Leitsatz (redaktionell)
1. Die Abgrenzung des Versicherungsschutzes nach RVO § 539 Abs 1 Nr 9a von dem Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 2 setzt die Prüfung voraus, welche Umstände rechtlich ins Gewicht fallen. Sind die für den Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 in Betracht zu ziehenden Umstände gegenüber denjenigen, welche die Anwendung des RVO § 539 Abs 1 Nr 9a rechtfertigen, von so untergeordneter Bedeutung, daß sie als rechtlich unerheblich unberücksichtigt zu bleiben haben, so richtet sich der Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 9a.
2. In allen in RVO § 655 Abs 2 aufgeführten Fällen ist das Land als Versicherungsträger nur dann subsidiär leistungspflichtig, wenn das Unternehmen, in dem sich der Unfall ereignet hat, nicht Bestandteil eines anderen der Unfallversicherung unterliegenden Unternehmens ist. Mit Bestandteil iS des RVO § 655 Abs 3 ist der in RVO § 647 verwendete Begriff gemeint.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 9 Buchst. a, Abs. 2, § 655 Abs. 2-3, § 647
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Juli 1970 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Beigeladene befand sich am 30. Oktober 1965 als Kunde in der Filiale der Flügel- und Klavierfabrik Paul W in F, die Mitglied der Beklagten ist. Während er sich noch in den Geschäftsräumen aufhielt, wurde ein Brand im Dachstuhl des Hauses bemerkt. Der Beigeladene half der Frau des Geschäftsführers, einen Aktenschrank, elektronische Orgeln und ein Klavier aus den Geschäftsräumen zu transportieren und in Sicherheit zu bringen. Dabei brach er sich das Kahnbein des linken Fusses; als weitere Folge entstand eine Sudeck___AMPX_’_SEMIKOLONX___Xsche Atrophie.
Der Kläger gewährte dem Beigeladenen durch Bescheid vom 25. Juli 1967 bis zum 31. Dezember 1966 Verletztenrente als vorläufige Fürsorge (§ 1735 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) und forderte die Beklagte auf, die Entschädigungspflicht anzuerkennen: Der Beigeladene sei im Zeitpunkt des Unfalls wie ein Beschäftigter der Firma W tätig gewesen; daher sei die Beklagte für die Entschädigung des Unfalls zuständig.
Klage und Berufung mit dem Antrag, die Zuständigkeit der Beklagten festzustellen, sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Karlsruhe vom 6. Februar 1969 und des Landessozialgerichts - LSG - Baden-Württemberg vom 13. Juli 1970). Das LSG hat in den Gründen ausgeführt: Zwischen den Parteien sei in der Berufungsinstanz nicht mehr streitig, daß sich der Beigeladene die Unfallverletzung bei einer Hilfeleistung im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO zugezogen habe. Für den Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift sei gemäß § 655 Abs. 2 RVO der Kläger der zuständige Versicherungsträger. Entgegen der Ansicht des Klägers bestehe zwischen dem Versicherungsschutz bei Hilfeleistungen bei gemeiner Gefahr und dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 1 RVO keine Anspruchskonkurrenz. Der Beigeladene sei in erster Linie zur Hilfeleistung weger des ausgebrochenen Brandes, also der aufgetretenen gemeinen Gefahr, und nicht wie ein Beschäftigter der Firma W tätig geworden. Nach der Rechtsprechung zu § 539 Abs. 2 RVO sei nicht jede Tätigkeit eines betriebsfremden Dritten, der in den Bereich eines Unternehmens eingreife, wie eine Betriebstätigkeit versichert, auch wenn diese Tätigkeit dem Unternehmen diene und dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspreche. Es müsse hinzukommen, daß durch die Tätigkeit auch ein innerer Zusammenhang mit dem Unternehmen hergestellt werde. Ein solcher Zusammenhang fehle, wenn die Tätigkeit ihrer Art nach nicht auch üblicherweise von Personen verrichtet werde, die in dem betreffenden Unternehmen beschäftigt seien. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, ob für einen Verkäufer arbeitsvertraglich eine rechtliche Verpflichtung bestehe, beim Ausbruch eines Brandes bei der Bergung von Waren und Einrichtungsgegenständen zu helfen; denn eine solche Tätigkeit gehöre jedenfalls nicht zu den "üblichen" Verrichtungen eines Verkäufers. Das sei eine Tätigkeit, die üblicherweise der Feuerwehr obliege. Sie genieße daher im Rahmen des § 539 Abs. 2 RVO allenfalls als Hilfeleistung für die Feuerwehr Versicherungsschutz. Eine solche Erwägung sei aber überflüssig, denn § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO sei für diese Tätigkeit eine Spezialvorschrift. Die Hilfeleistung des Beigeladenen sei daher ausschließlich nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO und nicht nach Abs. 2 dieser Vorschrift geschützt. Zu diesem Ergebnis führe auch die Abwägung der rechtlich ins Gewicht fallenden Umstände. Der Beigeladene habe bei der polizeilichen Vernehmung glaubhaft ausgesagt, daß im Vordergrund seines Tätigwerdens die Absicht gestanden habe, Hilfe bei einem Unglücksfall zu leisten; die Absicht, gerade dem von der Feuersgefahr bedrohten Geschäft beizustehen, sei demgegenüber mehr in den Hintergrund getreten. Die Auffassung des Klägers, der Versicherungsschutz des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO habe nur subsidiären Charakter und greife schon dann nicht mehr ein, wenn die unfallbringende Tätigkeit irgendeinen betrieblichen Berührungspunkt habe, wobei die geringste betriebliche Grundlage oder Verbindung genüge, sei in dieser allgemeinen Form unrichtig. Sie finde auch in § 655 Abs. 3 RVO keine Stütze, wonach die Zuständigkeit des Klägers für Unternehmen nicht gegeben ist, die Bestandteil eines anderen der Unfallversicherung unterliegenden Unternehmens sind. Diese Vorschrift löse nicht etwa eine Konkurrenz, die bei Anwendung des § 539 RVO auftreten könne; sie sei vielmehr eine Sonderregelung für den Fall, daß sich nach § 647 RVO die Zuständigkeit eines Teils eines Betriebes lediglich aus Zweckmäßigkeitsgründen und nicht unbedingt sachbezogen nach der Zuständigkeit des Hauptbetriebes richte. Beispielsweise sei danach das Land für Betriebsfeuerwehren nicht zuständig.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Zu entscheiden sei die Grundsatzfrage, ob die Subsidiaritätsvorschrift des § 655 Abs. 3 RVO auch in Ansehung kurzfristiger Tätigkeiten gemäß § 539 Abs. 2 RVO gelte, wenn es sich nicht um abgegrenzte und in sich geschlossene Bestandteile eines Unternehmens im Sinne des § 647 RVO, wie z. B. bei einer Werksfeuerwehr, handele. Mit der in § 655 Abs. 3 gebrauchten Formulierung "Bestandteil eines anderen der Unfallversicherung unterliegenden Unternehmens" seien nicht nur die Bestandteile im Sinne des § 647 RVO gemeint, sondern jede versicherte unternehmensbezogene Tätigkeit für ein der Unfallversicherung unterliegendes Unternehmen überhaupt. Der Unternehmensbegriff des § 658 Abs. 2 Nr. 1 RVO umfasse auch einzelne Tätigkeiten, so daß auch eine vorübergehende Tätigkeit nach § 539 Abs. 2 RVO der ständigen Tätigkeit für ein bestimmtes Unternehmen gleichzusetzen sei. Müsse aber von der Interessenlage her die unfallbringende Tätigkeit sowohl objektiv als auch subjektiv dem bei der Beklagten versicherten Unternehmen W zugerechnet werden, so ergebe sich daraus zwangsläufig, daß der Versicherungsschutz sich auf § 539 Abs. 2 RVO zu gründen habe mit der Zuständigkeitsfolge aus § 658 RVO. Nur wenn der versicherte Tatbestand überhaupt keine Bezugspunkte zu einer versicherten Tätigkeit (Unternehmen) habe, die dem Haftungsbereich des gewerblichen Unternehmens angelastet werden könnten, entfalle die Anwendung der Subsidiaritätsklausel des § 655 Abs. 3 RVO. Im vorliegenden Fall habe die unfallbringende Tätigkeit den Interessen der Firma W gedient. Es gehöre auch zu den Treuepflichten aus dem Arbeitsverhältnis, daß ständig im Unternehmen Beschäftigte in zumutbarem Umfang die Interessen des Betriebes wahren und in Notfällen Hilfe leisten. In dieser W seien auch das Geschäftsführerehepaar der Firma W bei dem Brand tätig gewesen. Es sei nicht einzusehen, warum nicht auch betriebsfremde Personen bei einer solchen Arbeitsverrichtung nach § 539 Abs. 2 RVO versichert sein sollten.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Karlsruhe vom 6. Februar 1969 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Juli 1970 aufzuheben und die Beklagte zur Entschädigungsleistung zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, der Kläger verkenne, daß § 539 Abs. 2 RVO für diesen Streitfall nicht die einschlägige Rechtsnorm sein könne. Jede Tätigkeit eines Hilfeleistenden im Rahmen des Tatbestandes des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO sei ihrem Wesen nach zwangsläufig vorübergehender Art. Würde der Auffassung des Klägers gefolgt, dann wäre die Sonderregelung des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO illusorisch. Dies stehe auch nicht im Widerspruch zu § 655 Abs. 3 RVO. Das LSG habe überzeugend dargelegt, daß es sich dabei um keine Konkurrenzregelung zugunsten des Klägers handele. Unrichtig sei die Auffassung des Klägers, daß die Anwendung des § 539 Abs. 2 RVO nur dann zu verneinen sei, wenn der versicherte Tatbestand überhaupt keine Bezugspunkte zu einer versicherten Tätigkeit aufweise. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in einer früheren Entscheidung (SozR Nr. 4 zu § 539 RVO) darauf hingewiesen, daß die Beurteilung der Frage, ob Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO oder nach § 539 Abs. 2 RVO gegeben sei, die Prüfung voraussetze, welche Umstände rechtlich ins Gewicht fielen. Im vorliegenden Rechtsstreit entspreche es natürlicher Anschauung, daß der Beigeladene nur in der Vorstellung tätig geworden sei, einer allgemeinen Hilfspflicht zu genügen. Zutreffend habe das LSG auch die Auffassung vertreten, daß die Tätigkeit des Beigeladenen ihrer Art nach nicht üblicherweise von Personen verrichtet werde, die in dem betreffenden Gewerbezweig beschäftigt seien.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und nichts vorgetragen.
II.
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Zur Leistungsgewährung für den Arbeitsunfall des Beigeladenen ist der Kläger verpflichtet. Der Versicherungsschutz des Beigeladenen ergibt sich aus § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO und nicht aus § 539 Abs. 2 RVO. Zuständiger Versicherungsträger ist infolgedessen nach § 655 Abs. 2 Nr. 3 RVO der Kläger.
Die Voraussetzungen des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO sind erfüllt. Nach dieser Vorschrift sind Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die u. a. bei gemeiner Gefahr Hilfe leisten. Zu Recht ist das LSG - ohne dies ausdrücklich zu erwähnen - davon ausgegangen, daß der Brand im Dachstuhl des Gebäudes, in dem sich die Geschäftsräume der Firma W befanden, eine die Allgemeinheit bedrohende Gefahr darstellte. Nach den nicht wirksam angegriffenen und daher für das Revisionsgericht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden tatsächlichen Feststellungen betätigte sich der Beigeladene beim Transport von Einrichtungsgegenständen und Waren aus den Geschäftsräumen der Firma W an einen sicheren Ort in erster Linie in der Absicht, damit Hilfe wegen des ausgebrochenen Brandes zu leisten.
Dabei verkennt der Senat nicht, daß der Beigeladene damit gleichzeitig auch eine dem Unternehmen der Firma W dienende Tätigkeit verrichtete und daher auch ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO in Betracht zu ziehen ist.
Der vorliegende Fall fordert keine Entscheidung darüber, ob § 539 Abs. 2 RVO im Verhältnis zu § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO nur subsidiäre Bedeutung hat (vgl. dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 7. Aufl., 476 r ff). Jedoch ist zu beachten, daß nach der Rechtsprechung nur das Vorliegen eines Versicherungsverhältnisses angenommen werden und nur ein Versicherungsträger zur Leistung verpflichtet sein kann (Brackmann aaO, 476 t mit weiteren Nachweisen). Die deswegen vorzunehmende Abgrenzung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO von dem Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO setzt die Prüfung voraus, welche Umstände rechtlich ins Gewicht fallen. Sind die für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 RVO in Betracht zu ziehenden Umstände gegenüber denjenigen, welche die Anwendung des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO rechtfertigen, von so untergeordneter Bedeutung, daß sie als rechtlich unerheblich unberücksichtigt zu bleiben haben, richtet sich der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO (BSG 21, 101; SozR Nr. 23 zu § 537 RVO aF; SozR Nr. 4 zu § 539 RVO; Urteile des erkennenden Senats vom 15. Dezember 1966 - 2 RU 66/65 - und vom 27. April 1972 - 2 RU 94/68). So ist es auch im vorliegenden Fall. Der Beigeladene war nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG bei der zum Unfall führenden Tätigkeit in erster Linie von der Absicht geleitet, Hilfe bei einem Unglücksfall zu leisten. Es liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, daß er eine Arbeitsleistung für die Firma W erbringen wollte.
Unerheblich ist, daß für einen im Betrieb der Firma W Beschäftigten sich die Hilfe bei einem Brand möglicherweise aus der Treuepflicht des Arbeitsverhältnisses ergeben könnte. Der Beschäftigte ist von vornherein in den Betrieb des Unternehmens eingegliedert, was für den außenstehenden Helfer nicht zutrifft (BGHZ 52, 115, 120).
Die Zuständigkeit des Klägers ist entgegen seiner Meinung auch nicht durch § 655 Abs. 3 RVO ausgeschlossen. Danach gilt die die Zuständigkeit des Klägers begründende Vorschrift des § 655 Abs. 2 Nr. 3 RVO nicht für Unternehmen, die Bestandteil eines anderen der Unfallversicherung unterliegenden Unternehmens sind. Zu Unrecht meint der Kläger, daß hierunter jede versicherte unternehmensbezogene Tätigkeit für ein der Unfallversicherung unterliegendes Unternehmen falle, da der Unternehmensbegriff des § 658 Abs. 2 Nr. 1 RVO auch einzelne Tätigkeit und damit auch eine vorübergehende Tätigkeit nach § 539 Abs. 2 RVO umfasse. Diese Auffassung wird vom Senat nicht geteilt. Es ist zwar zutreffend, daß in allen in § 655 Abs. 2 RVO aufgeführten Fällen das Land als Versicherungsträger nur subsidiär leistungspflichtig ist, wenn nämlich das Unternehmen, in dem sich der Unfall ereignet hat, nicht Bestandteil eines anderen der Unfallversicherung unterliegenden Unternehmens ist. Die Zuständigkeit des Klägers für die Entschädigung des Unfalls, den der Beigeladene bei seiner Tätigkeit der Hilfeleistung erlitten hat, wäre nach § 655 Abs. 3 RVO nur dann ausgeschlossen, wenn der Beigeladene dabei als Unternehmer oder Beschäftigter eines Unternehmens zur Hilfeleistung, das zugleich Bestandteil des Unternehmens der Firma W war, tätig geworden wäre. Eine solche Voraussetzung ist hier zweifellos nicht gegeben. Zutreffend hat das LSG darauf hingewiesen, daß mit "Bestandteil" in dieser Vorschrift der auch in § 647 RVO verwendete Begriff gemeint ist (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 7 zu § 655).
Die Revision des Klägers war daher nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt, soweit sie den Kläger und die Beklagte betrifft, aus § 193 Abs. 4 SGG und hinsichtlich des Beigeladenen aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen