Leitsatz (amtlich)
›Hat ein Rechtsanwalt jahrelang unbeanstandet mit einer nach den Anforderungen der Rechtsprechung ungenügenden, verkürzten Unterschrift (Paraphe) unterzeichnet, so ist ihm, wenn eine derartige Unterzeichnung der Rechtsmittelschrift erstmals auf Bedenken des Gerichts stößt, in der Regel Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.‹
Verfahrensgang
OLG Naumburg |
LG Halle (Saale) |
Gründe
I. Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer gesellschaftsrechtlichen Vereinbarung vom 15. Juni 1994 geltend. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das ihm am 5. Juni 1997 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 27. Juni 1997, beim Oberlandesgericht eingegangen zunächst per Telefax am 1. Juli 1997 und sodann im Original am 2. Juli 1997, Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift enthält am Schluß eine maschinenschriftliche Namenswiedergabe des Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt Günther, und ist in diesen Namen hinein handschriftlich unterzeichnet mit einem schmalen großen "G", das nach einem Knick in einer steil aufwärts gerichteten kurzen geraden Linie endet.
Das Oberlandesgericht hat die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß bis zum 1. September 1997 verlängert und nach fristgemäßer Vorlage der Berufungsbegründung der Beklagten eine Frist zur Berufungserwiderung gesetzt. Erstmals mit Schreiben vom 13. Januar 1998, zugestellt am 15. Januar 1998, hat es den Kläger auf Bedenken gegen eine ordnungsgemäße Unterzeichnung der Berufungsschrift hingewiesen. Mit Schriftsatz vom 26. Januar 1998, eingegangen per Telefax am selben Tage, hat der Kläger vorsorglich nochmals Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Er hat unter anderem geltend gemacht, sein Prozeßbevollmächtigter verwende grundsätzlich keine Namenskürzel, unterzeichne vielmehr alle Schriftstücke mit seinem vollen Namen, allerdings je nach Anzahl der zu unterschreibenden Schriftstücke und der Tagesform nicht immer gleichbleibend. Dessen Unterschrift sei bisher noch von keiner Seite beanstandet worden.
Durch den angefochtenen Beschluß hat das Oberlandesgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die vom Kläger rechtzeitig eingelegte sofortige Beschwerde.
II. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Der Kläger hat zwar die Berufungsfrist versäumt. Ihm ist deshalb aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen (§ 233 ZPO).
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Berufungsschrift gemäß § 130 Nr. 6 ZPO i.V.m. § 518 Abs. 4 ZPO durch den Prozeßbevollmächtigten handschriftlich und eigenhändig zu unterschreiben. Dabei muß es sich vom äußeren Erscheinungsbild her um einen Schriftzug handeln, der erkennen läßt, daß der Unterzeichner seinen vollen Namen und nicht nur eine Abkürzung hat niederschreiben wollen; die Abzeichnung mit einer sogenannten Paraphe, bei der offenbleibt, ob eine endgültige Erklärung gewollt ist, reicht grundsätzlich nicht aus (BGH, Urt. v. 22. Oktober 1993 - V ZR 112/92, NJW 1994, 55; v. 10. Juli 1997 - IX ZR 24/97, NJW 1997, 3380, 3181, jew. m.w.N.; ebenso etwa BAG NJW 1996, 3164 f.). Diesen Anforderungen genügen hier die Schriftzeichen unter der Berufungsschrift nach ihrem äußeren Erscheinungsbild nicht. Auch bei großzügiger Betrachtung und unter Berücksichtigung der maschinenschriftlichen Namensangabe (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 8. Januar 1997 - XII ZB 199/96, NJW-RR 1997, 760) läßt sich die sich an den Großbuchstaben "G" anschließende kurze gerade Linie nicht als Fortsetzung des Namens "Günther", der immerhin auch zwei Oberlängen enthält, deuten. Ebensowenig kommt es danach auf die behauptete Übung des Rechtsanwalts, Schriftstücke nur mit seinem vollen Namen zu unterschreiben, an (vgl. BGH, Urt. v. 22. Oktober 1993 aaO). Formwirksam, jedoch verspätet, war somit erst die zweite Berufungsschrift des Klägers vom 26. Januar 1998.
Gegen diese Rechtsprechung sind insbesondere im Hinblick auf eine weitgehende Lockerung der Anforderungen bei Benutzung der modernen Kommunikationsmittel Bedenken erhoben worden (BFH NJW 1996, 1432; Zöller/Greger, ZPO, 20. Aufl., § 130 Rdn. 11; E. Schneider, NJW 1998, 1844; anders hingegen BAG NJW 1996, 3164, 3165). Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat offengelassen, ob dem zu folgen ist (Urt. v. 10. Juli 1997 - IX ZR 24/97 aaO). Der Streitfall gibt ebensowenig Anlaß, diese Frage grundsätzlich zu entscheiden. Denn dem Kläger ist jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen eine Versäumung der Berufungsfrist zu bewilligen.
2. Weder gegen den Kläger noch gegen seinen Prozeßbevollmächtigten, dessen Verschulden er sich zurechnen lassen müßte (§ 85 Abs. 2 ZPO), ist wegen der Versäumung der Berufungsfrist ein Schuldvorwurf zu erheben. Der Rechtsanwalt muß sich zwar über den Stand der Rechtsprechung unterrichten (BGH, Beschl. v. 20. Dezember 1979 - IV ZB 115/78, NJW 1979, 877; Sen.Beschl. v. 9. Januar 1988 - II ZB 11/88, BGHR ZPO § 233 Verschulden 3). Infolgedessen mußten dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers auch die höchstrichterlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze bekannt sein. Auf der anderen Seite genießt der Rechtsanwalt jedoch über den Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung hinaus, der eine Vorwarnung gebietet, falls derselbe Spruchkörper die von ihm längere Zeit gebilligte Form einer Unterschrift nicht mehr hinnehmen will (BVerfGE 78, 123, 126 = NJW 1988, 2787), einen verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz (BVerfG NJW 1998, 1853). Sofern daher die gelegentlich in sehr verkürzter Weise geleistete Unterschrift des Prozeßbevollmächtigten bis dahin, wie er glaubhaft vorträgt und auch das Berufungsgericht nicht anzweifelt, allgemein vor den Gerichten, wenn auch nicht vor dem Berufungssenat, vor dem er nur selten aufgetreten war, jahrelang unbeanstandet geblieben war, durfte er darauf vertrauen, daß sie den in der Rechtsprechung allgemein anerkannten Anforderungen entsprach (vgl. BVerfG aaO; BGH, Beschl. v. 21. Juni 1990 - I ZB 6/90, NJW-RR 1991, 511). Das gilt hier umso mehr, als der Prozeßbevollmächtigte des Klägers - worauf die Beschwerde zu Recht hinweist - bereits in erster Instanz mehrfach Schriftstücke (Empfangsbekenntnisse, Klageerweiterungsschriftsatz vom 11. März 1997) unbeanstandet in gleicher Weise unterzeichnet hatte und sich noch im Berufungsverfahren seine Unterschrift unter dem Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist vom 30. Juli 1997 davon allenfalls geringfügig unterschied, eher noch verkürzter erscheint. Diesen Antrag hat das Berufungsgericht aber selbst als ordnungsgemäß angesehen, da es die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß verlängert hat. Eine spätere abweichende Beurteilung mag gleichwohl zulässig sein, rechtfertigt allein deswegen aber nicht den Vorwurf anwaltlicher Fahrlässigkeit für die Vergangenheit.
Fundstellen
Haufe-Index 2993573 |
BB 1998, 2495 |
DB 1998, 2518 |
DStR 1998, 1841 |
HFR 1999, 670 |
NJW 1999, 60 |
BGHR ZPO § 233 Unterschrift 2 |
BGHR ZPO § 518 Abs. 4 Berufungsschrift 1 |
JurBüro 2000, 56 |
ZAP 1998, 1207 |
ZAP 1999, 185 |
MDR 1999, 53 |
VersR 1999, 467 |