Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Schwaben |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Dezember 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1941 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er hat in seiner süditalienischen Heimat die Schule nur kurz besucht und keinen Beruf erlernt. Seit 1962 lebt er in der Bundesrepublik Deutschland. Hier war er ab 1963 bei verschiedenen Unternehmen als Arbeiter beschäftigt, von Februar 1987 bis September 1989 bei der Firma K. GmbH, F.
Im Zusammenhang mit einer Hüftgelenksoperation erhielt der Kläger von Februar 1989 bis September 1991 EU-Rente auf Zeit von der Beklagten. Den im Juni 1991 gestellten Weitergewährungsantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. November 1991 ab. Während des anschließenden Widerspruchsverfahrens arbeitete der Kläger ab 6. Januar 1992 erneut bei der Firma K. als Baufachwerker, zuletzt mit einer Entlohnung nach Lohngruppe VI des Tarifvertrages für das Baugewerbe (TV). Am 15. Februar 1993 wurde er infolge eines Hinterwandinfarktes arbeitsunfähig. Nach weiterer Sachaufklärung wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 8. Februar 1994 zurück. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Speyer vom 21. Februar 1996 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 17. Dezember 1997). Das LSG hat seine Entscheidung – unter weitgehender Bezugnahme auf die Urteilsgründe des SG – auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rente wegen BU oder EU. Bei der Firma K. habe er nur ungelernte Arbeiten verrichtet, so daß er allenfalls wegen der tariflichen Einstufung und seiner langjährigen Tätigkeit am Bau als angelernter Arbeiter unteren Ranges eingestuft werden könne. Er sei mithin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt – mit Ausnahme gänzlich geringwertiger Tätigkeiten, wie zB Parkplatzwächter – zu verweisen.
Das Leistungsvermögen des Klägers, der als Bauarbeiter nicht mehr tätig sein könne, genüge für eine vollschichtig leichte Tätigkeit. Die bei ihm bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen (leichte Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Gehen und Stehen, ohne schweres Heben und Tragen, ohne Zwangshaltungen, Nässe, Kälte und Zugluft, ohne nervliche Belastung, ohne Fließband-, Akkord-, Nacht- und Schichteinsatz) schlössen den Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht aus. Insbesondere sei der Kläger noch ausreichend umstellungsfähig, um zB leichte Sortier- und Montagearbeiten nach kurzer Einarbeitungszeit vollschichtig zu verrichten. Insofern liege weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor.
Auch wenn danach an sich die Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich sei, verweise der Senat den Kläger vorsorglich auf die zumutbare Tätigkeit eines einfachen Pförtners. Nach der Berufsinformationskartei der Bundesanstalt für Arbeit (BA) von 1995 (BO 793, „Pförtner, Hauswarte”) handele es sich dabei um leichte körperliche Arbeit, die überwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen (Pförtnerloge) verrichtet werde. Da keine Anhaltspunkte für eine psychisch-geistige Behinderung des Klägers bestünden, sei seine Fähigkeit, sich in einer Anlernzeit von längstens drei Monaten einarbeiten zu können, nicht zu bezweifeln. Dabei unterstelle der Senat die Angabe des Klägers als richtig, er könne auch in seiner Muttersprache weder lesen noch schreiben. Dieses Unvermögen könne hier jedoch nicht berücksichtigt werden. Insoweit seien die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Außerachtlassung mangelnder Deutschkenntnisse bei der Suche nach Verweisungstätigkeiten auch auf die vorliegende Fallgestaltung anwendbar.
Dem in Süditalien aufgewachsenen Kläger sei es wohl wegen der dort herrschenden Verhältnisse nicht möglich gewesen, eine ausreichende Schulbildung zu erhalten. Dieses „Handicap” habe er in sein Arbeits- und Versicherungsleben in Deutschland eingebracht. Es dürfe ihm jetzt keine Vorteile bei der Frage einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bringen. Da dieses Unvermögen den Kläger vorher nicht daran gehindert habe, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, müsse es nunmehr bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit außer Betracht bleiben. Anderenfalls würden Beeinträchtigungen berücksichtigt, die ihre Ursache nicht im versicherten gesundheitlichen Bereich hätten und deshalb nicht von der Gemeinschaft der Versicherten getragen werden müßten.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend: Soweit ihn das LSG auf einfache Pförtnertätigkeiten verweise, übersehe es, daß auch ein einfacher Pförtner über Lese- und Schreibkenntnisse, etwa beim Ausstellen der Besucherscheine und Prüfen der Legitimationen, verfügen müsse. Solch eine Tätigkeit könne für ihn wegen seines Analphabetismus nicht in Betracht kommen. Bei der Prüfung von Verweisungstätigkeiten sei zur Feststellung der erforderlichen Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit nicht nur zu prüfen, ob ein nach Intelligenz und Bildungsgrad sowie Alter und beruflichem Werdegang vergleichbarer deutscher Versicherter in der Regel über die Sprachkenntnisse verfüge, die in den betreffenden Verweisungsberufen vorausgesetzt würden, sondern angesichts seines handwerklichen, über viele Jahre durch grobe Arbeiten geprägten Berufslebens auch zu berücksichtigen, daß im Rahmen seiner bisherigen Tätigkeiten eine Kommunikation kaum oder nur in einfacher Form stattgefunden habe, so daß er nicht ohne weiteres den sprachlichen Anforderungen gerecht werden könne, die auf einem Arbeitsplatz mit Publikumsverkehr vorausgesetzt würden. Angesichts der bei ihm vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen, insbesondere des Analphabetismus, hätte das LSG darüber hinaus die Merkmale „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” näher prüfen müssen. Das LSG habe es insbesondere unterlassen, seinen Analphabetismus daraufhin zu untersuchen, inwiefern er seine betriebliche Einsatzfähigkeit einenge.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 17. Dezember 1997, das Urteil des SG Speyer vom 21. Februar 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. November 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 30. September 1991 hinaus Rente wegen EU – mindestens wegen BU – zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Dazu trägt sie vor: Die mangelnde Fähigkeit des Klägers, lesen und schreiben zu können, stelle keine gesundheitliche Beeinträchtigung seines Leistungsvermögens dar und sei damit nicht durch den deutschen Rentengesetzgeber in den einschlägigen Vorschriften als versichertes Risiko abgedeckt worden. Der deutsche Gesetzgeber, in dessen Bereich der Analphabetismus im Gegensatz zu anderen Ländern, wie zB Italien oder Türkei, keine Rolle spiele, habe einem Versicherten nur dann einen Rentenanspruch zuerkennen wollen, wenn seine Erwerbsunfähigkeit auf einer Krankheit oder Behinderung beruhe. Die Abdeckung des Risikos des Analphabetismus für versicherte Ausländer mit einer Analphabetenquote von 20 bis 30 % sei dem deutschen Rentengesetzgeber fremd gewesen. Mithin könne ein Analphabetismus – auch im Zusammenhang mit einem eingeschränkten Leistungsvermögen, welches nur zur Verrichtung von leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes befähige – nicht dazu führen, daß der Versicherungsträger einen dem konkret betroffenen Versicherten noch zumutbaren Arbeitsplatz benennen müsse. Im übrigen gebe es für derartige Versicherte noch hinreichende Einsatzmöglichkeiten, zB als Verpacker leichter Gegenstände.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz, weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht ausreichen, um abschließend beurteilen zu können, ob der Kläger berufs- oder erwerbsunfähig ist.
Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen EU oder BU richtet sich noch nach den §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO), denn der Weitergewährungsantrag ist bereits im Juni 1991 - also bis zum 31. März 1992 - gestellt worden und bezieht sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 3-2200 § 1245 Nr 29).
Nach § 1246 Abs 2 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderung seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. EU liegt hingegen vor, wenn der Versicherte aufgrund entsprechender gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO). Da der Versicherungsfall der EU an strengere Voraussetzungen geknüpft ist als derjenige der BU, ist es nicht zu beanstanden, daß das LSG vorrangig geprüft hat, ob der Kläger berufsunfähig ist.
Ausgangspunkt für die Prüfung von BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der „bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169). In der Regel ist dies die letzte nicht nur vorübergehende versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, von der auch bei nur kurzfristiger Ausübung auszugehen ist, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 130, 164). Nach diesen Grundsätzen hat das LSG zutreffend als bisherigen Beruf des Klägers den eines Baufachwerkers angenommen, wobei es offensichtlich davon ausgegangen ist, daß der Kläger nicht nur ab Januar 1992, sondern auch zuletzt vor Eintritt der EU im Jahre 1988 eine entsprechende Tätigkeit verrichtet hat. Diesen Beruf kann der Kläger nach den bindenden Feststellungen des LSG (vgl § 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) nicht mehr ausüben. Allerdings hat das LSG insoweit – was im Hinblick auf die Bauarbeitertätigkeit des Klägers von Januar 1992 bis Februar 1993 an sich zu erwarten gewesen wäre – keine Ausführungen dazu gemacht, ob dies für den gesamten streitigen Zeitraum ab Oktober 1991 gelten soll. Selbst wenn davon auszugehen wäre, ist der Kläger damit aber noch nicht berufsunfähig; dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn es nicht zumindest eine andere berufliche Tätigkeit gibt, die ihm sozial zumutbar und für ihn sowohl gesundheitlich als auch fachlich geeignet ist.
Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit richtet sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufes. Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Dementsprechend werden die Gruppen durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 132, 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufes in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür ist vielmehr allein die Qualität der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 27, 33). Grundsätzlich darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf die nächst niedrigere Gruppe verwiesen werden (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 mwN; SozR 3-2200 § 1246 Nr 5).
Gemessen an diesen Kriterien ist der bisherige Beruf des Klägers – wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben – grundsätzlich der Gruppe mit dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters zuzuordnen. Nach den Feststellungen des LSG, das insoweit auch auf die Ausführungen des SG Bezug genommen hat, hat der Kläger als Baufachwerker bei der Firma K. Tätigkeiten verrichtet, die von ungelernten Kräften nach einer Einarbeitungszeit von maximal drei Monaten ausgeübt werden können. Auch die tarifvertragliche Einstufung von Baufachwerkern rechtfertigt nicht ohne weiteres eine höhere Eingruppierung, da die einschlägige Lohngruppe VI des TV nur ein Mindestalter von 18 Jahren und eine zwölfmonatige Tätigkeit als Bauwerker (Lohngruppe VII) voraussetzt. Allerdings spricht im Hinblick auf die Bedeutung praktischer Berufserfahrung einiges dafür, daß der bisherige Beruf des Klägers damit im Grenzbereich zwischen der Gruppe der ungelernten und derjenigen der angelernten Arbeiter anzusiedeln ist. Insofern ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das LSG zugunsten des Klägers im Ergebnis unterstellt hat, daß er dem unteren Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzuordnen ist. Dies gilt um so mehr, als derart eingestufte Arbeiter keinen besseren Berufsschutz genießen als ungelernte Arbeiter.
In seiner Eigenschaft als angelernter Arbeiter unteren Ranges kann der Kläger sozial zumutbar auf das gesamte allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden. Soweit das LSG insoweit in bezug auf gänzlich geringwertige Tätigkeiten eine Ausnahme machen will, bezieht es sich offenbar auf eine ältere Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16), welche eine Unterteilung der Gruppe der angelernten Arbeiter in einen oberen und einen unteren Bereich noch nicht kannte. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG gelten bei der Verweisung von angelernten Arbeitern unter dem Gesichtspunkt der sozialen Zumutbarkeit Einschränkungen nur für diejenigen, die dem oberen Bereich dieser Gruppe zuzuordnen sind (grundlegend dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 132; vgl auch Senatsurteil vom 19. August 1997 - 13 RJ 87/96 -).
Was die Suche nach Verweisungstätigkeiten anbelangt, die den Kräften und Fähigkeiten eines Versicherten entsprechen, so ist nach der vom Großen Senat des BSG (vgl BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) bestätigten Rechtsprechung des BSG davon auszugehen, daß einem Versicherten grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen ist, die er noch ausüben kann. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen grundsätzlich nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie hier der Kläger – zwar nicht mehr zu körperlich schweren aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage ist und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.
Unabhängig davon hat das LSG den Beruf eines einfachen Pförtners als eine für den Kläger geeignete Verweisungstätigkeit angeführt. Unter Bezugnahme auf die Tätigkeitsbeschreibung in der Berufsinformationskarte BO 793 („Pförtner, Hauswart”) der BA hat es den Kläger für körperlich und psychisch fähig angesehen, sich innerhalb von längstens drei Monaten in eine derartige Tätigkeit einzuarbeiten. Dabei ist zwar unterstellt worden, daß der Kläger auch in seiner Muttersprache weder lesen noch schreiben könne, dieses Unvermögen hat das LSG jedoch als unbeachtlich angesehen. Dem vermag der erkennende Senat nicht zu folgen.
Wenn § 1246 Abs 2 RVO vorschreibt, daß eine Verweisungstätigkeit den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten zu entsprechen hat, so soll dadurch sichergestellt werden, daß keine vom tatsächlichen Leistungsvermögen des Versicherten losgelöste, also fiktive Verweisung erfolgt. Insofern umfaßt der Begriff der „Fähigkeiten” in § 1246 Abs 2 RVO grundsätzlich alle berufsrelevanten Kenntnisse und Fertigkeiten des Versicherten. Dies betrifft ua auch eine beruflich geforderte Sprachgewandtheit (vgl Senatsurteile vom 6. Februar 1991 - 13/5/4a RJ 47/87 - und vom 6. März 1991 - 13/5 RJ 5/89 -) sowie sonstiges besonderes Sprachvermögen (vgl Senatsurteil vom 19. Juni 1997 - 13 RJ 93/96 - „Zugansager”). Dementsprechend muß ein Versicherter auch in dem Umfang lese- und schreibkundig sein, wie es für die in Aussicht genommene Tätigkeit nötig ist.
Soweit der 5. Senat des BSG in diesem Zusammenhang von „beruflichen Fähigkeiten” spricht (vgl Urteil vom 15. Mai 1991 - 5 RJ 92/89 - in BSGE 68, 28, 289 f = SozR 3-2200 § 1246 Nr 11), liegt dieser Formulierung – soweit ersichtlich – kein wesentlich anderes Begriffsverständnis zugrunde. In der betreffenden Entscheidung ging es nur darum, ob das fehlende Vermögen, deutsch zu sprechen, bei einem Versicherten, der eine andere Sprache beherrscht, im Rahmen der Suche nach einer Verweisungstätigkeit zu berücksichtigen ist. Der 5. Senat hat diese Frage – in Übereinstimmung mit einer früheren Entscheidung des BSG (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 61) – vornehmlich aus Gründen des in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Risikos sowie der Gleichbehandlung mit deutschsprachigen Versicherten verneint (kritisch dazu Biebak, InfAuslR 1992, 22 f). Ein darüber hinausgehender Ausschluß der Berücksichtigung von Bildungsdefiziten eines Versicherten ist dieser Rechtsprechung nicht zu entnehmen.
Entgegen der Auffassung des LSG kann hinsichtlich der Berücksichtigung eines Analphabetismus für im Ausland aufgewachsene Versicherte nichts anderes gelten. Auch diese sind – abgesehen von der Kenntnis der deutschen Sprache – mit ihren tatsächlichen Kräften und Fähigkeiten versichert. Für eine abweichende Beurteilung gibt weder eine spezielle gesetzliche Regelung noch die Systematik der gesetzlichen Rentenversicherung insgesamt eine Handhabe. Zwar mag bei Analphabeten wegen eines eingeengten Verweisungsspektrums ein erhöhtes BU/EU-Risiko bestehen, dies ist jedoch für den Umfang des Versicherungsschutzes unerheblich. Es stellt ein Grundprinzip der Sozialversicherung dar, daß die Beiträge nicht nach dem versicherten Risiko, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten bemessen werden. Dementsprechend erstreckt sich der Versicherungsschutz grundsätzlich auch auf sogenannte eingebrachte Leiden sowie Wesenseigentümlichkeiten (vgl BSGE 25, 227, 229 f = SozR Nr 62 zu § 1246 RVO; BSG, Urteile vom 28. März 1979 - 4 RJ 35/78 - und vom 30. November 1983 - 4 RJ 109/82 -), und zwar unabhängig davon, ob diese Beeinträchtigungen ihren Ursprung im Ausland haben.
Die vom LSG angeführten Argumente vermögen demgegenüber nicht zu überzeugen. Eine Anwendung der Rechtsprechung des BSG zu mangelnden Deutschkenntnissen auf einen auch muttersprachlichen Analphabetismus des Versicherten erscheint nicht sachgerecht. Insofern dürfte das LSG nicht hinreichend bedacht haben, daß es sicher auch eine nennenswerte Anzahl von (praktischen) Analphabeten gibt, die in Deutschland aufgewachsen sind (vgl dazu Biebak, InfAuslR 1992, 22, 23). Deren Versicherungsschutz wird man schwerlich einschränken können, was wiederum zu einer bedenklichen Ungleichbehandlung gegenüber Analphabeten führen würde, die aus dem Ausland stammen. Dies gilt insbesondere dann, wenn letztere ihre Kindheit in einem Land verbracht haben, das über ein mit Deutschland vergleichbares Bildungssystem verfügt.
Soweit das LSG die Fälle „organischer Ursachen” oder „intellektueller Minderbegabung” bei der Frage der Verweisbarkeit doch berücksichtigen will, läßt sich diese Differenzierung nicht mit der Begründung rechtfertigen, daß Beeinträchtigungen, die ihre Ursache nicht im gesundheitlichen Bereich haben, nicht versichert seien. Dem steht schon entgegen, daß ein gesundheitlich beeinträchtigter Versicherter nach der ausdrücklichen Regelung des § 1246 Abs 2 RVO nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden kann, die auch seinen „Fähigkeiten” entsprechen. Darüber hinaus ergeben sich mit Rücksicht darauf nicht unerhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten, daß nicht immer eindeutig zu beurteilen sein wird, ob das Unvermögen, lesen und schreiben zu können, im wesentlichen auf einer Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte iS von § 1246 Abs 2 RVO oder aber auf anderen – nach Auffassung des LSG und der Beklagten offenbar „versicherungsfremden” – Umständen (zB asoziales Kindheitsmilieu, Verhaltensstörungen, Erziehungsschwierigkeiten) beruht. Ferner entbehren auch die Zweifel des LSG, ob sich der Analphabetismus des Klägers überhaupt auswirken kann, jeder Grundlage. Wenn nämlich seine mangelnden Deutschkenntnisse nach der Rechtsprechung des BSG bei der Verweisung unberücksichtigt zu bleiben haben, erhält sein Unvermögen, auch in seiner Muttersprache weder lesen noch schreiben zu können, naturgemäß besondere Relevanz. Gerade weil dieses „Handicap” den Kläger nicht gehindert hat, in Deutschland jahrelang versicherungspflichtig tätig zu sein, kann es bei der Realisierung seines durch Beitragszahlung erworbenen Versicherungsschutzes nicht außer Betracht bleiben.
Da das LSG nicht festgestellt hat, daß entweder der Kläger selbst unter Berücksichtigung seines Analphabetismus oder zumindest ein deutschsprachiger Versicherter mit ebenso mangelhaften Schreib- und Lesefähigkeiten, wie sie beim Kläger in seiner Muttersprache bestehen, einfache Pförtnertätigkeiten verrichten kann, ist es nach dem gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung nicht möglich, diesen Beruf als Verweisungstätigkeit zugrunde zu legen. Andererseits vermag der erkennende Senat aber auch nicht die Auffassung des LSG zu bestätigen, der Kläger sei angesichts seines Restleistungsvermögens pauschal auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen.
Zwar kann der Kläger nach den Feststellungen des LSG noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten verrichten. Darüber hinaus sind jedoch auch eine Anzahl von qualitativen Leistungseinschränkungen zu berücksichtigen. So soll die Arbeit im Wechsel von Sitzen, Gehen und Stehen (weitaus überwiegend im Sitzen) sowie in trockenen, heizbaren Räumen erfolgen. Ausgeschlossen sind schweres Heben und Tragen von Lasten, Zwangshaltungen (über längere Zeit), häufiges Knien, Bücken, in die Hocke gehen, häufiges Begehen von Leitern, Gerüsten und ähnlichen Anlagen. Zu vermeiden sind ferner Einwirkungen von Nässe, Kälte, Zugluft, dauernde oder häufige nervliche Belastungen, Akkord, Fließbandeinsatz, Wechselschicht sowie besondere Verantwortung. Unter Berücksichtigung des darüber hinaus vom LSG beim Kläger unterstellten Analphabetismus ist damit von einem Restleistungsvermögen auszugehen, das Zweifel an der betrieblichen Einsatzfähigkeit des Klägers aufkommen lassen könnte, was wiederum die Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich machen würde (vgl BSGE 80, 24, 29 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8).
Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 80, 24, 32 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) genügt in diesem Zusammenhang zunächst die Beurteilung, ob das Restleistungsvermögen des Versicherten körperliche Verrichtungen (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw) erlaubt, die in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen. Diesbezüglich hat das LSG zwar ausgeführt, daß der Kläger noch ausreichend umstellungsfähig sei, um zB leichte Sortier- oder Montagearbeiten nach kurzer Einarbeitungszeit zu verrichten. Diese Feststellung reicht hier jedoch nicht aus, da es naheliegt, daß das LSG dabei – entsprechend seiner materiellen Rechtsauffassung – den Analphabetismus des Klägers unberücksichtigt gelassen hat. Jedenfalls fehlt eine Aussage dazu, daß es in hinreichendem Umfang Sortier- und Montagearbeiten gibt, die keine Schreib- oder Lesefähigkeiten voraussetzen.
Angesichts der Vielzahl der beim Kläger bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen, die zum Teil über das Erfordernis, die Arbeit müsse körperlich leicht sein, deutlich hinausgehen (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30), stellt sich des weiteren die Frage, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt, was die Benennung einer Verweisungstätigkeit bedingen würde. Auch dies läßt sich anhand der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurteilen. Das LSG hat es nämlich nicht nur unterlassen, näher zu prüfen, wie sich diejenigen qualitativen Leistungseinschränkungen, die nicht bereits von dem allgemeinen Merkmal „körperlich leichte Tätigkeit” mit erfaßt werden, auf die Einsatzfähigkeit des Klägers auswirken, sondern auch keine Ausführungen dazu gemacht, inwieweit sein (unterstellter) Analphabetismus das für ihn in Betracht kommende Arbeitsfeld weiter einengt (vgl dazu BSGE 81, 15 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23).
Sind nach alledem weitere Ermittlungen erforderlich, die der erkennende Senat im Revisionsverfahren nicht selbst durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 542758 |
SozSi 1999, 378 |