Leitsatz (amtlich)
1. Hat das FA die Festsetzung der Steuer ausgesetzt, so ist ein Nachholungsbescheid nach § 225 AO nicht statthaft, wenn es an einer Ungewißheit im Sinne dieser Vorschrift fehlte.
2. Der Ausdruck "ungewisse Verhältnisse" in § 225 Satz 1 AO bezieht sich ebenso wie das Wort "ungewiß" in § 100 Abs. 1 AO nur auf die Existenz von Tatsachen, nicht aber auf die Anwendung des Steuerrechts.
Normenkette
AO § 100 Abs. 1, 4, § 225 i.d.F. des § 21 Nr. 1 StAnpG
Tatbestand
Die frühere Alleingesellschafterin der Klägerin, einer GmbH, hat auf Grund eines Rückerstattungsvergleichs ihren gesamten Grundbesitz sowie sämtliche Maschinen und Einrichtungsgegenstände auf die Klägerin übertragen. Die Übertragung, die nach Ansicht des Beklagten den Tatbestand des § 2 Nr. 3 Buchst. b KVStG 1934 erfüllt, ist dem Beklagten durch eine Kapitalverkehrsteuerprüfung bekanntgeworden, die am 7. April 1952 durchgeführt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beklagte Zweifel, ob die - unentgeltliche - Übertragung eine Maßnahme "aus Anlaß der Rückerstattung" darstellte, für die nach Art. 91 Abs. 1 des Rückerstattungsgesetzes (REG) Steuern nicht zu erheben waren.
Bei dem für die Grunderwerbsteuer der Klägerin zuständigen FA war bereits ein Rechtsmittelverfahren anhängig, das sich auf die Anwendung des Art. 91 Abs. 1 REG hinsichtlich der Steuerpflicht des Grundstückserwerbs nach dem GrEStG bezog. Mit Schreiben vom 4. Juli 1952 teilte das FA der Klägerin mit, daß es wegen der Steuerpflicht der oben angeführten Leistung den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens in der Grunderwerbsteuersache abwarten wolle. Der Beklagte hat sich am 22. Januar 1953 fernmündlich durch einen Beamten und am 15. Juni 1955 und am 30. Dezember 1957 schriftlich bei dem für die Grunderwerbsteuer zuständigen FA nach dem Stand des erwähnten Rechtsmittelverfahrens erkundigt.
Der Beklagte richtete am 30. Dezember 1957 an die Klägerin ein Schreiben mit folgendem Inhalt:
"Die Firma ... hat auf Grund des Vergleichs vom 24.2.1949 auf die GmbH Grundstücke, Maschinen und Einrichtungsgegenstände im Buchwert von insgesamt ... DM übertragen.
Ob für diesen Rechtsvorgang GesSt anfällt, ist noch nicht entschieden. Für die Entscheidung wird der Ausgang des Rechtsmittelverfahrens abgewartet, das die GmbH in der gleichen Sache wegen GrESt führt.
Diese Mitteilung erfolgt im Interesse einer Unterbrechung der Verjährung."
Nachdem der BFH durch Urteil II 97/59 vom 29. August 1962 entschieden hatte, daß Art. 91 Abs. 1 REG in der Grunderwerbsteuersache der Klägerin nicht anzuwenden sei, setzte der Beklagte durch Bescheid vom 15. Februar 1963 wegen der oben erwähnten Leistung Gesellschaftsteuer fest. Er führte im Bescheid aus, die Verjährung sei durch sein Schreiben vom 30. Dezember 1957 unterbrochen worden. Der Einspruch blieb erfolglos. Auf die Berufung hob das FG die Einspruchsentscheidung und den Gesellschaftsteuerbescheid auf (EFG 1966, 153, 143).
Mit der seit 1. Januar 1966 als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde rügt der Beklagte, das FG habe die §§ 147 Abs. 1, 148 und 225 AO in der Fassung vor dem Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 (BGBl I, 1356, 1817, BStBl I 643) fehlerhaft angewandt.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist unbegründet.
I.
Der Beklagte meint, sein Schreiben vom 30. Dezember 1957 sei der Sache nach eine Aussetzung der Steuerfestsetzung im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 1 AO gewesen. Aus diesem Schreiben habe sich der Wille ergeben, die Verjährung zu unterbrechen. Erst durch die Entscheidung des BFH vom 29. August 1962 sei die Ungewißheit über die Auslegung des Art. 91 Abs. 1 REG beseitigt worden. Der Steueranspruch sei bei Erlaß des Gesellschaftsteuerbescheides vom 15. Februar 1963 noch nicht verjährt gewesen. Unter Berufung auf Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 2. Aufl., § 225 Anm. 2a und Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1766, 1767, meint der Beklagte, für die Verjährung gelte der Steueranspruch als mit der Beseitigung der Ungewißheit entstanden.
Zugunsten des Beklagten mag unterstellt werden, das Schreiben vom 30. Dezember 1957 könne als Aussetzung der Steuerfestsetzung gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 AO qualifiziert werden. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen für eine solche Aussetzung vorlagen und ob der Senat befugt wäre, dies zu prüfen (vgl. für den Fall eines vorläufigen Bescheides Urteil des BFH III 55/65 vom 8. Juni 1966, BFH 86, 534).
II.
Aus § 225 AO in der Fassung vor dem Gesetz vom 15. September 1965 (BGBl I 1356, 1817, BStBl I, 643) - AO a. F. -, auf den sich der Beklagte der Sache nach in erster Linie bezieht, kann eine ihm günstige Entscheidung nicht abgeleitet werden. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist, "wo das Gesetz wegen bedingter, befristeter oder sonst ungewisser Verhältnisse die Steuerfestsetzung aussetzt", die Festsetzung nachzuholen, wenn die Ungewißheit beseitigt ist. Es kann zugunsten des Beklagten - ohne nähere Prüfung - unterstellt werden, daß sich diese Vorschrift auch auf den Fall bezieht, daß das Gesetz nur die Möglichkeit vorsieht, die Steuerfestsetzung auszusetzen (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 AO einerseits und Abs. 4 dieser Vorschrift andererseits). Gleichwohl war ein Nachholungsbescheid im Streitfall nicht zulässig. Es fehlte an einer Ungewißheit im Sinne des § 225 AO, die hätte beseitigt werden können; die Fiktion des § 225 Satz 3 Halbsatz 2 AO a. F. kommt daher nicht in Betracht.
1. Auch wenn man davon ausgeht (vgl. oben I), daß es nicht statthaft ist, im Verfahren über den Nachholungsbescheid im Sinne des § 225 AO nachzuprüfen, ob das FA die Voraussetzungen für die Aussetzung der Steuerfestsetzung (die vorläufige Steuerfestsetzung) im Sinne des § 100 AO mit Recht bejaht hat, muß geprüft werden, ob die Voraussetzungen für den Erlaß eines Nachholungsbescheides vorgelegen haben. Der Nachholungsbescheid ist nur dann zulässig, wenn die Ungewißheit beseitigt ist, die dazu geführt hat, die Festsetzung der Steuer auszusetzen. Kann die Ungewißheit im Sinne des § 225 AO nicht beseitigt sein, weil das FA zu Unrecht angenommen hat, es sei ungewiß, ob die Voraussetzungen für die Entstehung der Steuerschuld eingetreten sind, liegen nach dem klaren Wortlaut die Voraussetzungen für einen Nachholungsbescheid auf Grund § 225 AO nicht vor. In einem solchen Fall kann die Steuerfestsetzung nur nachgeholt werden, wenn die Verjährungsfrist für den Steueranspruch noch nicht abgelaufen ist. Eine besondere Verjährung für den Anspruch auf Nachzahlung (§ 225 Satz 3 AO a. F.) ist dann nicht möglich.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, daß die hier vertretene Rechtsauffassung dem Steuerpflichtigen nicht das Recht verwehrt, die Änderung des zu Unrecht für vorläufig erklärten Steuerbescheides zu seinen Gunsten nach Maßgabe des § 225 Satz 2 AO zu verlangen (vgl. Urteil des BFH III 340/57 U vom 24. April 1959, BFH 69, 100, BStBl III 1959, 301 unter II. der Gründe).
2. Die Ausdrücke "ungewisse Verhältnisse" und "Ungewißheit" in § 225 AO und "ungewiß" in § 100 Abs. 1 Satz 1 AO entsprechen einander. Doch ist der Bedeutungsgehalt des Begriffes "Ungewißheit" im Sinne des § 225 AO weiter als der des Begriffes "ungewisse Verhältnisse" (§ 225 Satz 1, 1. Satzteil, AO) oder des Begriffes "ungewiß" im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 1 AO. Der Begriff "Ungewißheit" (§ 225 Satz 1, letzter Satzteil, AO) bezieht sich auf bedingte, befristete oder sonst ungewisse Verhältnisse. Der Ausdruck "sonst ungewisse Verhältnisse" ist seinem Bedeutungsgehalt nach identisch mit der in § 100 Abs. 1 AO enthaltenen Formel "ungewiß, ob oder inwieweit die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuerschuld eingetreten sind". Denn in diesem Umfange begründet § 225 AO die Möglichkeit, den kraft § 100 Abs. 1 Satz 1 AO ergangenen vorläufigen Steuerbescheid zu berichtigen (unverändert für endgültig zu erklären) oder die ausgesetzte Steuerfestsetzung nachzuholen.
3. Die Redewendung "sonst ungewisse Verhältnisse" in § 225 Satz 1 AO ist ebenso wie das Wort "ungewiß" in § 100 Abs. 1 Satz 1 AO nur auf die Existenz von Tatsachen bezogen, die geeignet sind, für die Steuerpflicht relevante Tatbestandsmerkmale zu erfüllen. Die Ungewißheit darf sich nicht auf die Anwendung des Steuerrechts (vgl. Urteile des BFH III 19/53 U vom 13. Februar 1953, BFH 57, 212, BStBl III 1953, 83; III 340/57 U, a. a. O.), auf die Subsumtion und auf die Würdigung festgestellter Tatsachen im Hinblick auf eine Norm des Steuerrechts beziehen.
Die Beschränkung des Begriffes "sonst ungewisse Verhältnisse" auf Tatsachen ergibt sich aus § 100 Abs. 1 Satz 1 AO. Nach dieser Vorschrift muß sich die Ungewißheit auf den Eintritt der Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuerschuld beziehen. Voraussetzung in diesem Sinne ist nicht der gesetzliche Tatbestand. An den Tatbestand ist die abstrakte Leistungspflicht geknüpft (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO). Die (konkrete) Steuerschuld entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuer knüpft (§ 3 Abs. 1 StAnpG). Sobald der gesetzliche Tatbestand verwirklicht ist, sind die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuerschuld eingetreten. Die Begriffe "Verwirklichung des Tatbestandes" und "Eintritt der Voraussetzungen für die Entstehung der Steuerschuld" sind - unter verschiedenem Blickwinkel gesehen - der Sache nach identisch. Beide Begriffe beziehen sich auf konkrete Tatsachen, die im Wege erkenntnismäßiger Abstraktion den durch das Gesetz fixierten Merkmalen subsumiert werden können. Tatsachen in diesem Sinne sind auch für eine Vorschrift des Steuerrechts vorgreifliche Rechtsverhältnisse aus einem anderen Rechtsgebiet oder ein Rechtsstreit über ein solches Rechtsverhältnis.
Der Begriff der Tatsache ist hier der gleiche wie in § 222 AO (vgl. zu § 222 AO: BFH-Entscheidung V 166/59 U vom 6. September 1962, BFH 75, 623, BStBl III 1962, 494; Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl. § 222 Anm. 3a; Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 222 Anm. 5; Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1695; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 2.-3. Aufl., § 222, Rdziff. 10). Die §§ 100 und 225 AO betreffen den Fall, in dem ungewiß ist bzw. war, ob sich ein bestimmter Lebensvorgang in bestimmter Weise ereignet hat. § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO hingegen erfassen Fälle, in denen nachträglich Tatsachen bekannt werden, die zur Zeit der Erstveranlagung zwar existent jedoch nicht bekannt waren.
4. Durch das Urteil des BFH II 97/59 vom 29. August 1962 wurde eine zwischen den Parteien bestehende Ungewißheit über eine zwischen ihnen streitige Rechtsfrage beseitigt. Das FG hat festgestellt, der BFH habe entschieden, daß Art. 91 Abs. 1 REG auf den Grunderwerbsteuerfall der Klägerin unanwendbar sei. Die Entscheidung des BFH kann sich also nicht auf eine Ungewißheit über eine Tatsache bezogen haben, die für den vom FA im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Anspruch auf Gesellschaftsteuer relevant war. Die Ungewißheit des FA bezog sich nur auf die Rechtsfrage, ob Art. 91 Abs. 1 REG einen an sich entstandenen Anspruch auf Gesellschaftsteuer ausschließt.
III.
Entgegen der Ansicht des Beklagten ist auch die Verjährung nicht unterbrochen worden.
Der geltend gemachte Steueranspruch ist am 24. Februar 1949 entstanden (§ 3 Abs. 1 StAnpG). Die Kapitalverkehrsteuerprüfung im April 1952 wurde vor Ablauf der Verjährungsfrist des § 144 Satz 1 AO a. F. durchgeführt. Sie hat, da sie sich auf den streitigen Steueranspruch bezog, gemäß § 147 Abs. 1 AO a. F. die Verjährung unterbrochen. Die neue Verjährung, die mit Ablauf des Jahres 1952 begann (§ 147 Abs. 3 AO a. F.), endete mit Ablauf des Jahres 1957 (§ 144 Satz 1 AO a. F.), wenn sie nicht vorher unterbrochen wurde. Unterstellt, das FA habe die Steuerfestsetzung gemäß § 100 Abs. 1 AO vorläufig ausgesetzt und diese Verfügung habe eine die Verjährung unterbrechende Wirkung gehabt, so wäre die mit Ablauf des Jahres 1957 endende Verjährungsfrist durch die Verfügung vom 30. Dezember 1957 erneut unterbrochen worden; in diesem Falle hätte mit Ablauf des Jahres 1957 eine neue Verjährung begonnen. Die Verjährung wäre dann mit Ablauf des Jahres 1962, also vor Erlaß des umstrittenen Steuerbescheides eingetreten. Das FG hat nicht festgestellt, daß der Beklagte vor Ablauf des Jahres 1962 Handlungen im Sinne des § 147 Abs. 1 AO a. F. vorgenommen hat. Das Gericht hat vielmehr ausgeführt, nach dem Inhalt der Steuerakten seien in der Zeit zwischen der letzten Unterbrechung der Verjährung des streitigen Steueranspruchs durch die im Jahre 1952 durchgeführte Prüfung und der Festsetzung der Gesellschaftsteuer durch den Bescheid vom 15. Februar 1963 mehr als fünf Jahre verstrichen, ohne daß eine wirksame Unterbrechung der Verjährung erfolgte.
Das Vorbringen des Beklagten, er habe nach dem Jahre 1957, am 16. April 1959, 5. Oktober 1959, 28. Oktober 1960 und 14. Februar 1962 bei dem für die Grunderwerbsteuer zuständigen FA der Klägerin nach dem Stande des Rechtsmittelverfahrens in der Grunderwerbsteuersache angefragt, kann auch dann keinen Erfolg haben, wenn es im Sinne einer - rechtzeitig erhobenen - Rüge mangelnder Sachaufklärung verstanden wird. Diese Anfragen dienten nur der Feststellung, ob das FG oder der BFH in der Grunderwerbsteuersache der Klägerin die Auffassung vertreten hatten, Art. 91 Abs. 1 REG schließe die Grunderwerbsteuerpflicht aus. Sie hatten nur den Zweck, die Rechtsauffassung zu erkunden, auf der die Entscheidung in einem anderen Verfahren beruht, um sie der eigenen Entscheidung zugrunde zu legen. Eine solche Maßnahme ist keine Handlung zur Feststellung des Anspruches. Handlung im Sinne des § 147 Abs. 1 AO a. F. ist jede nach außen wirkende Maßnahme der Behörde, die ihrem Wesen und ihrem Zweck nach geeignet ist, der Förderung der Sache zu dienen (Urteil des BFH IV 171/62 S vom 12. Dezember 1963, BFH 78, 567, BStBl III 1964, 215); die Handlung muß darauf gerichtet sein, den Steueranspruch dem Grunde und/oder der Höhe nach festzustellen. War der gesamte Tatsachenstoff dem FA bekannt, mithin nach § 210 Abs. 1 AO die Steuer festzusetzen, konnte die Sache nicht mehr gefördert werden.
Fundstellen
Haufe-Index 68543 |
BStBl II 1969, 445 |
BFHE 1969, 422 |