hat. Wenn - wie hier - mit der Aussetzung des Einspruchsverfahrens lediglich das Ergebnis eines anderen Verfahrens abgewartet werden sollte, so kann darin kein Stillstand im Sinne des § 211 Abs. 2 BGB liegen. Die Ausführungen im BFH-Urteil IV R 188/70 vom 6. Mai 1971 (a. a. O.) über die Beendigung der Verjährungsunterbrechung durch Stillstand des Einspruchsverfahrens sind daher auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Fundstellen
BStBl II 1973, 68 |
BFHE 1973, 168 |