Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Wiederaufrollung des ganzen Steuerfalles bei Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 1 Nr. 2
Nachgehend
Tatbestand
Die Rechtsvorgängerin der Bfin. machte in ihrer Vermögensaufstellung zum 21. Juni 1948 Provisionsverpflichtungen in Höhe von über 1 1/2 Millionen DM geltend. Bei der Feststellung des Einheitswertes ihres Betriebsvermögens zum 21. Juni 1948 ließ das Finanzamt diesen Betrag zum Abzug zu. Bei einer in den Jahren 1954 und 1955 vorgenommenen Betriebsprüfung vertrat der Betriebsprüfer die Auffassung, der Abzug dieser Provisionsverpflichtungen, die in der DM-Eröffnungsbilanz (DMEB) nicht enthalten seien, sei wegen der Kopplungsvorschrift des § 75 Abs. 1 DMBG nicht zulässig. Er beanstandete außerdem den Abzug einer Schuld von etwa 15.000,00 DM in der Vermögensaufstellung zum 21. Juni 1948, weil diese Schuld in wirtschaftlichem Zusammenhang mit Betriebsvermögen einer Zweigniederlassung in der sowjetischen Besatzungszone stehe. Das Finanzamt schloß sich der Auffassung des Betriebsprüfers an, berichtigte die Einheitswertfeststellung des Betriebsvermögens zum 21. Juni 1948 nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO und ließ dabei die Provisionsverpflichtungen und die Schuld von etwa 15.000,00 DM nicht zum Abzug zu.
Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht führte im wesentlichen aus: Hinsichtlich der Schuld liege unstreitig eine neue Tatsache vor. Diese sei auch von einigem Gewicht. Bei einem Großbetrieb könne man nur von einem absoluten Maßstab ausgehen und müsse die mit dem Mehrvermögen von rund 15.000 DM verbundenen steuerlichen Auswirkungen bei der Vermögensteuer, der Vermögensabgabe und der Gewerbekapitalsteuer berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung könne bei Vorliegen neuer Tatsachen von einigem Gewicht der ganze rechtskräftig abgeschlossene Steuerfall wiederaufgerollt werden. Dabei sei das Finanzamt nicht gehindert, hinsichtlich der Provisionen auf Grund besserer Erkenntnisse eine veränderte rechtliche Beurteilung zugrunde zu legen. Dem stehe hier auch § 222 Abs. 2 AO nicht entgegen, weil sich die geänderte Rechtsauffassung des Finanzamts nicht auf die änderung der Rechtsprechung hinsichtlich des Abzugs von Provisionsverpflichtungen durch das Urteil des Bundesfinanzhofs III 287/56 S vom 22. Februar 1957 (BStBl 1957 III S. 182, Slg. Bd. 64 S. 487) stütze. Es liege auch kein Verstoß gegen Treu und Glauben vor. Weder habe das Finanzamt durch sein Verhalten zu erkennen gegeben, daß die Rechtsvorgängerin der Bfin. eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr zu erwarten habe, noch habe es eine Zusage für eine bestimmte steuerliche Behandlung gegeben und habe diese Zusage für die Steuerpflichtige die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Dispositionen gebildet. Die Provisionsverpflichtungen seien auch zu Recht nicht zum Abzug zugelassen worden. Der Provisionsanspruch und damit auch die entsprechende Verbindlichkeit entstehe nach § 88 HGB in der bis 30. November 1953 geltenden Fassung erst, wenn das Geschäft durch die Tätigkeit des Vertreters zustande gekommen und zur Ausführung gelangt sei. Vor der Durchführung des Lieferungsgeschäfts liege nur eine aufschiebend bedingte Last beim Geschäftsherrn vor. Das müsse nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs III 287/56 S vom 22. Februar 1957 (a. a. O.) auch steuerlich gelten. Außerdem seien die Provisionsverpflichtungen auch wegen der Koppelungsvorschrift des § 75 Abs. 1 DMBG und der Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 des Vermögensbewertungsgesetzes (VBewG) nicht abzugsfähig.
Mit der Rb. wird geltend gemacht, hinsichtlich des Schuldpostens "Provisionsverpflichtungen" seien durch die Betriebsprüfung keine neuen Tatsachen aufgedeckt worden. Die auf Grund der Betriebsprüfung vorgenommene Berichtigung der sonstigen Verbindlichkeiten in Höhe von rd. 15.000,00 DM rechtfertige nicht die Streichung der Provisionsverpflichtungen. Nach dem Wortlaut und dem Sinn des Gesetzes dürfe bei Bekanntwerden neuer Tatsachen nicht die ganze Veranlagung wiederaufgerollt werden. Zumindest sei eine Wiederaufrollung des ganzen Steuerfalles dann unzulässig, wenn sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. Das sei nach der Rechtsprechung der Fall, wenn das Finanzamt eine wegen neuer Tatsachen zulässige, aber verhältnismäßig geringfügige Erhöhung der rechtskräftig festgesetzten Steuer zum Anlaß nehme, den Steuerfall zuungunsten des Steuerpflichtigen neu aufzurollen. Ein solcher Fall sei hier gegeben. Denn infolge der Erhöhung des steuerpflichtigen Vermögens durch die Streichung der sonstigen Verbindlichkeiten in Höhe von rund 15.000 DM würde sich bei gleichzeitiger Streichung der Provisionsverpflichtungen das steuerpflichtige Vermögen um 1,5 Millionen DM erhöhen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist unbegründet.
I. - Unstreitig liegt hinsichtlich der Schuld eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO vor. Nach ständiger Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs müssen die Tatsachen, die zu einer Berichtigung führen sollen, "von einigem Gewicht" sein (vgl. z. B. Urteile des Bundesfinanzhofs V 180/59 U vom 8. Februar 1962, BStBl 1962 III S. 225, Slg. Bd. 74 S. 610, und I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BStBl 1963 III S. 100, Slg. Bd. 76 S. 282). In der Frage, wann Tatsachen von einigem Gewicht vorliegen, besteht noch keine einheitliche Auffassung. Das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957 (BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132) läßt die Steuerbeträge maßgebend sein, die sich auf Grund der neuen Tatsachen ergeben. Im Urteil des Bundesfinanzhofs IV 41/60 U vom 9. Februar 1961 (BStBl 1961 III S. 216, Slg. Bd. 72 S. 594) wird die Frage unter absoluter und unter relativer Betrachtung, d. h. im Verhältnis zur ursprünglich festgesetzten Steuer, behandelt. Der V. Senat hält im Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (a. a. O.) eine Verbindung der relativen und der absoluten Abgrenzungsweise für den gerechtesten Maßstab. Hierbei sollen Steuermehr- bzw. Steuerminderbeträge bis zu einer unteren absoluten Grenze (100 DM) unberücksichtigt bleiben, von einer oberen absoluten Grenze (1.000 DM) an immer als gewichtig angesehen werden. Bei dazwischenliegenden Beträgen soll es entscheidend sein, ob im Einzelfall der Mehr- oder Minderbetrag im Verhältnis zur bisherigen Steuerschuld einen bestimmten Hundertsatz (10 v. H.) übersteigt. Der I. Senat hat im Urteil I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962 (a. a. O.) die absolute Grenze von 1.000 DM und die relative Grenze von 10 v. H. für die Ertragsteuer nicht übernommen. Er will jedoch die Frage der Gewichtigkeit neuer Tatsachen ebenfalls nach absoluten und relativen Merkmalen beantworten. Im Streitfall handelt es sich um die Berichtigung eines Einheitswerts des Betriebsvermögens zum 21. Juni 1948. Dieser Einheitswert bildet die Grundlage für die Veranlagung der Vermögensteuer, der Gewerbesteuer nach dem Gewerbekapital und der Vermögensabgabe. Es ist dem Finanzgericht beizupflichten, wenn es bei der Frage nach der Gewichtigkeit der neuen Tatsachen auf diese Auswirkung des Einheitswerts abstellt. Die Streichung der Schuld von etwa 15.000,00 DM führt zu einer entsprechenden Erhöhung des Einheitswerts und damit auch des steuerpflichtigen Vermögens bei der Vermögensteuerveranlagung, des Gewerbekapitals bei der Gewerbesteuerveranlagung und des abgabepflichtigen Vermögens bei der Vermögensabgabeveranlagung. Sie hat eine Erhöhung der Vermögensteuer von 112,50 DM, des Gewerbesteuermeßbetrags von 30 DM und des Ablösungsbetrags bei der Vermögensabgabe von rund 5.000 DM zur Folge. Bei dieser Sachlage ist es unerheblich, ob man auf das Mehrvermögen oder auf die sich dadurch ergebenden Mehrsteuern abstellt. Der Senat ist der Auffassung, daß in beiden Fällen die Mehrbeträge in ihrer absoluten Höhe so groß sind, daß die relative Betrachtung ausscheidet. Es kann deshalb dem Finanzgericht im Ergebnis darin zugestimmt werden, daß die neue Tatsache gewichtig genug ist, eine Berichtigung der Einheitswertfeststellung zum 21. Juni 1948 zu rechtfertigen.
II. - Das Finanzgericht geht bei seiner Entscheidung von dem Grundsatz aus, daß bei Feststellung neuer Tatsachen von einigem Gewicht nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO der ganze rechtskräftig abgeschlossene Steuerfall wiederaufgerollt wird. Diese Auffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und des Bundesfinanzhofs, an der der Bundesfinanzhof trotz aller Kritik im Schrifttum (vgl. Tipke-Kruse, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Anm. 19 zu § 222) festgehalten hat (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, a. a. O.). Die Bfin. wendet sich unter Berufung auf dieses Schrifttum gegen diese Auffassung. Ihre Einwendungen vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Aus dem Wortlaut des § 222 Abs. 1 AO läßt sich nichts dafür entnehmen, daß eine Berichtigung nur insoweit durchgeführt werden darf, als neue Tatsachen festgestellt wurden. Mag auch rein sprachlich gesehen das Wort "Berichtigungsveranlagung" enger sein als das in § 212 Abs. 2 AO 1919 verwendete Wort "Neuveranlagung", so ergibt sich daraus nicht, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Berichtigung gegenüber dem früheren Rechtszustand einschränken wollte. Im Gegenteil geht aus der amtlichen Begründung (Reichstag, IV. Wahlperiode 1928, Drucksache zu Nr. 568 zu Art. I, § 38 S. 227 ff.) hervor, daß der Begriff "Neuveranlagung" deswegen durch den Begriff "Berichtigungsveranlagung" ersetzt wurde, weil der Begriff "Neuveranlagung" im Vermögensteuergesetz (VStG) in dem Sinne verwandt wurde, daß eine frühere richtige Veranlagung mit Wirkung ex nunc durch eine Neuveranlagung ersetzt wird, während die Berichtigungsveranlagung an die Stelle der früheren falschen Veranlagung mit Wirkung ex tunc tritt. Man wollte durch die Neufassung vermeiden, daß mit ein und demselben Ausdruck zwei ganz verschiedene Dinge bezeichnet werden. Eine solche Beschränkung kann auch nicht mit rechtsstaatlichen Gesichtspunkten begründet werden. Wenn die Bfin. in diesem Zusammenhang auf den Gedanken der Rechtssicherheit und den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes hinweist, so muß auf der anderen Seite beachtet werden, daß auch die Rechtsprechung rechtsstaatliche Prinzipien, nämlich die Grundsätze der Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, berücksichtigt. Diese Grundsätze machen es erforderlich, Fehler, die bei der Veranlagung unterlaufen sind, zu beseitigen, soweit das nach den geltenden Bestimmungen möglich ist. Es kann dabei unbeachtet bleiben, daß sich in Ausnahmefällen, worauf die Bfin. hinweist, auch einmal eine Ungleichheit in der Besteuerung ergeben kann, nämlich dann, wenn sich die Auffassung der Verwaltung in einer bestimmten Frage ganz allgemein geändert hat. Die Bfin. beruft sich auch zu Unrecht darauf, daß nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs III 314/56 U vom 22. Februar 1957 (BStBl 1957 III S. 128, Slg. Bd. 64 S. 336) der Steuerpflichtige bei einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO eine Berichtigung wegen der Fehleraufdeckung nur in dem Umfang verlangen kann, in dem sich der Fehler ausgewirkt hat. Die Berichtigungsmöglichkeiten des § 222 Abs. 1 AO sind jede für sich zu beurteilen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 376/61 vom 16. März 1962, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 107). § 222 Abs. 1 Ziff. 3 und 4 AO regelt nur die Frage, inwieweit allein das Vorhandensein eines Fehlers eine Berichtigung rechtfertigt. Das hat jedoch nichts mit der Frage zu tun, welche Folgen sich aus dem Bekanntwerden neuer Tatsachen und Beweismittel ergeben. Es bestehen deshalb entgegen der Auffassung von Tipke-Kruse, a. a. O., auch keine Bedenken dagegen, daß das Finanzamt bei einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, wenn der Steuerfall ganz wiederaufgerollt wird, mehr Befugnisse hat als die Aufsichtsbehörde bei einer Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO. Schließlich kann auch nicht außer Betracht gelassen werden, daß sich eine Wiederaufrollung des ganzen Steuerfalles bei Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel wegen der Vorschrift des § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO auch zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken kann. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß die Auslegung des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AO durch die Rechtsprechung den berechtigten Interessen des Steuerpflichtigen und der öffentlichen Hand entspricht. Mit Recht hat der VI. Senat in dem Urteil VI 96/60 vom 24. April 1961 (StRK, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 109) darauf hingewiesen, daß diese Auslegung den Erfordernissen des Besteuerungsverfahrens, das in vielen Fällen, z. B. bei der Lohnsteuer, ein Massenverfahren ist, gerecht wird, indem sie den Grundsatz der Rechtssicherheit zurücktreten läßt hinter dem Grundsatz der Richtigkeit der Besteuerung.
Die Bfin. ist der Ansicht, daß zumindest im Streitfall die Wiederaufrollung nach der Rechtsprechung deswegen unzulässig sei, weil die infolge des Wegfalls der Schuld von rd. 15.000,00 DM eintretende Vermögenserhöhung im Verhältnis zu der dann eintretenden Vermögenserhöhung infolge des Wegfalls der Provisionsverpflichtungen nur geringfügig sei. Sie beruft sich dabei besonders auf die Urteile des Bundesfinanzhofs V 264/58 U vom 21. Juli 1960 (BStBl 1960 III S. 480, Slg. Bd. 71 S. 619) und I 22/54 vom 23. Juli 1957 (StRK, Reichsabgabenordnung, § 222, Rechtsspruch 21). Im Urteil V 264/58 U vom 21. Juli 1960 (a. a. O.) hat der V. Senat zwar ausgeführt, daß es Treu und Glauben widersprechen würde, wenn das Finanzamt eine wegen neuer Tatsachen zulässige, aber geringfügige Erhöhung der rechtskräftig festgesetzten Steuer zum Anlaß nehmen würde, den Steuerfall zuungunsten des Steuerpflichtigen neu aufzurollen. Er hat dann aber erklärt, daß ein solcher Fall nicht vorliege, da der auf Grund der neuen Tatsachen nachzuholende Steuerbetrag von 18.000 DM nicht als geringfügig angesehen werden könne. Entgegen der Behauptung der Bfin. hat er dabei nicht auf die relative, sondern auf die absolute Höhe dieses Steuermehrbetrags abgestellt. Auch im Urteil des Bundesfinanzhofs I 22/54 vom 23. Juli 1957 (a. a. O.) hat der I. Senat nicht von einer verhältnismäßig geringfügigen Einkommenserhöhung gesprochen. Es ist auch nicht richtig, daß in dem Urteil festgestellt wurde, es würde gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn die neue Tatsache unmittelbar zu einer Steuermehrung von 5.000 DM führe, daneben aber eine veränderte Rechtsauffassung bei einem anderen Komplex eine Steuermehrung von 200.000 DM zur Folge hätte. Zahlenangaben sind in dem Urteil überhaupt nicht enthalten. Es muß im übrigen noch folgendes beachtet werden: Das Urteil V 264/58 U vom 21. Juli 1960 (a. a. O.) stützt sich in seiner Begründung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs I 90/57 U vom 3. Dezember 1958 (BStBl 1959 III S. 53, Slg. Bd. 68 S. 140). In diesem Urteil hatte der I. Senat die Auffassung vertreten, es könne sich aus den Grundsätzen von Treu und Glauben ergeben, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO der Steuerfall nur insoweit wiederaufgerollt werden dürfe, als neue Tatsachen vorliegen. Der I. Senat hat aber in dem Urteil I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962 (a. a. O.) an dieser Ansicht nicht mehr festgehalten, weil die Berichtigungen unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nur bei Feststellung neuer Tatsachen von einigem Gewicht erfolgen. Der erkennende Senat tritt dieser Auffassung des I. Senats bei.
Eine Wiederaufrollung des ganzen Steuerfalls kann aber unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben dann unzulässig sein, wenn das Finanzamt durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, daß der Steuerpflichtige eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr zu erwarten habe (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 40/51 U vom 3. Oktober 1951, BStBl 1951 III S. 202, Slg. Bd. 55 S. 494), oder wenn das Finanzamt hinsichtlich eines rechtlich zweifelhaften Sachverhalts nach Verhandlungen dem Steuerpflichtigen eine Zusage für eine bestimmte Behandlung gegeben hat und die Zusage für den Steuerpflichtigen die Grundlage seiner wirtschaftlichen Dispositionen gebildet hat (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs I 176/57 U vom 18. November 1958, BStBl 1959 III S. 52, Slg. Bd. 68 S. 137, und V 264/58 U vom 21. Juli 1960, a. a. O.). Das Finanzgericht hat zutreffend festgestellt, daß beide Gesichtspunkte hier nicht zum Zuge kommen. Im übrigen kann im Streitfalle nicht unbeachtet bleiben, daß der Abzug der Provisionsverpflichtungen gegen zwingende gesetzliche Vorschriften verstieß (s. unten zu III), so daß schon aus diesem Grunde die Grundsätze von Treu und Glauben nicht angewendet werden können (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 326/58 U vom 26. Mai 1961, BStBl 1961 III S. 380, Slg. Bd. 73 S. 312). Es braucht deshalb nicht geprüft zu werden, ob auch hinsichtlich der Provisionsverpflichtungen durch die Betriebsprüfung neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO bekanntgeworden sind.
III. - Das Finanzgericht hat mit Recht die Berichtigungsfeststellung auch in sachlicher Hinsicht für zulässig gehalten. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Abzug der Provisionsverpflichtungen bei der Feststellung des Einheitswerts des Betriebsvermögens zum 21. Juni 1948 wegen der durch das Urteil des Bundesfinanzhofs III 287/56 S vom 22. Februar 1957 (a. a. O.) geänderten Rechtsprechung zu versagen war, oder ob dem die Sperrwirkung des § 222 Abs. 2 AO entgegenstand. Dem Finanzgericht ist jedenfalls darin beizupflichten, daß der Abzug der Provisionsverpflichtungen nach § 8 Abs. 1 Satz 1 VBewG unzulässig ist. Nach dieser Vorschrift sind Rückstellungen bei der Hauptfeststellung der Einheitswerte der gewerblichen Betriebe auf den 21. Juni 1948 in der Höhe zu berücksichtigen, in der sie in die DMEB auf Grund der Vorschriften des DMBG eingestellt sind. Da im Streitfall für die Provisionsverpflichtungen in der DMEB keine Rückstellung gebildet war, konnte eine solche Rückstellung auch bei der Einheitswertfeststellung des Betriebsvermögens auf den 21. Juni 1948 nicht berücksichtigt werden. Davon gehen auch die Vermögensteuer-Richtlinien (VStR) 1949 in Abschn. 63 Abs. 9 aus, auf den in Abschn. 23 Abs. 2 Satz 3 VStR ausdrücklich hingewiesen wird.
Fundstellen
Haufe-Index 411153 |
BStBl III 1964, 437 |
BFHE 1964, 562 |
BFHE 79, 562 |