Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten
Leitsatz (NV)
1. Gemäß § 96 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Läßt das Gericht eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt oder geht es vom Nichtvorliegen dieser Tatsache aus, verstößt es unter Verletzung von § 96 Abs. 1 FGO gegen den klaren Inhalt der Akten.
2. Zur Frage des Bezugs von Bauleistungen "für das Unternehmen", wenn eine Gemeinde ein errichtetes Parkhaus zunächst unentgeltlich der Öffentlichkeit zur Benutzung überläßt und erst nach mehreren Jahren das Parkhaus an einen Parkhausbetreiber vermietet.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1; UStG 1980 § 15 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Gemeinde, unterhält mehrere Betriebe gewerblicher Art. In den Jahren 1976 bis 1983 errichtete sie ein Parkhaus. Der erste Bauabschnitt mit 160 Stellplätzen wurde Anfang 1977, der zweite Bauabschnitt mit weiteren 600 Stellplätzen wurde Ende April 1981 fertiggestellt. Die Stellplätze wurden der Öffentlichkeit jeweils nach Errichtung unentgeltlich zur Benutzung überlassen. Die Schlußabnahme des gesamten Bauwerks erfolgte am 29. April 1981; eine Zufahrtsbrücke wurde am 21. September 1982, die Abfertigungsanlage am 20. Januar 1983 fertiggestellt.
Seit Ende 1980 führte die Klägerin Verhandlungen über die Vermietung des Parkhauses. Am 21. September 1982 schloß sie mit Wirkung vom 15. November 1982 einen mehrjährigen Pachtvertrag mit einem Pächter, der das Parkhaus betreiben sollte.
Die Klägerin begehrt den Abzug der ihr in den Jahren 1980 bis 1982 aus Anlaß der Gebäudeerrichtung in Rechnung gestellten Umsatzsteuern. Mit Schreiben vom 24. März 1983 verzichtete sie auf die Umsatzsteuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 12 a des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1980). Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) ließ die von der Klägerin geltend gemachten Vorsteuerbeträge in den Änderungsbescheiden für 1980 und 1981 sowie in dem Bescheid für 1982 -- alle vom 18. April 1984 -- nicht zum Abzug zu, weil die erstmalige Verwendung des Parkhauses im hoheitlichen Bereich der Klägerin als Gemeinde erfolgt sei. Erst mit dem Rats beschluß vom 13. Juli 1982 über die Verpachtung habe die Klägerin eine unter nehmerische Nutzung im Rahmen eines Betriebs gewerblicher Art zu erkennen gegeben. Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Während des Klageverfahrens erließ das FA am 16. September 1985 aus im Verfahren nicht streitigen Gründen Änderungsbescheide für die Jahre 1980 bis 1982, die auf Antrag der Klägerin gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Verfahrens wurden.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es vertrat die Auffassung, die Klägerin sei mit der Errichtung des Parkhauses nicht als Unternehmerin tätig geworden und habe die Bauleistungen nicht für ihr Unternehmen, sondern zur Verwendung in ihrer hoheitlichen Sphäre bezogen. Denn die Klägerin habe bis zum Ratsbeschluß vom 13. Juli 1982, d. h. während der gesamten Dauer der Errichtung des Gebäudes, nicht die Absicht gehabt, Einnahmen zu erzielen. Gegen das Vorhandensein einer solchen Absicht sprächen folgende Umstände:
Die Klägerin habe das erste Parkdeck des Parkhauses mehr als 5 1/2 Jahre sowie das zweite Parkdeck ca. 1 1/2 Jahre (jeweils von der Fertigstellung bis zum Pachtbeginn am 15. November 1982 gerechnet) der Öffentlichkeit unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Die Stellplätze seien aus im nichtunternehmerischen Bereich der Klägerin liegenden Gründen zur unentgeltlichen Nutzung überlassen worden.
Die Klägerin habe in ihren Steuererklärungen für die Jahre bis einschließlich 1981 keine Vorsteuerbeträge aus der Errichtung des Parkhauses geltend gemacht.
Für das Vorliegen der Einnahmeerzielungsabsicht spräche nicht, daß die Klägerin in der Wirtschaftlichkeitsberechnung zum Förderungsantrag vom 30. September 1975 von einer unternehmerischen Nutzung ausgegangen sei und seit Ende 1980 über die Vermietung oder Verpachtung des Parkhauses verhandelt bzw. diesbezügliche Angebote eingeholt habe.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verfahrensfehler i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Das FG habe gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen (§ 96 Abs. 1 FGO) und seine Ermittlungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO verletzt.
Die Klägerin beantragt, die Umsatzsteuer unter Berücksichtigung der anläßlich der Errichtung des Parkhauses in den Jahren 1980 bis 1982 ihr in Rechnung gestellten Umsatzsteuern festzusetzen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG verletzt § 96 Abs. 1 FGO.
a) Gemäß § 96 Abs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Läßt das Gericht eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt oder geht es vom Nichtvorliegen dieser Tatsache aus, verstößt es unter Verletzung von § 96 Abs. 1 FGO gegen den klaren Inhalt der Akten (vgl. Klein/Ruban, Der Zugang zum Bundesfinanzhof, Rdnr. 109, mit Nachweisen).
b) Die Klägerin beanstandet die Ausführungen des FG, sie habe in ihren Steuererklärungen für die Jahre bis einschließlich 1981 die aus der Errichtung des Parkhauses herrührenden Vorsteuerbeträge nicht geltend gemacht. Die Klägerin trägt hierzu vor, dem FG hätten die Umsatzsteuerakten des FA vorgelegen. Aus diesen habe sich ergeben, daß in den Umsatzsteuervoranmeldungen für Oktober und Dezember 1980 und für das I. Quartal 1981 sowie in der Umsatzsteuererklärung für 1980 die in diese Zeiträume fallenden, die Errichtung des Parkhauses betreffenden Vorsteuerbeträge abgezogen worden sind. Auf diesem Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten beruhe das Urteil des FG; denn das FG habe aus dem fehlenden Vorsteuerabzug auf das Fehlen einer Einnahmeerzielungsabsicht geschlossen. Aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt sich auch, daß sie diesen Verfahrensfehler nicht vor dem FG hat rügen können, da er erst aus den Urteilsgründen ersichtlich wurde.
c) Die auf dieses Vorbringen der Klägerin gestützte Revision ist begründet. Dem FG lagen bei seiner Entscheidung die Umsatzsteuerakten des FA mit den Überwachungsbögen für 1980 und 1981, den Umsatzsteuererklärungen und den geänderten Umsatzsteuerbescheiden für 1980 und 1981 vor. Aus dem Zusammenhang mit den Änderungsbescheiden vom 18. April 1984 hätte das FG erkennen können, daß das FA den Abzug der von der Klägerin für 1980 und 1981 erklärten und vom FA ursprünglich berücksichtigten Vorsteuern aus der Gebäudeerrichtung rückgängig gemacht hat.
Der Verfahrensfehler war für die Entscheidung des FG erheblich. Das FG hat seine Würdigung, die Klägerin habe die Bauleistungen ohne Einnahmerzielungsabsicht für ihre nichtunternehmerische Sphäre bezogen, kumulativ auf mehrere Umstände gestützt, u. a. auf die fehlende Geltend machung des Vorsteuerabzugs. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Entscheidung aufgrund der Gesamtwürdigung anders ausgefallen wäre, wenn das FG den Vorsteuerabzug in seine Überlegungen einbezogen hätte.
2. Der Senat kann nicht durcherkennen. Selbst wenn § 118 Abs. 3 FGO einer Sachprüfung nicht entgegenstünde, weil in den Verfahrensrügen der Klägerin zugleich die Rüge sachlich-rechtlicher Mängel enthalten ist, so fehlt es für eine abschließende Entscheidung an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen des FG zu der Frage, ob die Klägerin, die aufgrund ihrer Betriebe gewerblicher Art Unternehmerin war (vgl. dazu Senatsurteil vom 18. August 1988 V R 194/83, BFHE 154, 274, BStBl II 1988, 932), die Bauleistungen "für ihr Unternehmen" bezogen hat. Bei der recht lichen Beurteilung der Zuordnung der Leistungsbezüge zum Unternehmen (vgl. dazu z. B. Senatsbeschluß vom 21. Juni 1990 V B 27/90, BFHE 161, 201, BStBl II 1990, 801) wird das FG im Rahmen richt linienkonformer Auslegung auch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 11. Juli 1991 Rs. C-97/90 (EuGHE 1991, I-3795, Umsatzsteuer-Rundschau -- UR -- 1991, 291, Nr. 19 bis 21) zu beachten haben.
Wegen der Frage, ob in der Überlassung der Parkplätze an die Öffentlichkeit ein vorsteuerabzugschädlicher Eigenverbrauch gesehen werden kann, wird auf das Senats urteil vom 10. Dezember 1992 V R 3/88 (BFHE 170, 277, BStBl II 1993, 380) und das EuGH-Urteil vom 13. Juli 1989 Rs. 173/88 (EuGHE 1989, 2763, UR 1990, 273) verwiesen.
Fundstellen