Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverzüglichkeit einer Verzögerungsrüge. Entschädigungsanspruch. überlange Dauer eines Arzthaftungsprozesses
Leitsatz (amtlich)
a) Zur Unverzüglichkeit einer Verzögerungsrüge in einem Verfahren, das bei Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) bereits verzögert war.
b) Wird die Verzögerungsrüge gem. Art. 23 Satz 2 ÜGRG nicht unverzüglich erhoben, besteht ein Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG erst vom Rügezeitpunkt an (Umkehrschluss aus Art. 23 Satz 3 ÜGRG).
c) Geringfügige Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnitten, die gegenüber der Gesamtverfahrensdauer nicht entscheidend ins Gewicht fallen, sind grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmen.
Normenkette
ÜGRG Art. 23 S. 2; ÜGRG Art. 23 S. 3; GVG § 198 Abs. 1, 3 Sätze 1-2
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 10.07.2013; Aktenzeichen 4 EntV 3/13) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats des OLG Frankfurt vom 10.7.2013 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Beklagten erkannt worden ist.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger macht gegen das beklagte Land einen Anspruch auf Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines Arzthaftungsprozesses geltend.
Rz. 2
In dem noch nicht abgeschlossenen Ausgangsverfahren nimmt der Kläger mit seiner am 20.12.2006 beim LG eingereichten Klage einen Arzt auf Schmerzensgeldzahlung i.H.v. 15.000 EUR sowie Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden im Zusammenhang mit einer am 29.4.2004 durchgeführten Knieoperation in Anspruch.
Rz. 3
Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschloss das LG am 20.11.2007 die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Der beauftragte Sachverständige Dr. B. erstellte sein Gutachten unter dem 16.12.2008 und ergänzte es mit Stellungnahme vom 18.6.2010 im Hinblick auf Fragen und Einwände des beklagten Arztes. Widersprüche zwischen dem gerichtlichen Gutachten und einem außergerichtlich erstellten Gutachten führten dazu, dass das LG mit Beweisbeschluss vom 23.12.2010 ein Obergutachten in Auftrag gab, dessen Fertigstellung der neue Sachverständige Prof. Dr. G. bis Ende März 2011 in Aussicht stellte.
Rz. 4
Auf Sachstandsanfrage des LG vom 23.5.2011 beanstandete der Sachverständige das Fehlen der dem Erstgutachter überlassenen Röntgenbilder, obwohl sich diese - wie sich später herausstellte - in der bereits am 26.1.2011 übersandten Gerichtsakte befanden. Für die folgenden sechs Monate sind keine prozessleitenden Anordnungen des Gerichts dokumentiert. Die Nachforschungen der Geschäftsstelle nach dem Verbleib der Röntgenbilder blieben erfolglos. Zudem ging das umfangreiche Post enthaltende Aktenretent verloren. Mit Schreiben vom 7.12.2011 teilte das LG dem Sachverständigen Prof. Dr. G. mit, dass eine Nachfrage bei den Parteien und bei Dr. B. ergeben habe, dass Röntgenbilder dort nicht vorhanden seien, und bat ihn zugleich um erneute Prüfung, ob die Röntgenbilder seinerzeit mit der Gerichtsakte übersandt worden seien. Der Sachverständige reagierte nicht. Sachstandsanfragen des Klägers an das LG vom 28. Februar, 25. Mai und 12.7.2012 blieben unbeantwortet. Mit Anwaltsschriftsatz vom 7.8.2012 erhob der Kläger "Verzögerungsrüge gem. § 198 GVG". Nachdem das LG den Sachverständigen daraufhin unter dem 22.10.2012 um Rückgabe der Akten gebeten und diese Mitte November 2012 erhalten hatte, teilte es dem Kläger mit Schreiben vom 24.1.2013 mit, dass die vermissten Röntgenbilder in den Akten aufgefunden worden seien. Gleichzeitig übersandte es die Akten an den Sachverständigen Prof. Dr. G. mit der Bitte um bevorzugte Bearbeitung.
Rz. 5
Noch bevor der Sachverständige sein Gutachten unter dem 27.5.2013 erstellt hatte, reichte der Kläger am 14.3.2013 die vorliegende Entschädigungsklage beim OLG ein.
Rz. 6
Der Kläger hat geltend gemacht, das Verfahren sei bislang um sechs Jahre verzögert, weil der Rechtsstreit bereits seit dem Erstgutachten des Sachverständigen Dr. B. entscheidungsreif gewesen sei. Die ihm zustehende Entschädigung für immaterielle Nachteile betrage auf der Basis des gesetzlichen Regelsatzes 7.200 EUR.
Rz. 7
Das OLG hat den Beklagten zur Zahlung einer Entschädigung für immaterielle Nachteile von 900 EUR verurteilt. Außerdem hat es festgestellt, dass die Verfahrensdauer über den bei der zugesprochenen Entschädigung bereits berücksichtigen Zeitraum hinaus bisher um weitere vier Monate unangemessen war. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Rz. 8
Mit seiner vom OLG zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils, soweit zum Nachteil des Beklagten erkannt worden ist, und zur Abweisung der Entschädigungsklage in vollem Umfang.
I.
Rz. 10
Das OLG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Rz. 11
Nach Art. 23 Satz 1 Halbs. 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (im Folgenden: ÜGRG) vom 24.11.2011 (BGBl. I, 2302) sei die Entschädigungsregelung der §§ 198 ff. GVG auf den noch beim LG anhängigen Rechtsstreit anwendbar. Die Entschädigungsklage sei als Teilklage zulässig und teilweise begründet. Das Ausgangsverfahren weise bislang eine unangemessene und irreparable Dauer von insgesamt 13 Monaten auf.
Rz. 12
In dem Zeitraum von Ende Mai 2011 bis Anfang Dezember 2011 liege eine Verzögerung von vier Monaten vor. Für die (erfolglosen) Nachforschungen bei den Parteien und dem Sachverständigen Dr. B. nach dem Verbleib der vermeintlich fehlenden Röntgenbilder habe das LG rund sechs Monate benötigt, während der hierfür noch als vertretbar anzusehende Zeitrahmen mit zwei Monaten anzusetzen sei.
Rz. 13
Der nächste sachgerechte Verfahrensschritt sei mit der gerichtlichen Anfrage bei Prof. Dr. G. vom 7.12.2011 erfolgt. Das LG habe jedoch nicht für eine umgehende Erledigung der Bitte um nochmalige Durchsicht der Akten gesorgt. Vielmehr habe der Kammervorsitzende erst mehr als zehn Monate später und zweieinhalb Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge die Akten am 22.10.2012 von Prof. Dr. G. zurückgefordert. Bei sachgerechtem Vorgehen hätte das LG den Verbleib der Röntgenbilder bis Ende Januar 2012 klären können. Das Verfahren sei daher in diesem Abschnitt um weitere neun Monate verzögert worden.
Rz. 14
Für die Folgezeit sei keine weitere Verzögerung festzustellen. Das LG habe sich um eine bevorzugte Erledigung des Gutachtenauftrags bemüht. Demensprechend habe der Sachverständige das Gutachten bereits im Mai 2013 fertig gestellt.
Rz. 15
Die bisher eingetretene Verzögerung von insgesamt 13 Monaten könne bis zum Abschluss des landgerichtlichen Verfahrens nicht mehr kompensiert werden. Die voraussichtliche Gesamtdauer der ersten Instanz von fast sieben Jahren stelle sich bereits jetzt als unangemessen lang dar.
Rz. 16
Hinsichtlich der Verzögerung von vier Monaten, die bis zum Inkrafttreten der neuen Entschädigungsregelung am 3.12.2011 erfolgt sei, sei ein Entschädigungsanspruch des Klägers jedoch ausgeschlossen, weil die Verzögerungsrüge nicht unverzüglich i.S.v. Art. 23 Satz 2 ÜGRG erhoben worden sei. Insoweit sei jedoch nach § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 GVG die unangemessene Verzögerung des Verfahrens festzustellen.
Rz. 17
Für die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erfolgte Verzögerung von neun Monaten sei die regelmäßige Entschädigung von 100 EUR je Monat gem. § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG zuzubilligen. Art. 23 Satz 3 ÜGRG stehe dem nicht entgegen. Denn diese Vorschrift sei dahin auszulegen, dass das Unterlassen einer unverzüglichen Erhebung der Verzögerungsrüge einen Entschädigungsanspruch nur wegen des Zeitraums ausschließe, der vor dem Inkrafttreten des Gesetzes liege. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs wahre die unverzüglich nachgeholte Verzögerungsrüge den Anspruch aus § 198 GVG so, als ob bereits zu dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG festgelegten Zeitpunkt gerügt worden wäre (BT-Drucks. 17/3802, 31). Dann aber dürften dem Betroffenen auch umgekehrt aus der Unterlassung der unverzüglichen Rügeerhebung keine weitergehenden Nachteile entstehen, als sie ihm entstanden wären, wenn das Institut der Verzögerungsrüge des § 198 Abs. 3 GVG bereits früher - als sich das Ausgangsverfahren vor Inkrafttreten des Gesetzes verzögert oder zu verzögern gedroht habe - bestanden hätte. Im Hinblick auf den in § 198 Abs. 3 Satz 2 genannten Zeitpunkt ("Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird") sei jedoch die Verspätung der Rüge grundsätzlich unschädlich, da die Geduld eines Verfahrensbeteiligten nicht "bestraft" werden solle (BT-Drucks. 17/3802, 21).
II.
Rz. 18
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 19
1. Für den Zeitraum bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge am 7.8.2012 steht dem Kläger kein Entschädigungsanspruch wegen überlanger Verfahrensdauer gem. § 198 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 GVG zu, weil es an einer unverzüglichen Rüge nach Art. 23 Satz 2 ÜGRG fehlt und in diesem Fall vor dem Rügezeitpunkt liegende Entschädigungsansprüche nach Art. 23 Satz 3 ÜGRG präkludiert sind.
Rz. 20
a) Zutreffend ist das OLG davon ausgegangen, dass die Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG) nach der Übergangsvorschrift des Art. 23 Satz 1 Halbs. 1 ÜGRG auf den Streitfall Anwendung findet. Danach gilt dieses Gesetz auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten am 3.12.2011 (gemäß Art. 24 ÜGRG) bereits anhängig waren. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Das am 20.12.2006 eingeleitete Ausgangsverfahren war zum maßgeblichen Stichtag weder rechtskräftig abgeschlossen noch anderweitig erledigt.
Rz. 21
b) Die Entschädigungsklage konnte auch schon während des noch andauernden Ausgangsverfahrens erhoben werden. Aus § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG folgt, dass lediglich die hier unproblematische Wartefrist von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge gewahrt sein muss. Der Abschluss des Ausgangsverfahrens ist keine Zulässigkeitsvoraussetzung. Dadurch hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen wollen, dass der Anspruch auf ein zügiges Verfahren schon vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verletzt werden kann und insoweit auch ein Entschädigungsanspruch in Betracht kommt (BT-Drucks. 17/3802, 22). Verfahrensrechtlich handelt es sich bei der Klage während des noch andauernden Ausgangsverfahrens regelmäßig um eine Teilklage, weil Entschädigung nur für einen bestimmten Abschnitt des Gesamtverfahrens verlangt wird (Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rz. 52, 252). Diese setzt voraus, dass unabhängig vom weiteren Verlauf des Ausgangsverfahrens bereits eine Entscheidung über den Entschädigungsanspruch getroffen werden kann. Demensprechend müssen die Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG vollständig erfüllt sein. Eine unangemessene und unumkehrbare Verzögerung des Ausgangsverfahrens sowie endgültig eingetretene Nachteile müssen feststehen. Daneben ist der Betroffene gehalten (haftungsbegründende Obliegenheit), eine Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 Satz 1 und 2 GVG wirksam zu erheben (BGH, Urt. v. 23.1.2014 - III ZR 37/13, NJW 2014, 939 Rz. 27 ff.). Für den frühestmöglichen Rügetermin verlangt das Gesetz einen (konkreten) Anlass zu der Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden kann.
Rz. 22
c) Wird die Entschädigungsregelung - wie hier - nach Art. 23 Satz 1 Halbs. 1 ÜGRG auf Altfälle angewandt, die am 3.12.2011 bereits anhängig, aber noch nicht abgeschlossen waren, wird das Recht der Verzögerungsrüge durch Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGRG an die Besonderheiten dieser Verfahrenskonstellation angepasst (BT-Drucks. 17/3802, 31). Bei Verfahren, die beim Inkrafttreten der Regelung schon verzögert sind, muss die Verzögerungsrüge unverzüglich erhoben werden. Geschieht dies, so wahrt die Rüge den Anspruch aus § 198 GVG rückwirkend in vollem Umfang, d.h. so, als ob bereits zu dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG festgelegten Zeitpunkt gerügt worden wäre (Ott, a.a.O., Art. 23 ÜGRG Rz. 4, 6).
Rz. 23
Die Verzögerungsrüge des Klägers vom 7.8.2012 ist nicht unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erhoben worden, obwohl das Verfahren zu diesem Zeitpunkt, was das OLG rechtsfehlerfrei festgestellt hat, bereits um vier Monate verzögert war. Es wäre erforderlich gewesen, die Rüge binnen eines Zeitraums von längstens drei Monaten zu erheben.
Rz. 24
"Unverzüglich" bedeutet nach der Gesetzesbegründung "ohne schuldhaftes Zögern" (BT-Drucks. 17/3802, 31). Damit wird die Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB in Bezug genommen, die nach allgemeiner Auffassung auch über die Fälle des § 121 BGB hinaus gilt (Palandt/Ellenberger, BGB, 73. Aufl., § 121 Rz. 3).
Rz. 25
Soweit Art. 23 Satz 2 ÜGRG die unverzügliche Erhebung der Verzögerungsrüge nach Inkrafttreten der Entschädigungsregelung verlangt, ist kein sofortiges Handeln geboten. Vielmehr muss dem Betroffenen eine angemessene Prüfungs- und Überlegungsfrist eingeräumt werden, um entscheiden zu können, ob er seine Rechte durch eine Verzögerungsrüge wahren muss. Die von der Rechtsprechung zu § 121 BGB herausgebildete Obergrenze von zwei Wochen (dazu Palandt/Ellenberger, a.a.O.) bzw. die zweiwöchige gesetzliche Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB stellen insoweit einen zu engen Maßstab dar (vgl. BSG, NJW 2014, 253 Rz. 29; BFH, BeckRS 2013, 96642 Rz. 33, 35, 39, 42; OLG Bremen NJW 2013, 2209, 2210; NJW 2013, 3109, 3110; OLG Karlsruhe, BeckRS 2013, 07833). Bei der Bemessung der gem. Art. 23 Satz 2 ÜGRG angemessenen Überlegungsfrist ist vor allem der Zweck des Gesetzes in den Blick zu nehmen, durch die Einräumung eines Entschädigungsanspruchs gegen den Staat bei überlanger Verfahrensdauer eine Rechtsschutzlücke zu schließen und eine Regelung zu schaffen, die sowohl den Anforderungen des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG) als auch denen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6 Abs. 1, Art. 13 EMRK) gerecht wird (BT-Drucks. 17/3802, 15). Es kommt hinzu, dass das Gesetz nur einen Tag vor seinem Inkrafttreten verkündet worden ist (Art. 24 ÜGRG). Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, den Begriff der "Unverzüglichkeit" in Art. 23 Satz 2 ÜGRG weit zu verstehen. Eine zu kurze, wirksamen Rechtsschutz in Frage stellende Frist wäre mit den Erfordernissen eines effektiven Menschenrechtsschutzes nur schwer vereinbar. Der erkennende Senat hält deshalb in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BFH (a.a.O. Rz. 46) eine Drei-Monats-Frist für erforderlich, um den Anforderungen des Art. 13 EMRK zu entsprechen, aber auch für ausreichend, damit Betroffene in allen Fällen prüfen können, ob eine entschädigungspflichtige Verzögerung bereits eingetreten und eine Rügeerhebung deshalb geboten ist.
Rz. 26
Diese großzügig bemessene Frist hat der Kläger mit seiner am 7.8.2012 eingegangenen Verzögerungsrüge deutlich verfehlt.
Rz. 27
d) Entgegen der Auffassung des OLG führt die gem. Art. 23 Satz 2 ÜGRG verspätete Verzögerungsrüge dazu, dass Entschädigungsansprüche wegen überlanger Verfahrensdauer nicht nur bis zum Inkrafttreten des Gesetzes, sondern bis zum tatsächlichen Rügezeitpunkt präkludiert sind. Der Kläger kann deshalb für die vom OLG bis zum 7.8.2012 angenommene Verzögerung von elf Monaten (vier Monate bis zum Inkrafttreten des Gesetzes am 3.12.2011 und weitere sieben Monate bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge) keine Entschädigung verlangen.
Rz. 28
Für dieses Ergebnis sprechen sowohl der Wortlaut und die Systematik des Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGRG als auch die Gesetzgebungsgeschichte sowie der Zweck der Regelung.
Rz. 29
aa) Gemäß Art. 23 Satz 2 ÜGRG muss die Verzögerungsrüge unter den dort genannten Voraussetzungen "unverzüglich nach Inkrafttreten erhoben" werden. Daran anknüpfend bestimmt Art. 23 Satz 3 ÜGRG, dass in diesem Fall die Verzögerungsrüge einen Anspruch nach § 198 GVG auch für den "vorausgehenden Zeitraum" wahrt. Damit ist ersichtlich der Zeitraum gemeint, der bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge verstrichen ist. Die Revision macht zu Recht geltend, dass sich der Satzbestandteil des "vorausgehenden Zeitraums" nach Wortlaut und Stellung unmittelbar auf die "Erhebung der Verzögerungsrüge" bezieht. Im Umkehrschluss folgt aus Art. 23 Satz 3 ÜGRG, dass bei verspäteter Rüge Entschädigungsansprüche nach § 198 GVG erst vom Rügezeitpunkt an entstehen können und für die Zeit davor Präklusion eintritt. Dieses Verständnis der Regelung entspricht auch der wohl einhelligen Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur (vgl. nur OLG Bremen NJW 2013, 2209, 2210 und NJW 2013, 3109, 3110 mit eindeutigen Ausführungen in den Entscheidungsgründen und lediglich missverständlich gefassten Leitsätzen; OLG Karlsruhe, BeckRS 2013, 07833; LSG Berlin-Brandenburg, BeckRS 2013, 72538 und BeckRS 2013, 72539; Heine, MDR 2013, 1147; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 196 und Art. 23 ÜGRG Rz. 6).
Rz. 30
bb) Soweit das OLG darauf abstellen will, dass im Falle des § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG eine Verspätung der Rüge grundsätzlich nicht relevant sei (dazu Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 194 unter Hinweis auf BT-Drucks. 17/3802, 21, 35 u. 41) und im Anwendungsbereich des Art. 23 Satz 3 ÜGRG nichts anderes gelten könne, wird außer Acht gelassen, dass beide Vorschriften unterschiedliche Anknüpfungspunkte haben und sich nach Sinn und Zweck grundlegend unterscheiden.
Rz. 31
§ 198 Abs. 3 Satz 2 GVG regelt den Zeitpunkt, zu dem die Verzögerungsrüge frühestens wirksam erhoben werden kann. Maßgeblich ist danach der Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird (Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 186, 188). Die Verzögerungsrüge muss lediglich im laufenden Ausgangsverfahren erhoben werden, ohne dass ein Endtermin bestimmt und damit eine Frist für die Rüge festgelegt wird. Da nach dem Willen des Gesetzgebers die Geduld eines Verfahrensbeteiligten nicht bestraft werden soll (BT-Drucks. 17/3802, 21, 41), ist es nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG grundsätzlich unerheblich, wann die Rüge nach dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG bestimmten Zeitpunkt eingelegt wird. Dadurch soll das gesetzgeberische Ziel, keinen Anreiz für verfrühte Rügen zu schaffen, verwirklicht werden (Marx in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren, § 198 GVG Rz. 135; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 194).
Rz. 32
Davon abweichend ist Anknüpfungspunkt für die Übergangsregelung des Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGRG der spätestmögliche Zeitpunkt, zu dem eine Verzögerungsrüge erhoben werden muss (Ott, a.a.O., Art. 23 ÜGRG Rz. 4). Der für § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG maßgebliche Gesichtspunkt, dass die Geduld eines Verfahrensbeteiligten nicht bestraft werden soll, spielt hier keine Rolle. Vielmehr muss der Betroffene innerhalb einer angemessenen Prüfungsfrist entscheiden, ob er die Verzögerungsrüge zur Rechtswahrung wegen bereits eingetretener Verzögerungen erhebt. Dies rechtfertigt es, dass bei nicht rechtzeitiger Rüge Ansprüche erst vom Rügezeitpunkt an begründet werden (vgl. Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 196).
Rz. 33
cc) Dieses Verständnis der Übergangsvorschrift wird durch die Entstehungsgeschichte der Entschädigungsregelung zusätzlich gestützt. In dem Referentenentwurf vom 15.3.2010 (abgedruckt bei Steinbeiß-Winkelmann/Ott, a.a.O., Anhang 5 S. 410 ff.) wurde noch davon ausgegangen, dass ein Entschädigungsanspruch nur in Betracht komme, "soweit" die Verzögerungsrüge rechtzeitig zu dem in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG genannten Zeitpunkt erhoben werde, und dass die Entschädigung für den davor liegenden Zeitraum ausgeschlossen sei. Eine verspätete Rüge sollte dementsprechend zu einem Anspruchsverlust führen (Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 194; Steinbeiß-Winkelmann, a.a.O., Einführung Rz. 224, 316).
Rz. 34
Die mit Art. 23 Satz 2 und 3 ÜGRG übereinstimmende Übergangsregelung in Art. 16 Satz 3 und 4 ÜGRG-RefE knüpfte daran an und sah bei einer verspäteten Rüge eine Kürzung des Entschädigungsanspruchs für den vor der Rüge liegenden Zeitraum vor (s. auch Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 196). Diese Bestimmung ist - anders als § 198 Abs. 3 Satz 1 und 2 GVG - im weiteren Gesetzgebungsverfahren inhaltlich nicht mehr verändert worden.
Rz. 35
2. Für den Zeitraum bis zur Erhebung der Verzögerungsrüge vom 7.8.2012 scheidet auch eine Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer nach § 198 Abs. 4 Satz 3 Halbs. 2 GVG aus. Nach dieser Vorschrift ist ein Feststellungsausspruch zur Verfahrensverzögerung trotz fehlenden Entschädigungsanspruchs nach dem Ermessen des Gerichts möglich, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des § 198 Abs. 3 GVG nicht erfüllt sind. Da die Präklusionswirkung des Art. 23 Satz 3 ÜGRG jedoch nicht nur den Anspruch auf Geldentschädigung, sondern ohne Einschränkung alle Formen der Wiedergutmachung nach § 198 GVG erfasst, soweit sie sich auf Verzögerungen vor Rügeerhebung beziehen, findet § 198 Abs. 4 GVG im Streitfall keine Anwendung. Die Versäumung der Rügefrist hat zur Folge, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer vom Entschädigungsgericht nicht mehr überprüft wird.
Rz. 36
3. Es kann dahin stehen, ob der Zeitraum von rund zwei Monaten zwischen der Erhebung der Verzögerungsrüge und der Rückforderung der Akten von dem Sachverständigen Prof. Dr. G. am 22.10.2012 - wie das OLG meint - sachlich nicht mehr gerechtfertigt war. Denn eine solche Verfahrenslücke wäre entschädigungsrechtlich ohne Relevanz.
Rz. 37
Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs nach § 198 GVG an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG) wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss. Es reicht nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus (BGH, Urt. v. 5.12.2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rz. 42, 55). Allzu "kleinteilige" Überlegungen sind bei der Bemessung der (noch) akzeptablen Verfahrensdauer verfehlt. Für die Anwendung eines eher größeren Zeitrahmens spricht auch, dass § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG die Entschädigungspauschale von 1.200 EUR für immaterielle Nachteile lediglich als Jahresbetrag ausweist und die Verzögerungsrüge gem. § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 GVG frühestens nach einem halben Jahr wiederholt werden kann (Schlick, FS für Klaus Tolksdorf, S. 549, 555). Bei geringfügigen Verzögerungen in einzelnen Verfahrensabschnitten, die gegenüber der Gesamtverfahrensdauer nicht entscheidend ins Gewicht fallen, werden eine Geldentschädigung oder sonstige Wiedergutmachung daher regelmäßig nicht in Betracht kommen (BGH, Urt. v. 13.2.2014 - III ZR 311/13, BeckRS 2014, 04692 Rz. 28; s. auch BVerfG, Beschl. v. 14.12.2010 - 1 BvR 404/10, juris Rz. 16; Steinbeiß-Winkelmann/Sporrer, NJW 2014, 177, 182 zur Frage einer "Geringfügigkeitsschwelle"). So liegt der Fall hier. Bei einem mehrjährigen Arzthaftungsprozess, der durch eine umfangreiche und kontroverse Beweisaufnahme mit Einholung mehrerer Gutachten und Gutachtenergänzungen gekennzeichnet ist, wahrt eine Verfahrensverzögerung von zwei Monaten noch den entschädigungslos hinzunehmenden Toleranzrahmen.
Rz. 38
4. Dem OLG kann auch nicht darin gefolgt werden, dass eine erstinstanzliche Verfahrensdauer von nahezu sieben Jahren schon für sich genommen als unangemessen einzustufen sei. Diese Betrachtungsweise lässt außer Acht, dass selbst bei einem mehrjährigen Verfahrenszeitraum dessen Angemessenheit nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen ist (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Es ist unabdingbar, die einzelfallbezogenen Gründe zu untersuchen, auf denen die Dauer des Verfahrens beruht, und diese im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung umfassend zu würdigen und zu gewichten (BGH, Urt. v. 5.12.2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rz. 40 f.). Angesichts einer rechtlich relevanten Verzögerung von allenfalls zwei Monaten war deshalb die prognostizierte erstinstanzliche Gesamtverfahrensdauer von knapp sieben Jahren nicht geeignet, Entschädigungsansprüche zu begründen.
Rz. 39
5. Den Ausführungen des OLG, die eingetretenen Verzögerungen seien irreparabel, weil sie nicht mehr bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens kompensiert werden könnten, liegt ersichtlich die Vorstellung zugrunde, die Kompensationsmöglichkeit einer etwaigen Verzögerung sei nur für die jeweilige Instanz zu untersuchen. Indes ist bei der abschließenden Gesamtwürdigung das gesamte Verfahren in den Blick zu nehmen und zu fragen, ob Verzögerungen innerhalb einer späteren Phase des Prozesses kompensiert wurden (BGH, Urt. v. 14.11.2013 - III ZR 376/12, NJW 2014, 220 Rz. 30; v. 5.12.2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rz. 41; v. 23.1.2014 - III ZR 37/13, NJW 2014, 939 Rz. 37; v. 13.2.2014 - III ZR 311/13, BeckRS 2014, 04692 Rz. 28). Dies kann auch dadurch geschehen, dass das zunächst verzögerte Verfahren in einer höheren Instanz besonders zügig geführt wird (Heine, MDR 2013, 1081, 1085; Ott, a.a.O., § 198 GVG Rz. 101).
III.
Rz. 40
Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben, soweit zum Nachteil des Beklagten erkannt worden ist (§ 562 Abs. 1 ZPO).
Rz. 41
Die Sache ist zur Endentscheidung reif, so dass der Senat die Klage insgesamt abweisen kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 6755801 |
BB 2014, 1153 |