Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Dispositionsmaxime gem § 123 SGG. Umfang und Gegenstand des Berufungsverfahren. Antrag des Beteiligten. Unterscheidung. Anerkennung einer Listen-Berufskrankheit. Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit. unterschiedliche Versicherungsfälle trotz derselben zugrundeliegenden Krankheit. gesonderte Geltendmachung. Haupt- und Hilfsantrag. Umfang der Prüfungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Zwischen dem Begehren auf Anerkennung einer bestimmten Listen-BK und dem auf Anerkennung einer Wie-BK ist zu unterscheiden. Ist der Gegenstand des Berufungsverfahrens auf die Anerkennung einer Listen-BK begrenzt, besteht keine Zuständigkeit des LSG zur Entscheidung über eine Wie-BK.
Orientierungssatz
Hat nur der vor dem SG unterlegene Beteiligte Berufung eingelegt, kann das Urteil des SG nicht zu seinem Nachteil geändert werden.
Normenkette
SGB 7 § 9 Abs. 1-2; BKV; SGG §§ 123, 202; ZPO § 528; SGG § 157
Verfahrensgang
Tatbestand
Umstritten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) und die Gewährung einer Verletztenrente.
Der im Jahre 1944 geborene Kläger war von Januar 1962 bis Juli 1994 im Steinkohlebergbau beschäftigt. Am 9. September 1997 erstattete der ihn behandelnde Arzt eine "ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit" wegen Atemwegsbeschwerden. Die beklagte Bergbau-Berufsgenossenschaft zog Auskünfte des Klägers, ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD), der 105 Feinstaubjahre für den Kläger ermittelte, sowie ärztliche Unterlagen über diesen bei. Aufgrund der Aussage ihres beratenden Arztes, der Versicherungsfall sei bei dem Kläger am 15. November 1990 eingetreten, lehnte die Beklagte Leistungen wegen einer BK nach Nr 4111 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung vom 31.10.1997 (BGBl I 2623, im Folgenden: BK 4111 und BKV 1997) ab, weil der Versicherungsfall nicht nach dem 31. Dezember 1992 liege (Bescheid vom 20. März 1998, Widerspruchsbescheid vom 26. August 1998).
Das angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, "bei dem Kläger ab 02. September 1997 die Berufskrankheit Nr 4111 anzunehmen" und ihm eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH zu gewähren (Urteil vom 28. Oktober 1999). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 28. Juni 2007) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Gegenstand des Verfahrens sei die Anerkennung und Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis als BK, sei es als Wie-BK oder als BK 4111. Es sei unerheblich, dass die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung als Wie-BK in dem angefochtenen, ablehnenden Bescheid nicht als solche ausdrücklich aufgeführt habe, weil sie dies nach der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht für erforderlich gehalten habe (Hinweis auf BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 9; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 14). Die Auslegung ihrer Bescheide aus Sicht eines verständigen Erklärungsempfängers ergebe, dass die Beklagte es abgelehnt habe, eine chronische obstruktive Bronchitis als BK anzuerkennen und zu entschädigen. Damit habe sie jedenfalls konkludent auch die Anerkennung und Entschädigung einer Wie-BK abgelehnt.
Das Urteil des SG sei im Ergebnis zu bestätigen. Beim Kläger liege eine chronische obstruktive Bronchitis vor, deren Anerkennung als BK 4111 die Beklagte zwar die rechtshindernde Einwendung "Versicherungsfall vor dem Stichtag" aus § 6 Abs 1 BKV 1997 entgegenhalten könne, weil der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1993 eingetreten sei. Der streitige Anspruch folge indes aus § 9 Abs 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII). Dass der Kläger einen Anspruch auf Anerkennung seiner chronischen obstruktiven Bronchitis als Wie-BK seit dem 29. August 1997 gehabt habe, sei zwischen den Beteiligen ebenfalls nicht umstritten. Der Versicherte habe Anspruch auf zügige Durchführung seines Verwaltungsverfahrens. Ein Anspruch auf Anerkennung einer Wie-BK, der nach dem zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife geltenden Recht bestehe, gehe durch ein Hinauszögern seitens der Beklagten nicht unter ( BVerfG vom 23. Juni 2005 - 1 BvR 235/00 - SozR 4-1100 Art 3 Nr 32) . Im Verfahren des Klägers seien der Beklagten bereits am 3. November 1997 nach dem Vorliegen der Stellungnahme des TAD alle Tatsachen bekannt gewesen, die sie für eine Anerkennungsentscheidung benötigt habe. Auch wenn nicht von der Entscheidungsreife des Anspruchs des Klägers vor dem 1. Dezember 1997 ausgegangen werde, sei der Entschädigungsanspruch begründet. Zurecht habe das BSG (Hinweis auf das Urteil des Senats vom 27. Juni 2006 - B 2 U 5/05 R - BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2) aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. Juni 2005 gefolgert, dass nicht einmal Entscheidungsreife vor der Aufnahme in die BK-Liste erforderlich sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Entschädigung seiner chronischen obstruktiven Bronchitis wie eine BK nach § 9 Abs 2 SGB VII. Nach dem Inkrafttreten der Rückwirkungsbestimmung des Verordnungsgebers in Bezug auf eine neue BK gelte diese Rückwirkungsbestimmung auch für diejenigen Verwaltungsverfahren, die vor dem Inkrafttreten von § 9 Abs 2 SGB VII umfasst gewesen wären. Dies entspreche auch der Rechtsprechung des BVerfG (Beschlüsse vom 9. Oktober 2000 - 1 BvR 791/95 - SozR 3-2200 § 551 Nr 15 sowie vom 23. Juni 2005 - 1 BvR 235/00 - SozR 4-1100 Art 3 Nr 32) und der früheren Rechtsprechung des BSG (vgl zuletzt BSGE 85, 24 = SozR 3-2200 § 551 Nr 13) . Dem Urteil des 2. Senats des BSG vom 27. Juni 2006 könne nicht gefolgt werden, zumal dies ebenfalls zu einer Ungleichbehandlung von Versicherten führe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 2007 sowie das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28. Oktober 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Der die revisionsführende, beklagte Bergbau-Berufsgenossenschaft gerichtlich vertretende (§ 36 Abs 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch) Geschäftsführer der Beklagten hat zwar nicht selbst gehandelt, sich aber ordnungsgemäß vertreten lassen, weil die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung von seinem Stellvertreter unterzeichnet wurden und er in der mündlichen Verhandlung durch eine bei der Beklagten beschäftigte und bevollmächtigte Volljuristin vertreten wurde.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur die durch das LSG erfolgte Verurteilung der Beklagten, bei dem Kläger eine chronische obstruktive Bronchitis als Wie-BK nach § 9 Abs 2 SGB VII anzuerkennen und ihm eine Verletztenrente zu gewähren. Im Tenor seines Urteils wird zwar vom LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen, nach dessen Tenor die Beklagte verurteilt wird, "bei dem Kläger ab 02. September 1997 die Berufskrankheit Nr 4111 anzunehmen" und ihm eine Verletztenrente zu gewähren. In seinen Entscheidungsgründen führt das LSG jedoch aus, einer Anerkennung der Erkrankung des Klägers als BK 4111 stehe die Stichtagsregelung des § 6 Abs 1 BKV 1997 entgegen, der streitige Anspruch folge indes aus der Vorschrift über Wie-BKen in § 9 Abs 2 SGB VII. Ein unklarer Tenor ist nach gefestigter Rechtsprechung anhand des übrigen Urteils auszulegen (vgl nur BSGE 6, 97; BSG SozR 1500 § 136 Nr 6; BSG vom 8.2.2007 - B 9b SO 5/05 R). Obwohl das LSG den Tenor des Urteils des SG nicht geändert hat, steht aufgrund der Ausführungen des LSG in den Entscheidungsgründen seines Urteils fest, dass es entgegen dem SG einen Anspruch auf Anerkennung einer Listen-BK 4111 beim Kläger verneint und seine Zurückweisung der Berufung der Beklagten mit dem Vorliegen einer Wie-BK begründet hat. Da nur die Beklagte Revision eingelegt hat, nicht aber der Kläger, ist nur die Verurteilung der Beklagten auf Anerkennung einer chronischen obstruktiven Bronchitis als Wie-BK sowie die Gewährung einer Verletztenrente Gegenstand des Revisionsverfahrens, nicht aber eine Bestätigung des Urteils des SG hinsichtlich der im erstinstanzlichen Verfahren zugesprochenen Anerkennung der Erkrankung des Klägers als BK 4111.
Die Revision ist begründet. Das LSG durfte über die Anerkennung der chronischen obstruktiven Bronchitis des Klägers als Wie-BK keine Entscheidung treffen, weil die Anerkennung einer Wie-BK beim Kläger nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens war.
Ebenso wie das Klageverfahren insgesamt ist der Umfang und Gegenstand des Berufungsverfahrens aufgrund der Dispositionsmaxime der Beteiligten (§ 123 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) abhängig von den Anträgen der Beteiligten (§ 202 SGG, § 528 Zivilprozessordnung) . Nur soweit ein vor dem SG unterlegener Beteiligter Berufung eingelegt hat, ist das Urteil des SG durch das LSG zu überprüfen. Hat nur der vor dem SG unterlegene Beteiligte Berufung eingelegt, kann das Urteil des SG nicht zu seinem Nachteil geändert werden (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 157 RdNr 1a) .
Vorliegend hat das SG die Beklagte verurteilt, "bei dem Kläger ab 02. September 1997 die Berufskrankheit Nr 4111 anzunehmen". Hiergegen hat alleine die Beklagte Berufung eingelegt und die Aufhebung dieser Verurteilung begehrt. Angesichts dessen ist für die oben aufgezeigte Verurteilung der Beklagten seitens des LSG zur Anerkennung einer Wie-BK beim Kläger keine Zuständigkeit des LSG zu erkennen. Die Entscheidung hierüber war von keinem Beteiligten beim LSG beantragt worden.
Dass zwischen der Entscheidung des Versicherungsträgers und ggf des Gerichts im Gerichtsverfahren über die Anerkennung einer bestimmten Listen-BK oder einer Wie-BK zu unterscheiden ist, entspricht der gefestigten Rechtsprechung des Senats (vgl nur BSG SozR 4-1500 § 55 Nr 4) . Denn eine Entscheidung über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer BK kann sich angesichts der völlig verschiedenen Voraussetzungen für die derzeit insgesamt 68 Listen-BKen in der Anlage zur BKV sowie die eventuell zu prüfenden Wie-BKen nach § 9 Abs 2 SGB VII immer nur auf einzelne Listen- oder Wie-BKen beziehen.
Die Revision der Beklagten ist auch hinsichtlich der Gewährung einer Verletztenrente nach § 56 SGB VII begründet und ihre dahingehende Verurteilung aufzuheben, weil kein Versicherungsfall vorliegt. Eine Listen-BK 4111 hat das LSG rechtskräftig verneint und hinsichtlich der Anerkennung einer Wie-BK ist sein Urteil aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in der bis zum Inkrafttreten des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl I 2144) am 2. Januar 2002 geltenden Fassung, weil die Klage vorher erhoben wurde (BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24) .
Fundstellen
Haufe-Index 2136295 |
NZS 2009, 579 |