Leitsatz (amtlich)
Entscheidet das FG durch Urteil, daß der Kläger die Klage wirksam zurückgenommen hat, und macht der Kläger - wie schon vor dem FG - mit der Revision geltend, daß er die Erklärung über die Klagrücknahme unter psychischem Druck abgegeben habe, dem er sich wegen der vom Vorsitzenden Richter ausgehenden Autorität nicht habe entziehen können, so ist im Einzelfall zu entscheiden, ob der Kläger sich im Zeitpunkt der Klagrücknahme in einem die Prozeßfähigkeit ausschließenden Zustand der vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit befunden hat.
Normenkette
FGO § 58 Abs. 1; ZPO § 56 Abs. 1; BGB § 105 Abs. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhob gegen einen Beschluß des Zulassungsausschusses bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (OFD) mit dem sein Antrag auf Zulassung zur Steuerbevollmächtigtenprüfung abgelehnt worden war, beim FG Klage. Er machte geltend, daß ihm zwar nicht das Zeugnis der mittleren Reife erteilt worden sei und daß er auch nicht eine staatlich anerkannte Handelsschule oder eine gleichwertige Anstalt besucht habe, daß er aber die nach § 118 Abs. 2 Nr. 1 StBerG erforderlichen Kenntnisse in der Allgemeinbildung auf andere Weise erworben habe. Die Vorbildungsbemühungen müßten als Einheit angesehen werden. Er habe, bevor er 1969 die Kaufmannsgehilfenprüfung abgelegt habe, mindestens vier Jahre auf dem Gebiet des Steuerwesens hauptberuflich gearbeitet.
In der mündlichen Verhandlung vom 13. November 1973, zu der auch der später nicht vernommene Richter am FG K als Zeuge geladen war, wies der Vorsitzende im Rahmen der tatsächlichen und rechtlichen Erörterung den Kläger u. a. darauf hin, daß die Zulassungsvoraussetzungen des § 118 Abs. 2 Nr. 1 StBerG, auch soweit sich der Bewerber Kenntnisse durch Selbststudium angeeignet habe, durch beglaubigte Abschriften und Zeugnisse nachgewiesen werden müßten. Weder der Zulassungsausschuß noch das Gericht könnten eine Prüfung des erforderlichen Wissensstandes abnehmen. Ob die übrigen in § 118 a StBerG aufgeführten Zulassungsvoraussetzungen, insbesondere die in § 118 a Abs. 2 Nr. 3 StBerG vorgesehene hauptberufliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Steuerwesens, gegeben seien, brauche nicht mehr geprüft zu werden. Der Vorsitzende stellte dem Kläger anheim, die Erfolgsaussichten seiner Klage zu überprüfen und bot ihm an, die Verhandlung zu unterbrechen. Auf eine entsprechende Bitte des Klägers wurde die Verhandlung von 11.40 Uhr bis 11.50 Uhr unterbrochen. Danach erklärte der Kläger zu Protokoll, daß er die Klage zurücknehme. Das Gericht stellte daraufhin mit Beschluß das Verfahren gem. § 72 Abs. 2 FGO ein. Noch bevor dieser Beschluß durch Zustellung wirksam werden konnte, widerrief der Kläger schriftlich die Rücknahme der Klage und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Den gleichzeitig gestellten Antrag des Klägers, den Vorsitzenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wies das FG als unbegründet ab. Dieser Beschluß wurde rechtskräftig.
Den Widerruf der Klagrücknahme begründete der Kläger im wesentlichen damit, daß der Vorsitzende Richter Erfolgsaussichten der Klage im Rahmen der Erörterung verneint und ihn nicht darüber aufgeklärt habe, daß der BFH möglicherweise eine andere Auffassung vertreten könne. Der Hinweis des Vorsitzenden auf seine - des Klägers - Nachweispflicht bezüglich der Zulassungsvoraussetzungen sei unzutreffend, weil das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen habe. Er fühle sich durch das Verhalten des Vorsitzenden getäuscht. Die Klagrücknahme sei unter psychischem Druck zustande gekommen. Sie sei auf seine physische und psychische Verfassung zurückzuführen. Die Überlegungszeit von fünf Minuten sei sehr knapp gewesen. In dieser Zeit könne man insbesondere dann, wenn man - wie er - zum ersten Male vor Gericht auftrete, nicht immer eine richtige Entscheidung fällen. Dazu sei die hohe Autorität des Vorsitzenden gekommen, aus dessen Banne er sich nicht habe lösen können.
Der Kläger stellte den Antrag, den Zulassungsausschuß der OFD zu verpflichten, ihn zur nächsten Steuerbevollmächtigtenprüfung zuzulassen.
Die OFD hielt demgegenüber die Klage für rechtswirksam zurückgenommen.
Das FG entschied durch Urteil, daß die Klagrücknahme wirksam ist und wies die Klage ab. Es führte aus, die Klagrücknahme sei durch die Anfechtungserklärung nicht unwirksam geworden. Nach dem BFH-Urteil vom 9. Mai 1972 IV B 99/70 (BFHE 105, 246, BStBl II 1972, 543) habe bei nachträglicher Geltendmachung der Unwirksamkeit der Klagrücknahme das Gericht, bei dem das Verfahren beendet worden sei, zu entscheiden, ob die Rücknahme rechtsgültig sei. Treffe das zu, dann sei durch Urteil auszusprechen, daß die Klage zurückgenommen sei, andernfalls ist in der Hauptsache zu entscheiden.
Die Rücknahme der Klage könne als Prozeßhandlung in aller Regel nicht wie eine Willenserklärung angefochten werden. Die Finanzgerichtsordnung enthalte auch keine Vorschriften über die Anfechtbarkeit von Prozeßhandlungen. Gleichwohl sehe § 72 Abs. 2 Satz 3 FGO die nachträgliche Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Klagrücknahme vor. Es bestehe kein Anlaß, die in den Entscheidungen des BFH vom 8. Juli 1969 II R 108/66 (BFHE 96, 552, BStBl II 1969, 733) und vom 19. Januar 1972 II B 26/69 (BFHE 104, 291, BStBl II 1972, 352) aufgeworfene Frage zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen eine Klagrücknahme als unwirksam anzusehen sei; denn im Streitfalle sei sie selbst dann unwirksam, wenn man die Anfechtungsmöglichkeiten des BGB für entsprechend anwendbar halten würde. Es seien weder die Voraussetzungen einer Anfechtung wegen Irrtums (§ 119 Abs. 1 BGB) noch wegen Drohung oder arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) gegeben.
Es liege auch kein besonderer Ausnahmefall i. S. der Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 26. September 1968 IV 118/64, BFHE 93, 536, BStBl II 1969, 52, und Beschluß II B 26/69) vor. Der Kläger sei nicht durch eine unrichtige, grobfehlerhafte Belehrung, daß der Rechtsbehelf aussichtslos sei, zur Klagrücknahme bewogen worden. Die vom Vorsitzenden Richter dargelegte Rechtsauffassung sei, wie das FG näher ausführte, zutreffend gewesen.
Auf den Vortrag des Klägers, daß die Klagrücknahme unter psychischem Druck zustande gekommen sei und auf die weiteren in diesem Zusammenhange gemachten Ausführungen ist das FG nicht eingegangen.
Mit seiner gegen das FG-Urteil eingelegten Revision rügt der Kläger die Verletzung der Art. 3, 12, 103 GG, der §§ 118, 118 a StBerG, § 4 Abs. 4 DVStBerG und der §§ 76, 81 FGO. Er trägt vor, der Anspruch auf rechtliches Gehör sei dadurch verletzt worden, daß er in den mündlichen Verhandlungen vom 13. November 1973 und vom 21. März 1974 nicht zu Worte gekommen sei.
Der Kläger trägt erneut vor, daß bei der Klagrücknahme auf ihn psychischer und physischer Druck ausgeübt worden sei. Der Vorsitzende habe als Autoritätsperson in einer Umgebung (nämlich dem Gerichtssaal), die den von ihm ausgehenden Willen fördere, angekündigt, daß die Klage abgewiesen werden würde, wenn er - der Kläger - sie nicht zurücknehme. Diese Umstände hätten seine Bereitschaft, dem Willen des Vorsitzenden zu folgen (ähnlich wie bei einer Hypnose), gefördert. Er sei aus diesen Gründen im Zeitpunkt der Klagrücknahme prozeßunfähig gewesen.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung einen psychosomatischen Vorsorgetest vom 15. August 1973, ein ärztliches Attest vom 24. Mai 1975 und einen Bescheid des Versorgungsamtes B vom 1. April 1976 (25 % Minderung der Erwerbstätigkeit wegen deutlicher vegetativer Übererregbarkeit mit Kreislaufstörungen) vorgelegt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
1. festzustellen, daß die Klagrücknahme unwirksam ist,
2. die OFD zu verpflichten, ihn zur Steuerbevollmächtigtenprüfung zuzulassen, hilfsweise,
3. das Urteil des FG vom 21. März 1974 und den Beschluß der OFD vom 18. Juli 1973 aufzuheben, hilfsweise,
4. das Verfahren an das FG zurückzuverweisen.
Die OFD beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung an das FG.
Der Kläger hat bereits bei der Geltendmachung der Unwirksamkeit der von ihm erklärten Klagrücknahme u. a. darauf hingewiesen, daß die unter psychischem Druck zustande gekommene Klagrücknahme auf seine physische und psychische Verfassung zurückzuführen sei. Im Hinblick auf die hohe Autorität des Vorsitzenden, aus dessen Banne er sich nicht habe lösen können, sei er nicht in der Lage gewesen, innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Überlegungszeit eine richtige Entscheidung zu treffen. Er hat seinen dahingehenden Vortrag in der Revisionsinstanz in leicht abgewandelter Form wiederholt und ausdrücklich geltend gemacht, daß er im Zeitpunkt der Klagrücknahme prozeßunfähig gewesen sei.
Nach § 58 Abs. 1 FGO sind alle nach bürgerlichem Recht Geschäftsfähigen prozeßfähig. Die Prozeßfähigkeit ist in jeder Lage des Verfahrens, also auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen (§§ 58 Abs. 2 FGO i. V. m. § 56 Abs. 1 ZPO). Die Prozeßfähigkeit ist nicht nur Prozeßvoraussetzung im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Klage, sondern auch Prozeßhandlungsvoraussetzung i. d. S., daß die Wirkung jeder einzelnen Prozeßhandlung, wie etwa der Klagrücknahme, von der bestehenden Prozeßfähigkeit abhängig ist (so auch BFH-Urteil vom 3. Dezember 1971 III R 44/68, BFHE 105, 230, BStBl II 1972, 541).
Der Kläger gehört unbestritten nicht zu den Personen, die gemäß § 104 BGB geschäftsunfähig sind. Gemäß § 105 Abs. 1 BGB sind Willenserklärungen eines Geschäftsunfähigen nichtig. Die gleiche rechtliche Wirkung besteht hinsichtlich solcher Willenserklärungen, die im Zustande einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben werden (§ 105 Abs. 2 BGB). Liegen die Voraussetzungen dafür vor, daß der Kläger aufgrund der von ihm näher dargelegten Umstände sich in einem solchen, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande befunden hat, dann würde die von ihm erklärte Klagrücknahme als die Abgabe einer Willenserklärung beinhaltende Prozeßhandlung unwirksam sein. Der Kläger behauptet im Streitfalle, daß er sich in einem solchen Zustande befunden habe, weil der Vorsitzende auf ihn einen psychischen Druck ausgeübt habe, dem er sich nicht habe entziehen können.
Die Wirksamkeit der Klagrücknahme hängt deshalb davon ab, ob der Kläger bei Abgabe dieser prozessualen Willenserklärung prozeßunfähig war oder nicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Revisionsgericht bei der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen zu eigenen Tatsachenfeststellungen einschließlich der Erhebung von Beweisen berechtigt ist (so das BFH-Urteil III R 44/68). Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung in diesem Zusammenhang vorgelegten Unterlagen versetzen den Senat nicht in die Lage, über diese Frage zu entscheiden, zumal nur der psychosomatische Vorsorgetest vom 15. August 1973 annähernd aus der Zeit stammt, in der der Kläger seine Klage zurückgenommen hat. Immerhin lassen die Atteste bzw. der Bescheid erkennen, daß der Kläger im psychischen Bereich sehr anfällig ist und daß eine hochgradige nervliche Labilität mit rezidivierenden nervösen Erschöpfungszuständen sowie eine deutliche vegetative Übererregbarkeit mit Kreislaufstörungen besteht. Eine überaus starke Sensibilität des Klägers ist auch durch den persönlichen Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf den Senat gemacht hat, bestätigt worden.
Einen Grund dafür, die Frage der behaupteten Prozeßunfähigkeit nicht selbst zu entscheiden, sieht der Senat auch darin, daß der Kläger sich nicht erstmals in der Revisionsinstanz (wie im Urteil III R 44/68) auf seine von Anfang an bestehende Prozeßunfähigkeit berufen hat, sondern sie schon vorher, wenn auch nicht expressis verbis, vor dem FG geltend gemacht hat, und zwar nur für den Zeitpunkt der Klagrücknahme.
Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Dieses wird unter Zugrundelegung der vom Senat angestellten rechtlichen Beurteilung darüber zu entscheiden haben, ob die Klagrücknahme unwirksam ist, weil der Kläger prozeßunfähig war.
Fundstellen
Haufe-Index 72288 |
BStBl II 1977, 434 |
BFHE 1977, 385 |