Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Ein Finanzgericht darf grundsätzlich über eine Berufung sachlich nur entscheiden, wenn es die Zulässigkeit des Rechtsmittels zuvor bejaht hat. Das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 572/56 U vom 30. Januar 1958 (BStBl 1958 III S. 352, Slg. Bd. 67 S. 207) steht dem nicht entgegen. Es gilt nur für Fälle, in denen ein Rechtsmittel eindeutig und offensichtlich sachlich unbegründet ist. Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt, wenn die Sachentscheidung schwierige Rechtsfragen betrifft, über die eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht vorliegt. In solchen Fällen darf das Finanzgericht die Zulässigkeit der Berufung nicht dahingestellt sein lassen.
Normenkette
EStG § 7e; AO § 252; FGO § 56
Tatbestand
Sachlich ist streitig, ob der Bfin., einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, Bewertungsfreiheit für ein Betriebsgebäude nach § 7 e EStG 1957/58 zu gewähren ist. Das Finanzamt lehnte das ab.
Die Bfin. hat die Berufungsfrist, wenn man den Eingangsstempel des Finanzamts vom 1. März 1963 zugrunde legt, um einen Tag überschritten. Das Finanzgericht wies die Berufung als sachlich unbegründet zurück. Es ließ unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 572/56 U vom 30. Januar 1958 (BStBl 1958 III S. 352, Slg. Bd. 67 S. 207) ausdrücklich dahingestellt, ob die Berufung nicht wegen Fristüberschreitung unzulässig sei. Es führte aus, es sei schwer festzustellen, weshalb die nach den Angaben des Vertreters der Bfin. am 25. Februar 1963 unterzeichnete und am folgenden Tage von einem Boten weiterbeförderte Berufungsschrift nicht am 26. oder 27. Februar 1963 beim Finanzamt eingegangen sei. Auch eine etwaige Nachsichtgewährung sei nicht einfach zu beurteilen. Dagegen lasse sich ohne besonderen Aufwand und mit Sicherheit feststellen, daß die Berufung sachlich nicht begründet sei. Da auch die Bfin. nur an der Entscheidung in der Sache selbst interessiert sei, rechtfertige es sich, die Rechtzeitigkeit der Berufung oder die Nachsichtgewährung dahingestellt sein zu lassen.
Entscheidungsgründe
Die Rb., mit der die Bfin. eine unrichtige Anwendung von § 7 e EStG rügt, muß aus prozessualen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung führen.
Das Finanzgericht durfte hier keine Sachentscheidung erlassen, ohne die Zulässigkeit der Berufung geprüft zu haben. Nach der Entscheidung IV 572/56 U (a. a. O.) kann zwar ein Gericht die Zulässigkeit des Rechtsmittels dahingestellt bleiben lassen, wenn die Prüfung der Zulässigkeit des Rechtsmittels unverhältnismäßig große Schwierigkeiten bereitet, das Rechtsmittel jedoch in der Sache selbst offensichtlich unbegründet ist. Diese Entscheidung betrifft Sonderfälle und setzt den allgemeinen prozessualen Grundsatz nicht außer Kraft, daß ein Gericht auf ein Rechtsmittel hin in die sachliche Prüfung eines Streitfalls erst eintreten kann, wenn es zuvor seine Zuständigkeit und die Zulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels geprüft und bejaht hat. Der Grundsatz der Prozeßökonomie und die überlegung, daß es den Beteiligten letzten Endes nur auf eine Sachentscheidung ankommt, mag es rechtfertigen, den prozessualen Gesichtspunkt der Rechtzeitigkeit (Zulässigkeit) des Rechtsmittels zurücktreten zu lassen, wenn diese Frage nur durch längere Ermittlungen und Beweiserhebungen geklärt werden könnte, während eindeutig und offensichtlich das Rechtsmittel in der Sache selbst unbegründet ist. In diesen Fällen würde es in der Tat eine sinnlose Mehrarbeit für das Gericht und die Prozeßbeteiligten bedeuten, der Frage der Rechtzeitigkeit (Zulässigkeit) des Rechtsmittels näher nachzugehen. Eine solche Sachbehandlung ist aber nicht zulässig, wenn die sachliche Entscheidung schwierige Rechtsfragen betrifft, über die noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. In solchen Fällen kann das Rechtsmittel nicht ohne weiteres eindeutig und offensichtlich als sachlich unbegründet bezeichnet werden. Hier müssen die Gerichte nach dem allgemeinen Grundsatz verfahren, daß einer sachlichen Prüfung der Streitfrage die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsmittels voranzugehen hat.
Das Finanzgericht hat hier geprüft, ob die Leistungen zwischen der Bfin., deren drei Gesellschafter im gleichen Verhältnis beteiligt waren, und einer anderen zweigliedrigen Gesellschaft bürgerlichen Rechts (Gesellschaft II), deren gleichbeteiligte Gesellschafter ebenfalls Gesellschafter der Bfin. waren, im "eigenen" gewerblichen Betrieb der Bfin. erbracht wurden. Ob hier nach § 7 e EStG begünstigte Leistungen im "eigenen gewerblichen Betrieb" - was das Finanzgericht verneint hat - vorlagen, kann wohl nur durch Heranziehung der geschlossenen Verträge und unter eingehender Darstellung und Würdigung des Sachverhalts beurteilt werden. Die Ausführungen des Finanzgerichts über die Art der Gebäudebenutzung scheinen auch Widersprüche zu enthalten. Denn das Finanzgericht führt eingangs seiner Entscheidung aus, die Bfin. befasse sich mit dem "Vertrieb" von Drucksachen, Verpackungsmitteln und Werbegaben. An anderer Stelle gibt es aus der Berufungsbegründung der Bfin. wieder, das Geschäftsgebäude diene "Fabrikationszwecken", die Gesellschaft II stelle in dem ihr zur Verfügung gestellten Atelier Entwürfe her, die in dem übrigen Geschäftshaus zur "Herstellung" von Werbematerial ausgewertet würden. Ob das Gebäude in ausreichendem Masse unmittelbar der Fertigung oder der Bearbeitung von Wirtschaftsgütern dient (ß 7 e EStG 1958 in Verbindung mit § 22 EStDV 1958), tritt dabei nicht klar hervor.
Jedenfalls war es unter diesen Umständen nicht angängig, daß das Finanzgericht von einer abschließenden Prüfung der Zulässigkeit der Berufung absah. Der Senat muß von einer sachlichen Prüfung gleichfalls absehen, ehe nicht die Zulässigkeit der Berufung feststeht.
Die Sache wird an das Finanzgericht zurückverwiesen, das zunächst die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 411438 |
BStBl III 1965, 68 |
BFHE 1965, 192 |
BFHE 81, 192 |