Leitsatz (amtlich)
Die Klage gegen die Verhängung einer Sperrfrist nach den AVAVG §§ 78 ff betrifft nur den Anspruch auf eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen im Sinne des SGG § 144 Abs 1 Nr 2.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-04-03; AVAVG § 78 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Die Klage gegen die Verhängung einer Sperrfrist nach den §§ 78 ff des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der Fassung vom 3. April 1957 betrifft nur den Anspruch auf eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes.
Gründe
I
Der Kläger fühlt sich durch einen Bescheid des Arbeitsamts F vom 24. Juni 1958 beschwert; dieser lautet:
"Sie erhalten ab 1. Juni 1958 nach § 80 AVAVG für 24 Wochentage kein Arbeitslosengeld. Gründe: Sie haben die Arbeitsstelle "F" ohne berechtigten oder wichtigen Grund aufgegeben."
Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Die Berufung verwarf das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 25. November 1959 nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig.
Auf die Revision des Klägers hat der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) am 20. September 1960 beschlossen, dem Großen Senat nach § 43 SGG folgende Frage vorzulegen:
"Betrifft die Klage gegen die Verhängung einer Sperrfrist nach den §§ 78 ff AVAVG nF lediglich den Anspruch auf eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ?"
II
Gegen die Zulässigkeit der Vorlage bestehen keine Bedenken. Die Frage des 7. Senats ist zu bejahen.
III
Nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist die Berufung nicht zulässig bei Ansprüchen auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (3 Monaten). Unter "Anspruch" in diesem Sinne ist nach herrschender Meinung der prozeßrechtliche Anspruch zu verstehen, d. h. das auf rechtskräftige Feststellung bestimmter Rechtsfolgen gerichtete Begehren (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., S. 414, 420; BSG 2, 135, 136; 4, 206, 208). Dieser prozeßrechtliche Anspruchsbegriff ist gleichbedeutend mit dem Begriff "Streitgegenstand"; das Gericht entscheidet nach § 322 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ebenso wie nach § 123 SGG über den "erhobenen Anspruch" (Rosenberg aaO; darüber, daß der Streitgegenstand im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nicht anders abzugrenzen ist als im Zivilprozeß, vgl. BSG 9, 17, 20). Es kommt also darauf an, ob Streitgegenstand eines Verfahrens, in welchem sich ein Arbeitsloser gegen die Verhängung einer Sperrfrist wendet, eine "Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen" ist. Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu untersuchen, welchen rechtlichen Gehalt die Verhängung einer Sperrfrist hat.
Im vorliegenden Fall ist die Sperrfrist im Jahre 1958 verfügt worden. Die Vorschriften für ihre Beurteilung sind in den §§ 78 ff des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl I 321) - AVAVG n F - enthalten. Die bisherige Rechtsprechung des 7. Senats zu Sperrfristverfügungen betraf die Rechtslage nach dem AVAVG a F.
§ 78 AVAVG nF bestimmt:
"Das Arbeitslosengeld ist für 24 Tage zu versagen (Sperrfrist), wenn der Arbeitslose sich ohne berechtigten Grund ... weigert, eine Arbeit anzunehmen oder anzutreten ...."
Die §§ 79, 80 AVAVG nF schreiben Entsprechendes für den Fall vor, daß der Arbeitslose sich ohne berechtigten Grund weigert, sich einer beruflichen Ausbildung oder Fortbildung oder einer Umschulung zu unterziehen, oder daß er ohne wichtigen oder berechtigten Grund seine Arbeitsstelle aufgegeben oder durch ein Verhalten verloren hat, das zur fristlosen Entlassung berechtigt. Nach § 81 AVAVG nF kann in milderen Fällen eine kürzere, in schwereren eine längere Sperrdauer (mindestens 12, höchstens 48 Tage) festgesetzt werden. § 83 Satz 1 AVAVG nF ermächtigt das Arbeitsamt, dem Arbeitslosen, dem seit der letzten Erfüllung einer Anwartschaftszeit wiederholt eine Sperrfrist auferlegt worden ist und der erneut Anlaß zu ihrer Verhängung gibt, den ihm noch zustehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld überhaupt zu entziehen.
Die Verhängung einer Sperrfrist nach diesen Vorschriften ist ein Verwaltungsakt; das Arbeitsamt regelt damit einen Einzelfall auf dem Gebiete des zum öffentlichen Recht gehörenden Rechts der Arbeitslosenversicherung. Inhalt dieses Verwaltungsakts ist die Anordnung, daß der Arbeitslose für eine bestimmte Zeit (höchstens 48 Tage, also jedenfalls für einen Zeitraum von nicht mehr als 13 Wochen) die Versicherungsleistung (Arbeitslosengeld) nicht erhält. Der Verwaltungsakt enthält weiter Ausführungen darüber, warum die gesetzlichen Voraussetzungen der Anordnung vorliegen, daß also zB der Arbeitslose seine Arbeitsstelle ohne wichtigen oder berechtigten Grund aufgegeben oder daß er eine ihm angebotene Arbeit unberechtigt abgelehnt habe. Darin ist nicht selten in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße der Vorwurf enthalten, daß der Arbeitslose nicht die erforderliche Arbeitswilligkeit besitze.
Gegen diesen ihn belastenden Verwaltungsakt wendet sich der Arbeitslose, wenn er gegen die Verhängung einer Sperrfrist den Rechtsweg beschreitet. Er will erreichen, daß ihm das für höchstens 48 Tage gesperrte Arbeitslosengeld gezahlt wird, er begehrt also eine "Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen". Dies ist der Kern und auch der "Streitgegenstand" des gerichtlichen Verfahrens. Dabei ist es gleich, ob der Arbeitslose sein Begehren in das prozessuale Gewand der Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG), der Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) oder der Feststellungsklage (§ 55 SGG) kleidet oder ob er Anfechtungs- und Leistungsklage erhebt. Die Anfechtungsklage allein schon löst, wenn sie zur Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts führt, die Zahlungspflicht des Arbeitsamts aus. Dasselbe Ergebnis haben auch die anderen Klagen. In allen Fällen wird geltend gemacht, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig sei. Rechtswidrig ist er aber nur, wenn er das Arbeitslosengeld zu Unrecht sperrt. Jede Klage enthält die Behauptung, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig, und mit jeder Klage verfolgt der Arbeitslose das Ziel, das Arbeitslosengeld - entgegen der Anordnung in dem Bescheid - ausgezahlt zu erhalten; es geht ihm um "Leistungen für einer Zeitraum bis zu 13 Wochen". Das Ziel der Klage aber ist für die Frage nach dem Streitgegenstand entscheidend (BSG 4, 206, 208).
IV
Es ist nicht zu verkennen, daß das Institut der Sperrfrist für das Arbeitsleben von großer Bedeutung ist. Die Arbeitslosenversicherung kennt es seit ihrer Einführung im Jahre 1928; seitdem ist es im AVAVG ausführlich geregelt. Die Grundzüge dieser Regelung haben unverändert die Weimarer Republik, die Jahre der Diktatur, die Zeit der Besetzung durch die Siegermächte und der Ländergesetzgebung überdauert und Aufnahme in das Recht der Bundesrepublik gefunden. Auch ist nicht zu übersehen, daß der Arbeitnehmer, wenn ihm in einem Sperrfristbescheid direkt oder indirekt Arbeitsunwilligkeit vorgeworfen wird, dies als "Diskriminierung" empfindet, zumal sich nicht verhindern läßt, daß dieser Makel einem unbegrenzten Kreise von Menschen bekannt wird, nämlich den Arbeitskameraden des bisherigen oder des künftigen Betriebes, anderen Arbeitslosen und nicht zuletzt auch dem Personal des Arbeitsamts, das aus der Sperrfrist Folgerungen für die weitere Arbeitsvermittlung dieses Bewerbers und für seine Ansprüche auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe zieht. Das ändert aber nichts daran, daß die Regelung, die in dem Bescheid des Arbeitsamts enthalten ist, sich nur auf die zeitweise Versagung des Arbeitslosengeldes bezieht. Die "Diskriminierung" ist nicht im Verfügungssatz, sondern lediglich in der Begründung des Bescheides enthalten (über die Unterscheidung zwischen Verfügungssatz und Begründung vgl. BSG 9, 80, 84); der Vorwurf der Arbeitsunwilligkeit ist für sich allein noch keine Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts.
Auch kann - jedenfalls nach dem AVAVG nF - nicht gesagt werden, durch die Versagung des Arbeitslosengeldes für die Dauer der Sperrfrist werde die "Substanz" des Anspruchs auf Arbeitslosengeld berührt. Der 7. Senat hat in dem Urteil vom 12. Mai 1959 (SozR SGG § 144 Bl. Da 4 Nr. 15) dargelegt, daß die Verhängung einer Sperrfrist notwendig die vorherige Bewilligung des Arbeitslosengeldes auch für die Dauer der Sperrfrist voraussetzt und daß deshalb die zeitweilige Versagung gerade nicht die teilweise Ablehnung des Anspruchs dem Grunde nach bedeutet. Schon das Reichsversicherungsamt hat in der grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3714 (AN 1930 IV 191) ausgeführt, die Verhängung einer Sperrfrist bedeute nicht, daß der Anspruch während der Sperrfrist erloschen sei; sie setze vielmehr das Bestehen eines Anspruchs voraus. Ähnlich wie in den Fällen, in denen Ansprüche auf öffentlich-rechtliche Leistungen wiederkehrender Art kürzere oder längere Zeit ruhen (zB nach § 189 der Reichsversicherungsordnung - RVO -, § 64 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -, § 22 des Bundesentschädigungsgesetzes und § 287 Abs. 2 und 3 des Lastenausgleichsgesetzes), bleibt auch hier das "Stammrecht" unberührt; nur werden für die Dauer der Sperrfrist die jeweils fälligen Einzelleistungen unterbrochen (vgl. BSG 5, 4). Allerdings ist richtig, daß die Sperrfrist ein dem Recht der Arbeitslosenversicherung eigentümliches Institut ist und ausschließlich im AVAVG vorkommt, doch finden sich auf anderen Rechtsgebieten gewisse Parallelen, mag auch die Zahl der Anwendungsfälle erheblich geringer sein. Vorschriften, nach denen bei einem bestimmten von der Rechtsordnung mißbilligten Verhalten des Berechtigten zeitweise keine Leistungen gewährt werden, gibt es zB in der Krankenversicherung (§ 192 RVO), in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (§§ 1243 RVO, § 64 des Angestelltenversicherungsgesetzes, § 87 des Reichsknappschaftsgesetzes), in der Unfallversicherung (§ 606 RVO), im Versorgungsrecht (§ 63 BVG) und im Kassenarztrecht (§ 368 n Abs. 4 RVO; vgl. dazu Urteil des BSG vom 29.5.1962, SozR SGG § 144 Bl. Da 8 Nr. 21). Die §§ 192, 606, 1243 RVO zB bestimmen ähnlich wie die §§ 78 ff AVAVG nF, daß Leistungen zeitweise "versagt" werden können, "wenn" der Berechtigte ein bestimmtes versicherungswidriges Verhalten zeigt. Hier wird von der Rechtsprechung des BSG in keinem Falle angenommen, daß nicht nur die Entscheidung der Verwaltungsbehörde über die zeitweise Versagung der Leistung Gegenstand des Verfügungssatzes ihres Bescheides ist, sondern auch die Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen ("wenn ...") der Versagung. Von derselben Auffassung im AVAVG auszugehen, erscheint um so mehr berechtigt, als der Begriff der "Versagung" hier in offensichtlicher Anpassung an die Ausdrucksweise in den anderen Bereichen erst durch die §§ 78 ff AVAVG n F eingeführt worden ist, nachdem die §§ 90 ff AVAVG a F noch "... erhält ... keine Arbeitslosenunterstützung" formuliert haben.
V
Betrifft hiernach der Streit um die Verhängung einer Sperrfrist seinem Gegenstande nach eine "wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen", so entspricht es schließlich auch dem Zweck des § 144 SGG, in einem solchen Falle den Rechtsweg zu beschränken. Nach den §§ 144 bis 149 SGG ist die Berufung ausgeschlossen in Fällen, die für die Beteiligten wirtschaftlich von minderer Bedeutung sind. Das gilt vor allem für einmalige Leistungen für kürzere Zeiträume, bei Beginn und Höhe einer Rente. Hier mutet das Gesetz dem unterlegenen Beteiligten im allgemeinen zu, sich mit dem Urteil einer einzigen gerichtlichen Instanz zufriedenzugeben. Solche Streitigkeiten sollen grundsätzlich von den Landessozialgerichten ferngehalten werden. Diese Gesichtspunkte treffen aber überwiegend auch für verhängte Sperrfristen zu. Durch sie wird der Arbeitslose nur für einen begrenzten Zeitraum, für einige Wochen, berührt. Daran ändert auch nichts, daß nach § 83 Satz 1 AVAVG nF die wiederholte Verhängung einer Sperrfrist Anlaß für eine völlige Entziehung des Anspruchs geben kann.
Nach alledem ist die Frage des 7. Senats zu bejahen. Gegen das Urteil des Sozialgerichts im Streit um die Verhängung einer Sperrfrist im Sinne der §§ 78 ff AVAVG nF (seit April 1957) ist die Berufung durch § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen.
Fundstellen