Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. häusliche Krankenpflege. ständige Beobachtung des Versicherten durch medizinische Fachkraft. Einsatzbereitschaft wegen lebensbedrohlicher Komplikationen von Erkrankungen. Zulässigkeit der allgemeinen Leistungsklage. Sachdienlichkeit und Bestimmtheit eines Antrags. Entscheidungsbefugnis des G-BA
Leitsatz (amtlich)
Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege umfasst auch die ständige Beobachtung des Versicherten durch eine medizinische Fachkraft, wenn diese wegen der Gefahr lebensbedrohlicher Komplikationen von Erkrankungen jederzeit einsatzbereit sein muss, um die nach Lage der Dinge jeweils erforderlichen medizinischen Maßnahmen durchzuführen.
Orientierungssatz
1. Der Zulässigkeit der allgemeinen Leistungsklage für die Zukunft steht nicht entgegen, dass eine Krankenkasse über die Leistungsansprüche grundsätzlich durch Verwaltungsakt zu entscheiden hat und sie in den angefochtenen Bescheiden nur eine Entscheidung für einen bestimmten Zeitraum getroffen hat, weitere Verwaltungsentscheidungen aber nicht vorliegen.
2. Ein Antrag auf Verurteilung zur künftigen Gewährung von einer täglichen Stundenzahl an Behandlungspflege ist sachdienlich und genügt dem Erfordernis der Bestimmtheit.
3. Ebenso wenig wie der Gemeinsame Bundesausschuss ermächtigt ist, den Begriff der Krankheit in § 27 Abs 1 SGB 5 hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen zu bestimmen (vgl BSG vom 30.9.1999 - B 8 KN 9/98 KR R = BSGE 85, 36 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11), ist er befugt, medizinisch notwendige Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege auszunehmen (vgl BSG vom 17.3.2005 - B 3 KR 35/04 R = SozR 4-2500 § 37 Nr 4).
Normenkette
SGB V § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 4, § 37 Abs. 2 S. 1, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6, Abs. 7; SGG § 54 Abs. 5, §§ 92, 106 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der 1982 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger erlitt nach seiner Geburt einen Herz- und Atemstillstand und ist seitdem schwerstbehindert. Es besteht eine ausgeprägte Hirnschädigung mit der Folge der Bewegungs-, Schluck- und Sprachunfähigkeit. Ferner liegt ein therapieresistentes Anfallsleiden vor mit wechselnder Häufigkeit und Schwere der Anfälle, deren Auftreten nicht voraussehbar ist. Verstärkt treten Infekte der oberen Luftwege auf, wobei es zu starken Verschleimungen kommt, die in Verbindung mit eingeschränkter Schluckmotorik zu bedrohlichen Hustenanfällen führen können. Wegen seines Gesundheitszustandes bedarf der Kläger ständiger Beobachtung durch eine medizinische Fachkraft, die jederzeit bei Verschlechterungen der Atmungsfunktion und bei Krampfanfällen einsatzbereit sein muss. Dies wird im Wesentlichen von seiner Mutter sichergestellt, die examinierte Krankenschwester ist. Daneben erhält der Kläger für die Grundpflege Sachleistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III. Da hierdurch der rund um die Uhr bestehende Pflegebedarf des Klägers nur für durchschnittlich 14,5 Stunden täglich abgedeckt wurde, beantragte er im Jahre 2000 bei der Beklagten die Gewährung von täglich 9,5 Stunden Behandlungspflege in Form der Krankenbeobachtung und Durchführung der nach Lage der Dinge jeweils gebotenen medizinischen Maßnahmen. Die Beklagte war aber lediglich bereit, die vom Hausarzt verordneten konkreten behandlungspflegerischen Maßnahmen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) als Sachleistung zu gewähren, die einen Zeitaufwand von insgesamt etwa zwei Stunden täglich erfordern. Für die Kosten der "reinen" Krankenbeobachtung wollte sie nicht aufkommen, weil sie diese Maßnahme nicht als Behandlungspflege ansieht.
In zwei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat der Kläger jedoch erreicht, dass ihm die Beklagte täglich 9,5 Stunden Behandlungspflege als Sachleistung gewährt. Nach einem gerichtlichen Vergleich vom 26. Juni 2000 war diese Leistung zunächst bis zum 30. September 2000 zu erbringen (S 8 Kr 250/99 ER Sozialgericht ≪SG≫ Dortmund). Bis dahin sollte der Pflegedienst eine ausführliche Dokumentation der Pflegemaßnahmen erstellen, auf deren Grundlage die Beklagte über ihre weitere Leistungspflicht entscheiden sollte. Diese Regelung verlängerte die Beklagte bis zum 31. Oktober 2000 (Bescheid vom 29. September 2000). Nach Auswertung der Pflegedokumentation bewilligte sie für die Zeit vom 1. November 2000 bis zum 31. Oktober 2001 Behandlungspflege im Umfang von zwei Stunden täglich. Weitergehende häusliche Krankenpflege bis zu 9,5 Stunden täglich lehnte sie ab (Bescheid vom 24. Oktober 2000, Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 2000). Die Beklagte wurde daraufhin im Wege einstweiliger Anordnung erneut zur Bewilligung von 9,5 Stunden Behandlungspflege täglich bis zur Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung verpflichtet (Beschluss des SG Dortmund vom 15. Dezember 2000 - S 8 KR 298/00 ER). Die Beklagte hat seither auf Grund entsprechender ärztlicher Verordnungen Behandlungspflege im Umfang von 9,5 Stunden täglich als "Ausnahmeregelung" bewilligt.
Im Klageverfahren hat der Kläger unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Januar 1999 - B 3 KR 4/98 R - (BSGE 83, 254 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1) geltend gemacht, wegen des Anfallsleidens und der Beeinträchtigung der Atmung benötige er Behandlungspflege rund um die Uhr. Davon müsse die Beklagte mindestens 9,5 Stunden übernehmen. Sein Zustand habe sich in letzter Zeit verschlechtert. Hinsichtlich des Krampfgeschehens habe der Versuch einer medikamentösen Umstellung nicht zu einer Verbesserung geführt und die kontinuierliche Zunahme von Krampfanfällen nicht verhindern können. Die Beklagte hielt demgegenüber an ihrer Auffassung fest, die notwendige Beaufsichtigung falle nicht in die Zuständigkeit der Krankenversicherung. Die Lage des Klägers sei nicht mit der dem genannten BSG-Urteil zugrunde liegenden Situation eines dauernd beatmungspflichtigen Patienten vergleichbar, dessen Atmung kontinuierlich beobachtet und durch regelmäßige Sekretabsaugung gesichert werden müsse.
Das SG Dortmund hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger Behandlungspflege für täglich 9,5 Stunden zu bewilligen (Urteil vom 28. November 2002). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19. Juli 2004) und den Tenor des SG-Urteils neu gefasst: "Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet war, dem Kläger ab 1. November 2000 häusliche Krankenpflege im Umfang von 9,5 Stunden täglich zu gewähren." Angesichts der auf Grund einstweiliger Anordnung bereits in vollem Umfang erbrachten Pflegeleistungen sei die Feststellungsklage die zutreffende Klageart. Die Klage sei nach § 37 Abs 2 SGB V begründet, weil die ständige Anwesenheit einer medizinischen Fachkraft, die einen Patienten beobachten muss, um in unvorhersehbaren, vielfach auftretenden Fällen eingreifen zu können, als "allgemeine" Krankenbeobachtung eine behandlungspflegerische Maßnahme darstelle. Die in den Krankenpflege-Richtlinien vorgesehene Beschränkung auf die Verordnungsfähigkeit nur der "speziellen" Krankenbeobachtung bei akuten Verschlechterungen einer Krankheit zur Kontrolle der Vitalfunktionen (Anlage Nr 24) sowie zur Überwachung eines Beatmungsgerätes (Anlage Nr 8) verstoße gegen höherrangiges Recht. Die Übernahme eines noch größeren Anteils der Pflege durch die Mutter komme nicht in Betracht, weil die Grenze der Zumutbarkeit bereits jetzt erreicht sei.
Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§§ 37, 92 SGB V). Ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der "reinen" Krankenbeobachtung bestehe nicht. Bei dem Kläger finde keine laufende ärztliche Behandlung statt und somit auch nicht die Beobachtung einer entsprechenden Behandlung, sondern eine Beobachtung des Krankheitszustandes, der in unregelmäßigen Abständen je nach Intensität und Dauer der Anfälle zu einer medizinischen Maßnahme führen könne oder auch nicht. Auch wenn der Krankheitszustand des Klägers eine ständige Krankenbeobachtung durch eine medizinische Fachkraft erfordere, sei die Zeit der reinen Beobachtung bzw des Wartens auf die Krampfanfälle als so genannte prophylaktische Maßnahme nicht zur Behandlungspflege zu zählen. Der Ausschluss der Verordnungsfähigkeit der "reinen" bzw "allgemeinen" Krankenbeobachtung durch die Krankenpflege-Richtlinien sei rechtmäßig.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Juli 2004 und des Sozialgerichts Dortmund vom 28. November 2002 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Dem Kläger steht auch über den 31. Oktober 2000 hinaus fortlaufend häusliche Krankenpflege in Form der Krankenbeobachtung und Durchführung der nach Lage der Dinge jeweils gebotenen konkreten Maßnahmen im Umfang von 9,5 Stunden täglich als Sachleistung der Krankenversicherung zu.
Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor.
Bezüglich der Klageart ist im vorliegenden Fall zwischen der Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Rechtsstreits und der Folgezeit zu unterscheiden. Da die begehrte Leistung auf Grund der einstweiligen Anordnung des SG von der Beklagten bis zum Ende des Rechtsstreits in vollem Umfang zu erbringen war und auch so erbracht und bezahlt worden ist, geht es insoweit nur noch um die Frage, ob die Leistung "endgültig" und nicht nur - wie geschehen - "vorläufig" zu bewilligen war, um zu klären, ob die von dem Pflegedienst durchgeführten Pflegeleistungen letztlich auch von der Beklagten zu tragen sind oder ob ein Schadensersatzanspruch (§ 86b Sozialgerichtsgesetz ≪SGG ≫ iVm § 945 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) gegen den Kläger in Betracht kommen könnte. Für die Vergangenheit hat sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt und es geht nur um die Frage, ob die Beklagte die Kosten der erbrachten Leistungen endgültig zu tragen hat. Dies hat durch eine Feststellung entsprechend § 131 Abs 1 Satz 3 SGG zu geschehen, wonach auf Antrag durch Urteil auszusprechen ist, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig war, sofern ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung besteht.
Für die Zukunft geht es um einen noch offenen Leistungsanspruch, der mit einer Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zu verfolgen war. Insoweit war das vom LSG geänderte erstinstanzliche Urteil korrekt. Die Auslegung des Begehrens durch das LSG auf Feststellung der Leistungspflicht nach § 37 Abs 2 SGB V allein für die Vergangenheit, wie sie auch im Urteilstenor zum Ausdruck kommt ("verpflichtet war"), berücksichtigt nicht, dass der Kläger mit seiner Klage auch die Verurteilung der Beklagten auf unbestimmte Zeit begehrt hat. Der Zulässigkeit der allgemeinen Leistungsklage für die Zukunft steht nicht entgegen, dass die Beklagte über die Leistungsansprüche grundsätzlich durch Verwaltungsakt zu entscheiden hat und sie in den angefochtenen Bescheiden nur eine Entscheidung für die Zeit vom 1. November 2000 bis zum 31. Oktober 2001 getroffen hat, weitere Verwaltungsentscheidungen aber nicht vorliegen. Für die Zukunft ist nur über eine grundsätzliche Leistungspflicht der Beklagten nach § 37 Abs 2 SGB V zu entscheiden. Verwaltungsentscheidungen zu Leistungsansprüchen für künftige Quartale kann es naturgemäß noch nicht geben.
Der Antrag auf Verurteilung zur künftigen Gewährung von "täglich 9,5 Stunden Behandlungspflege" ist sachdienlich (§ 106 Abs 1 SGG) und genügt dem Erfordernis der Bestimmtheit (§ 92 SGG), obgleich der Begriff der Behandlungspflege nur eine Sammelbezeichnung für alle krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen darstellt und hier nicht konkretisiert worden ist, welche Maßnahmen die Beklagte im Einzelnen als Sachleistung zu erbringen hat. Zwar muss die Leistungspflicht eines Sozialversicherungsträgers so weit wie möglich konkretisiert werden, um den Streitgegenstand zu kennzeichnen und die Zwangsvollstreckung zu ermöglichen bzw zu erleichtern (vgl BSGE 60, 87, 90 = SozR 1200 § 53 Nr 6). Von diesem Grundsatz kann jedoch im Einzelfall abgewichen werden, wenn eine nähere Konkretisierung entweder objektiv unmöglich ist, weil sich die Einzelheiten der Leistungspflicht erst aus den nicht exakt vorhersehbaren Gegebenheiten einer aktuellen Situation ergeben, oder wenn sich die Beteiligten nur über die Leistungspflicht dem Grunde nach streiten, jedoch kein Streit über die Einzelheiten der zu erbringenden Leistung besteht (so zB BSGE 77, 209, 210 = SozR 3-2500 § 33 Nr 19, BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 und 17 zur Entbehrlichkeit konkreter Hersteller- und Typenbezeichnungen bei Hilfsmitteln). Im vorliegenden Fall treffen beide Alternativen zu. Es geht um Behandlungspflege in Form der Krankenbeobachtung und Durchführung der nach Lage der Dinge jeweils gebotenen Maßnahmen. Welche Maßnahmen dies im Einzelnen sind, lässt sich nicht von vornherein festlegen, weil dies nur situationsgebunden zu entscheiden ist (zB Medikamentengabe, Injektionen, Sekretabsaugen, Sauerstoffgabe bei Apnoen etc). Wegen der konkreten Einzelmaßnahmen ist die Beklagte daher auch bereit, die Kosten für bis zu zwei Stunden Behandlungspflege täglich pauschal zu übernehmen. Streit besteht zwischen den Beteiligten nur darüber, ob die Beklagte im Rahmen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Abs 2 SGB V auch für die Kosten der reinen Krankenbeobachtung durch Pflegekräfte aufzukommen hat. Die Kombination aus Krankenbeobachtung und konkreten Einzelmaßnahmen soll die Beklagte im Umfang von täglich 9,5 Stunden finanzieren. Über die nähere Ausgestaltung der Leistung besteht kein Streit. Deshalb war eine ins Detail gehende Aufschlüsselung dessen, was unter "Behandlungspflege" im Umfang von täglich 9,5 Stunden zu verstehen ist, weder geboten noch hinsichtlich der konkreten Einzelmaßnahmen überhaupt möglich.
In der Sache konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben. Nach § 37 Abs 2 Satz 1, 1. Halbsatz SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztliche Behandlung erforderlich ist (sog Behandlungssicherungspflege). Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege besteht neben dem Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung. Zur Behandlungssicherungspflege gehören alle Pflegemaßnahmen, die nur durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, vgl BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSGE 83, 254 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1; BSGE 90, 143 = SozR 3-2500 § 37 Nr 5; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 3 und 11). Die Hilfeleistungen umfassen Maßnahmen verschiedenster Art wie zB Injektionen, Verbandwechsel, Katheterisierung, Einläufe, Spülungen, Einreibungen, Dekubitusversorgung, Krisenintervention, Feststellung und Beobachtung des jeweiligen Krankenstandes und der Krankheitsentwicklung, die Sicherung notwendiger Arztbesuche, die Medikamentengabe sowie die Kontrolle der Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten (vgl Gerlach in Hauck/Haines, SGB V, § 37 RdNr 22).
Nach den nicht angegriffenen und für den Senat daher bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG ist wegen des Anfallsleidens des Klägers und der krankheitsbedingten Gefahren für die Atmungsfunktion die ständige Anwesenheit und Einsatzbereitschaft einer qualifizierten Pflegeperson erforderlich. Der Kläger darf auch nicht fünf Minuten ohne Beobachtung bleiben. Es reicht nicht aus, dass jemand ab und zu nach dem Kläger sieht und bei Anzeichen für einen Hilfebedarf einen Arzt oder eine Pflegefachkraft herbeiruft, die erst nach den üblichen Anfahrt- und Wartezeiten eintrifft und dann eingreifen kann. Die Krampfanfälle treten unvorhersehbar und in unregelmäßiger Folge und Schwere, aber täglich auf, wobei sie sich nur zum Teil selbst begrenzen, aber auch in Grand-Mal-Anfälle übergehen können. Eine medizinische Fachkraft muss sofort entscheiden, ob eine Intervention notwendig ist, um den Anfall zu unterbrechen, zB ob und welche Medikamente gegeben werden müssen. Seit dem Jahre 2001 hat die Zahl der Anfälle noch zugenommen; eine medikamentöse Umstellung ist nicht effektiv gewesen.
Die ständige Beobachtung eines Patienten, um jederzeit medizinisch-pflegerisch eingreifen zu können, wenn es zu Verschlechterungen der Atmungsfunktion und zu Krampfanfällen kommt, ist hier eine behandlungspflegerische Maßnahme. Der Einwand der Beklagten, aus der Pflegedokumentation ergebe sich nicht, dass die Krankenbeobachtung regelmäßige therapeutische Konsequenzen zur Folge habe, greift nicht durch. Die Beklagte verengt den Begriff der Behandlungspflege zu Unrecht auf die aus der Krankenbeobachtung resultierenden konkreten situationsangemessenen Einzelmaßnahmen. Entgegen der Auffassung der Beklagten lässt sich die häusliche Krankenpflege insoweit nicht in die jeweils gebotenen Pflegemaßnahmen, für die sie eintreten will, und in die Beobachtungszeit aufteilen, für die sie eine Leistungspflicht ablehnt. Es kann dahinstehen, unter welchen Umständen eine allgemeine Krankenbeobachtung eine Leistung der häuslichen Krankenpflege sein kann, wenn ärztliche oder pflegerische Maßnahmen zur Abwendung von Krankheitsverschlimmerungen eventuell erforderlich, aber konkret nicht voraussehbar sind. Denn hier sind pflegerische Interventionen nicht nur möglicherweise, sondern mit Gewissheit täglich erforderlich. Lediglich die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß lassen sich im voraus nicht bestimmten.
Die Krankenbeobachtung dient hier auch "zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung" (§ 37 Abs 2 Satz 1 SGB V). Sie ergänzt zusammen mit den konkreten Einzelmaßnahmen, die der Pflegedienst zu erbringen hat, die ambulante ärztliche Behandlung des Klägers, die sich hier zB in der Verordnung der zu verabreichenden Medikamente niedergeschlagen hat, und verhindert, dass der Kläger Krankenhausbehandlung benötigt, die ansonsten unumgänglich wäre.
Der Einwand der Beklagten, die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) über die Verordnung von "häuslicher Krankenpflege" nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 und Abs 7 SGB V vom 16. Februar 2000 (BAnz Nr 91 vom 13. Mai 2000) in der Fassung der Änderung vom 24. März 2003 (BAnz Nr 123 vom 8. Juli 2003) - HKP-Richtlinien - sähen die Krankenbeobachtung in der hier streitigen Form nicht vor, greift ebenfalls nicht durch. In Abschnitt I Nr 3 der HKP-Richtlinien heißt es allerdings, die verordnungsfähigen Maßnahmen würden in der Anlage aufgeführt; dort nicht genannte Maßnahmen seien als häusliche Krankenpflege nicht verordnungsfähig. In der Anlage wird unter Nr 24 nur eine spezielle Krankenbeobachtung genannt. Diese soll nur bei akuten Verschlechterungen einer Krankheit zur Kontrolle der Vitalfunktionen begründet sein, während die allgemeine Krankenbeobachtung Bestandteil jeder pflegerischen Leistung sei. Ferner sieht die Anlage in Nr 8 die Verordnungsfähigkeit einer speziellen Krankenbeobachtung in Form der Überwachung eines Beatmungsgerätes bei Beatmungspatienten vor. Die Richtlinien sehen also eine enumerative Aufzählung und Beschreibung der verordnungsfähigen Leistungen vor, die eine dauernde Krankenbeobachtung in der hier erforderlichen Form nicht erfassen.
Dies steht indes dem Anspruch des Klägers nicht entgegen. Zwar handelt es sich bei den Richtlinien nach § 92 Abs 1 SGB V um untergesetzliche Normen, die auch innerhalb des Leistungsrechts zu beachten sind (grundlegend BSGE 78, 70 = SozR 3-2500 § 92 Nr 6, und BSGE 81, 73 = SozR 3-2500 § 92 Nr 7; im Anschluss daran etwa BSGE 82, 41 = SozR 3-2500 § 103 Nr 2 und BSGE 81, 240 = SozR 3-2500 § 27 Nr 9). Ein Ausschluss der im Einzelfall gebotenen Krankenbeobachtung aus dem Katalog der verordnungsfähigen Leistungen verstößt aber gegen höherrangiges Recht. Ebenso wenig wie der Gemeinsame Bundesausschuss ermächtigt ist, den Begriff der Krankheit in § 27 Abs 1 SGB V hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen zu bestimmen (BSGE 85, 36 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11), ist er befugt, medizinisch notwendige Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege auszunehmen, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 17. März 2005 - B 3 KR 35/04 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR bestimmt; unveröffentlichter Beschluss vom 17. August 2005 - B 3 KR 22/05 B). Die HKP-Richtlinien binden die Gerichte insoweit nicht.
Hiernach besteht grundsätzlich ein Leistungsanspruch des Klägers auf Behandlungspflege in Form der Krankenbeobachtung und Durchführung der jeweils gebotenen Maßnahmen im Umfang von 24 Stunden täglich, der allerdings gegenüber der Beklagten auf 9,5 Stunden begrenzt ist. Zum einen ist der Anspruch auf häusliche Krankenpflege ausgeschlossen, soweit eine im Haushalt lebende Person die erforderliche Pflege erbringen kann (§ 37 Abs 3 SGB V), zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Kläger auch Sachleistungen der Pflegekasse wegen Schwerstpflegebedürftigkeit nach § 15 Abs 3 Nr 3 und § 36 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) erhält, die der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung dienen.
Soweit es um das Zusammentreffen von Krankenbeobachtung und Grundpflege nach dem SGB XI geht, ist nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 83, 254 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1) davon auszugehen, dass während der Erbringung der Leistungen der Grundpflege die Behandlungspflege grundsätzlich in den Hintergrund tritt, sodass insoweit nur die Leistungspflicht der Pflegekasse besteht. Nach Abzug des gesamten für die Grundpflege festgestellten Zeitbedarfs von 245 Minuten von dem behandlungspflegerischen Zeitbedarf verbleibt ein Rest von rund 20 Stunden. Grundsätzlich kann die Mutter des Klägers als examinierte Krankenschwester zwar die Pflege des Klägers übernehmen. Es ist aber selbstverständlich, dass sie ihren Sohn nicht auf Dauer im Umfang von 20 Stunden täglich pflegen kann. Die Mutter des Klägers übernimmt täglich schon für durchschnittlich rund 10,5 Stunden die Pflege ihres Sohnes. Einen darüber hinausgehenden Einsatz hält der Senat angesichts ihres Alters (geboren 1947) und der Tatsache, dass sie den Kläger seit seiner Geburt pflegt, sowie des attestierten chronischen Erschöpfungszustands für nicht zumutbar.
Die Mutter des Klägers hat in der Vergangenheit zwar immer wieder auch für längere Zeit und zum Teil rund um die Uhr die Pflege übernommen, weil sie die ständige Anwesenheit Dritter in der Wohnung als belastend empfindet. Die so "gesammelten" Stunden hat sie aber genutzt, um auch gänzlich freie Tage zu haben oder Urlaub zu machen, so dass der Pflegedienst die Pflege ganztägig übernommen hat. Die diesbezüglichen Vereinbarungen des Klägers und seiner Mutter mit dem Pflegedienst und der Pflegekasse über die zeitliche Aufteilung der Pflege bei einem "Gesamtbudget" von 365 x 10,5 Stunden Pflege pro Jahr sieht der Senat als sachgerecht und rechtmäßig an, weil sie dem Anliegen des Gesetzgebers folgen, den Wünschen der Leistungsberechtigten bei der Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Leistungen nach Möglichkeit nachzukommen (§ 33 SGB I, § 9 SGB IX) und seiner Absicht entsprechen, "persönliche Budgets" behinderter Menschen zur Sicherung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft iS des § 17 SGB IX zu schaffen.
Ob die Krankenversicherung die Mutter des Klägers noch weiter entlasten müsste, kann dahinstehen; die Gerichte sind nach § 202 SGG iVm § 308 ZPO an die gestellten Anträge gebunden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1476971 |
GesR 2006, 161 |
PflR 2006, 138 |