Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
Leitsatz (NV)
§ 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der maßgebliche Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hat einen im Jahr 1981 geborenen Sohn, der sich seit dem 1. September 1999 in Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechaniker befand.
Mit Bescheid vom 21. Mai 2002 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn ab Januar 2002 auf, da dessen Einkünfte und Bezüge voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag im Jahr 2002 von 7 188 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2002 geltenden Fassung --EStG--) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Am 22. Dezember 2002 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld für das Jahr 2002. Die Familienkasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. März 2003 ab, weil die Klägerin nicht die von der Familienkasse angeforderte Erklärung zu den Einkünften und Bezügen des Sohnes sowie die Bescheide zur Berufausbildungsbeihilfe eingereicht hatte. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse zurück.
Die während des finanzgerichtlichen Verfahrens von der Familienkasse für das Jahr 2002 ermittelten Einkünfte und Bezüge des Sohnes in Höhe von 7 691 € überschreiten nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1 559,41 € (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) nicht den Jahresgrenzbetrag. Streitig blieb danach zwischen den Beteiligten nur noch, ob der Aufhebungsbescheid vom 21. Mai 2002 der Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2002 entgegensteht.
Das Finanzgericht (FG) gewährte unter Aufhebung des Bescheids vom 17. März 2003 der Klägerin für die Monate Januar 2002 bis Juli 2003 Kindergeld. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 1182 veröffentlicht. Das FG führte im Wesentlichen aus, der bestandskräftige Aufhebungsbescheid vom 21. Mai 2002 stehe einer Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Mai 2002 nicht entgegen, da der Bescheid insoweit nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben sei.
Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision sinngemäß die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Sie beantragt, die Vorentscheidung hinsichtlich des Kindergeldes für die Monate Januar bis Mai 2002 aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt hinsichtlich des Kindergeldes für die Monate Januar bis Mai 2002 zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und insoweit zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis Mai 2002 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum aufgehoben hat, bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Änderung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 188 € im Kalenderjahr (2002) hat.
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 21. Mai 2002 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2002 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2002 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da die Klägerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende Mai 2002 (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 21. Mai 2002 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Der Bescheid vom 21. Mai 2002 ist entgegen der Auffassung des FG und der Klägerin nicht nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben, weil § 70 Abs. 4 EStG keine Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheides ermöglicht, wenn der Jahresgrenzbetrag --wie im Streitfall-- allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).
Fundstellen
Haufe-Index 1766253 |
BFH/NV 2007, 1483 |