Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. August 1995 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 vH der Vollrente ab dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit unter Anerkennung krankhafter Veränderungen an den Handgelenken sowie von Wirbelsäulen-Veränderungen als Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Oktober 1978 im Wege der Neufeststellung durch eine Zugunstenentscheidung streitig.
Der im Jahre 1937 geborene Kläger erlitt am 11. Oktober 1978 einen Arbeitsunfall, als er bei seiner Tätigkeit als Automechaniker auf einer Probefahrt mit einem Kundenfahrzeug mit einem LKW zusammenstieß. Im Städtischen Krankhaus Pf. …, in das sich der Kläger nach dem Unfall zur Untersuchung begab, wurde eine Schädelprellung frontal Mitte diagnostiziert. Der Chirurg Dr. A.… stellte nach dem Durchgangsarztbericht vom 27. April 1979 aufgrund der anamnestischen Angaben des Klägers außerdem eine Rücken- und Brustkorbprellung fest.
Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger aus Anlaß des Unfalls vom 11. Oktober 1978 eine Verletztenrente zu gewähren, weil eine unfallbedingte MdE meßbaren Grades nicht verblieben sei. Die Prellungen des Schädels und des Brustkorbes seien folgenlos ausgeheilt. Die Veränderungen an der Wirbelsäule seien unfallunabhängig entstanden (Bescheid vom 15. April 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Dezember 1982).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. März 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18. Juni 1986). Die dagegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde blieb erfolglos (Beschluß des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 3. Dezember 1986).
Mit Schreiben vom 17. Januar 1989 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Gewährung von Verletztenrente aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 11. Oktober 1978. Es habe sich erst jetzt herausgestellt, daß er bei diesem Arbeitsunfall beide Handgelenke gebrochen habe. Auch die Verschlechterung seiner Halswirbelsäulenbeschwerden sei unfallbedingt.
Im Gutachten vom 20. März 1989 kam Prof. Dr. Ar.… zu dem Ergebnis, daß es aus der Zeit von 1978 bis 1988 keinerlei Hinweise auf eine Kahnbeinfraktur gegeben habe.
Die Beklagte lehnte daraufhin die Gewährung einer Entschädigung ab, weil die Veränderungen an den Handgelenken keine Unfallfolgen darstellten. Das gleiche gelte auch für die Wirbelsäulen-Veränderungen (Bescheid vom 15. September 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1990).
Das SG hat ein Gutachten des Orthopäden Dr. S.… eingeholt. Im Gutachten vom 21. Dezember 1992 hat der Sachverständige ausgeführt, es sei im höchsten Ausmaß unwahrscheinlich, daß der Kläger bei den Arbeitsunfällen in den Jahren 1978 und 1983 Verletzungen an den Handgelenken erlitten habe. Die dort bestehenden Arthrosen seien unfallunabhängig entstanden, ebenso wie die Oesteochondrose der Halswirbelsäule und der leichten Skoliose der Brustwirbelsäule. Zu diesem Ergebnis gelangte auch der – auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) – als Sachverständiger gehörte Orthopäde Prof. Dr. H.… in seinem Gutachten vom 21. August 1993. Der – ebenfalls auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG – als Sachverständiger gehörte Dr. Ho.… stellte im Gutachten vom 14. April 1994 fest, daß die Veränderungen an beiden Handgelenken nicht auf die beiden Unfälle zurückzuführen seien.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Mai 1994). Es ist, gestützt auf die Gutachten der Sachverständigen Dr. S.… und Dr Ho.… zu dem Ergebnis gekommen, daß die bestehenden arthrotischen Veränderungen im Bereich der Handgelenke ursächlich nicht Folgen des Unfalls vom 11. Oktober 1978 seien. Bei diesem Unfall habe der Kläger keine Verletzungen der Handgelenke erlitten. Bei der Erstuntersuchung sei eine Verletzung im Bereich der Handgelenke nicht festgestellt worden. Es sei unwahrscheinlich, daß sie damals übersehen worden seien.
Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Beschluß vom 25. August 1995). Es ist zu dem Ergebnis gelangt, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall vom 11. Oktober 1978 und den Veränderungen an den Handgelenken nicht wahrscheinlich sei. Dazu hat es auf die Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils Bezug genommen (§ 153 Abs 2 SGG) und auf die ausführliche sowie überzeugende, auf die Beurteilungen der medizinischen Sachverständigen gestützte Begründung des SG verwiesen.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision (Beschluß vom 19. März 1996) rügt der Kläger ua, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern. Das LSG habe die in den Berufungsschriftsätzen aufgezeigten Widersprüche in den Gutachten und die deshalb gestellten Beweisanträge unberücksichtigt gelassen. Eine Begründung sei hierfür nicht erfolgt. Das LSG habe nur auf die Entscheidungsgründe der Vorinstanz Bezug genommen. Weder das SG noch das LSG hätten sich mit den vorgetragen Widersprüchen im Gutachten des Dr. Ho.…, der – im Gegensatz zu dem früher von ihm abgegebenen Nachschaubericht – im Gutachten vom 14. April 1994 die fortgeschrittene Handgelenksarthrose nicht mehr auf den Verkehrsunfall zurückführte, befaßt. Verfahrensrechtlich wäre es aber geboten gewesen, dazu weitere Feststellungen zu treffen. Auch den Umstand, daß Dr. B.… eine “alte Navikulare-Fraktur, rechtes Handgelenk” attestiert hatte, hätte das Berufungsgericht aufklären müssen; durch die Unterlassung sei § 103 SGG verletzt. Zudem sei vom LSG unberücksichtigt geblieben, daß bei der Beurteilung des Streitfalles zwei Unfallereignisse eine Rolle spielten.
Der Kläger beantragt,
den Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. August 1995, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20. Mai 1994 und den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 1990 aufzuheben sowie festzustellen, daß die bestehenden krankhaften Veränderungen im Bereich der Handgelenke sowie der Wirbelsäulen-Veränderungen Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Oktober 1978 sind und die Beklagte zu verurteilen, hierfür eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 vH der Vollrente ab dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit zu gewähren;
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen den Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. August 1995 zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Das LSG sei zu Recht davon ausgegangen, daß Streitgegenstand nur die Frage sei, ob die Veränderungen an den Handgelenken Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Oktober 1978 seien und dem Kläger deswegen ein Anspruch auf Verletztenrente zustehe. Die vorliegenden Gutachten von Dr. Ho.… und Dr. S.… seien frei von Widersprüchen. Das LSG habe daher den Beweisanträgen des Klägers nicht nachkommen müssen, entweder ein weiteres Gutachten einzuholen oder die Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung zu hören.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist – iS des Hilfsantrags – insofern begründet, als der angefochtene Beschluß aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen für eine Entscheidung, ob die geltend gemachten Gesundheitsstörugen als Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Oktober 1978 anzuerkennen und zu entschädigen sind, nicht aus. Dem Kläger ist, wie er zu Recht rügt, das rechtliche Gehör iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) versagt worden.
Der Anspruch auf das rechtliche Gehör bedeutet, daß das entscheidende Gericht die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muß.
Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, daß es die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG vom 30. Mai 1994 zurückgewiesen hat, ohne in den Entscheidungsgründen auf die Darlegungen des Klägers in den Berufungsschriftsätzen vom 19. August 1994 und 9. Juni 1994 sowie die darin enthaltenen Beweisanträge einzugehen. Der Kläger hat in diesen Schriftsätzen zur Begründung der Berufung sich eingehend mit den beiden vom SG von Dr. S.… (§ 103 SGG) und Dr. Ho.… (§ 109 SGG) eingeholten Sachverständigengutachten auseinandergesetzt und auf bestehende Widersprüche hinsichtlich des Inhalts und der Ergebnisse der Gutachten hingewiesen.
Gemäß § 153 Abs 2 SGG kann das LSG in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist. Bereits der Normzweck, dem Berufungsgericht die Wiederholung von Argumenten zu ersparen, die den Beteiligten bekannt sind und der Text der Norm (“soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung … zurückweist”) zeigen die Grenzen der Regelung. Danach hat sich das LSG mit Einwendungen auseinanderzusetzen, die erstmals gegen das angefochtene Urteil vorgebracht werden, weil insoweit bereits keine Übereinstimmung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung vorliegen kann (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 153 RdNr 7; Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl, § 153, RdNrn 15, 22; Bley in GesKomm, Stand Dezember 1994, § 153 SGG, Anm 4d – g). Das Fehlen von Ausführungen zu den Einwendungen, die im Berufungsverfahren gegen das angefochtene Urteil vorgebracht wurden, stellt eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs dar. Denn auch § 153 Abs 2 SGG gestattet es dem Berufungsgericht nicht, die durch den Verfassungsgrundsatz des rechtlichen Gehörs gebotenen Mindestanforderungen an die Begründung richterlicher Entscheidungen zu durchbrechen. So darf etwa das Gebot des rechtlichen Gehörs, daß die wesentlichen der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen ebenfalls in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden müssen (BVerfGE 47, 182, 187; 65, 293, 295), nicht dadurch unterlaufen werden, daß das Berufungsgericht in einem solchen Fall auf neues tatsächliches Vorbringen und Rügen des Berufungsgegners gegen das erstinstanzliche Urteil nicht näher eingeht und sich mit der bloßen Bezugnahme auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe begnügt, obwohl sich diese den Urteilsspruch tragenden rechtlichen Erwägungen und tatsächlichen Würdigungen nicht auf einen solchen Sachvortrag beziehen. Derart erhebliches, den Prozeßstoff der Vorinstanz wesentlich erweiterndes oder veränderndes tatsächliches Vorbringen hat das Berufungsgericht hinreichend zu würdigen. Ohne Verstoß gegen die Begründungspflicht kann es solche Prozeßausführungen nur übergehen, wenn diese ohne weiteres und offensichtlich als verfehlt zu erkennen sind, sich zB in allgemein gehaltenen, unsubstantiierten Bemerkungen erschöpfen (vgl zu alledem BVerwG, Buchholz, 312 EntlG Nr 17).
Der Kläger hat jedoch, wie bereits aufgezeigt, substantiiert Einwendungen gegen die erstinstanzliche Entscheidung vorgebracht und entsprechende Beweisanträge gestellt. Das LSG hat sich mit diesem Vorbringen im Berufungsverfahren im angefochtenen Urteil überhaupt nicht auseinandergesetzt.
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Denn es läßt sich nicht ausschließen, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die mit den Berufungsschriftsätzen vorgebrachten Einwendungen und Beweisanträge des Klägers in Erwägung gezogen hätte.
Die Sache war schon allein aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob auch die vom Kläger des weiteren geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen und zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen würden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 797056 |
NJW 1997, 2003 |
NVwZ 1998, 112 |
AP, 0 |
MDR 1997, 373 |
SozSi 1997, 275 |