Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Baden |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Dezember 1997 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1943 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf. Sie war als Schreibkraft, Justizangestellte und Stationshilfe sowie seit März 1988 als Spül- und Reinemachefrau beschäftigt. Den im April 1995 gestellten Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Juni 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 1995 ab, da die Klägerin zwar nicht mehr fähig sei, als Reinemachefrau bei einer Chemiefirma zu arbeiten, aber noch anderweitig leichte und mittelschwere Arbeit vollschichtig verrichten könne.
Das SG hat die Klage nach Einholung eines internistisch-allergologischen Gutachtens mit Urteil vom 20. August 1996 abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, ihre Leistungsfähigkeit sei auch in neurologisch-psychiatrischer Sicht eingeschränkt und es liege bei ihr eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Das LSG hat das arbeitsamtsärztliche Gutachten des Arbeitsamts M. vom 10. Juni 1997 beigezogen, in welchem ausgeführt war, die Klägerin solle Kontakt mit allergisierenden Substanzen konsequent meiden, ferner atemwegsreizende Substanzen sowie Tätigkeiten unter Staub-, Rauch- und Dampfbelastung; sie könne jedoch unter Berücksichtigung der qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig für leichte Arbeiten mit gelegentlich mittelschweren Belastungsspitzen eingesetzt werden. Die Beklagte hat dazu – unter Vorlage einer berufskundlichen Stellungnahme ihres Arbeitsmediziners in einem vergleichbaren Fall – vorgetragen, für die Klägerin kämen bei den beschriebenen gesundheitlichen Einschränkungen noch einfache Büroarbeiten sowie Montagetätigkeiten mit Kunststoff, Plastik, Glas oder Holz in Betracht. Im Einverständnis der Beteiligten hat das LSG ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 19. Dezember 1997 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei nicht erwerbsunfähig, da sie mindestens leichte Arbeiten noch vollschichtig verrichten könne. Zwar sei sie nicht ohne weiteres auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Es liege eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Die Klägerin könne nur Tätigkeiten im Wechsel von Sitzen, Gehen und Stehen ausüben, wobei schweres Tragen und Überkopfarbeiten, Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtarbeiten sowie die Einwirkung von Staub und chemisch-irritativer Gase und Dämpfe vermieden werden müßten. Darüber hinaus dürfe sie aufgrund der Ekzemneigung ihrer Hände nicht mit potentiell-allergisierenden oder irritativ-toxischen Materialien in Berührung kommen. Die von der Beklagten genannten Büroarbeiten oder Montagetätigkeiten mit Kunststoff, Plastik, Glas oder Holz könne sie jedoch noch verrichten. Arbeitsplätze für derartige Tätigkeiten seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend vorhanden.
Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß §§ 62, 128 Abs 2 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG und trägt zur Begründung ua vor: Sie habe nicht damit rechnen müssen, daß das LSG seine Entscheidung ohne weitere Ermittlungen auf die von der Beklagten genannten Einsatzmöglichkeiten stützen werde. Mit seiner Aussage, die Klägerin könne auf diese Tätigkeiten verwiesen werden und es gebe sie auf dem Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl, habe das LSG die Beteiligten überrascht; die dabei zugrunde gelegten Kenntnisse der Arbeitsmarktsituation und der Anforderungen für die genannten Tätigkeiten habe es nicht ordnungsgemäß in den Prozeß eingeführt. Bei rechtzeitigem Hinweis wäre ein Antrag auf Vernehmung eines berufskundlichen Sachverständigen gestellt worden. Diese hätte ergeben, daß für ein derart spezifisch eingeschränktes Leistungsvermögen wie bei der Klägerin Arbeitsplätze in nennenswertem Maße auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden seien, daß es sich bei den von der Beklagten benannten Tätigkeiten um sog Schonarbeitsplätze handele, die leistungsgeminderten Betriebsangehörigen vorbehalten und Außenstehenden nicht zugänglich seien, und daß die genannten Tätigkeiten mit Beanspruchungen verbunden seien, denen die Klägerin aufgrund der bei ihr festgestellten Leistungseinschränkungen nicht gewachsen sei. Darüber hinaus hätte sich ergeben, daß sie diese Tätigkeiten auch nicht in einer Einarbeitungszeit von drei Monaten konkurrenzfähig auf dem Arbeitsmarkt erlernen könne.
Die Klägerin beantragt,
- das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Dezember 1997 und das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 20. August 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Juni 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,
- hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,
- hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat sich zur Revision nicht geäußert.
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Im Ergebnis zutreffend hat das LSG einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verneint. Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.
Aufgrund der vom LSG verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, kann die Klägerin Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht beanspruchen. Sie ist nicht erwerbsunfähig iS des § 44 SGB VI, dh nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als nur geringfügiges Arbeitseinkommen zu erzielen (§ 44 Abs 2 Satz 1 1. Halbsatz SGB VI); die anderen Alternativen kommen bei der Klägerin von vornherein nicht in Betracht. Die Klägerin ist auch nicht berufsunfähig; denn sie kann mit einer ihr zumutbaren Tätigkeit mehr als die Hälfte des Verdienstes einer körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten erzielen (§ 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI).
Die Klägerin kann vollschichtig noch mindestens leichte Tätigkeiten verrichten und ist trotz der vom LSG festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsatzfähig. Als Tätigkeiten, die für die Klägerin angesichts der gesundheitlichen Einschränkungen noch in Betracht kommen, verweist das LSG auf „einfache Bürotätigkeiten oder Montagetätigkeiten mit Kunststoff, Plastik, Glas oder Holz”, für die Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend vorhanden seien. Diese Feststellungen reichen aus, um eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit auszuschließen.
Die Feststellungen des LSG zu den für die Klägerin noch in Betracht kommenden Tätigkeiten erfüllen zwar nicht die Anforderungen an die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit, wie sie im Fall einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen erfolgen muß (vgl dazu Senatsurteile vom 15. Juli 1982 - 5b RJ 86/81 - SozR 1500 § 62 Nr 11 und vom 8. September 1982 - 5b RJ 48/82 - SozR 2200 § 1246 Nr 98 sowie BSG Urteile vom 28. August 1991 - 13/5 RJ 47/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 18 und vom 14. Mai 1996 - 4 RA 60/94 - BSGE 78, 207, 217 = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 S 28). Ein Fall der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen liegt indes nicht vor. Vielmehr hat das LSG tatsächlich ein Leistungsvermögen festgestellt, mit dem die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumindest leichte Arbeiten noch vollschichtig verrichten kann. Eine Bezeichnungspflicht iS der vorgenannten Rechtsprechung des BSG bestand mithin nicht. Das LSG hat die Bedeutung des Begriffs „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” als Voraussetzung dieser konkreten Bezeichnungspflicht verkannt.
Bei dem vorgenannten Begriff handelt es sich ebenso wie bei dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Er beschreibt – unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Sachlage im Einzelfall (vgl dazu BSG Urteil vom 19. August 1997 - 13 RJ 29/95 - SozSich 1998, 111 und insbesondere Urteil vom 20. August 1997 - 13 RJ 39/96 - SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 f) – diejenigen Fallkonstellationen, in denen die breite Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt entfällt. Wie im Beschluß des Großen Senats vom 19. Dezember 1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24, 34 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 27) herausgearbeitet ist, hängt die konkrete Bezeichnungspflicht für die Beurteilung, ob ein Versicherter, der noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen verrichten kann, erwerbsunfähig ist, einerseits davon ab, ob in Anbetracht der Einschränkungen ernsthafte Zweifel daran aufkommen, daß der Versicherte in einem Betrieb einsetzbar ist. Andererseits ist in diesem Zusammenhang auch bereits die Möglichkeit der praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes von Bedeutung. Bei vollschichtig Einsatzfähigen, die trotz qualitativer Leistungseinschränkungen noch zu den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts arbeiten können, ist aber grundsätzlich weder die Einsatzfähigkeit des Versicherten in einem Betrieb ernsthaft in Zweifel zu ziehen, noch kommt die Möglichkeit einer praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts in Betracht. Es genügt vielmehr – wie der 13. Senat unter Bezugnahme auf den Beschluß des Großen Senats (aaO § 44 Nr 8 S 25) bereits ausgeführt hat – die Nennung eines Arbeitsfeldes oder von Tätigkeiten der Art nach, die der Versicherte ausfüllen könnte (BSG Urteile vom 19. August 1997 - 13 RJ 29/95 - SozSich 1998, 111 und vom 20. August 1997 - 13 RJ 39/96 - SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f).
Mit anderen Worten: Die Frage, ob bei der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt und somit die Pflicht zur konkreten Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit besteht, stellt sich erst dann, wenn sich keine Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes beschreiben lassen, in denen es Arbeitsplätze gibt, die sie mit ihrem Restleistungsvermögen noch ausfüllen kann (vgl Senatsurteil vom 25. März 1998 - B 5 RJ 46/97 R - nicht veröffentlicht – zur Prüfungspflicht, wenn ein „deutlicher Hinweis auf das Fehlen von Tätigkeitstypen” gegeben ist). Solche Tätigkeiten hat das LSG indes genannt. Es konnte sich dabei auf das Gutachten des Arbeitsamts und die von der Beklagten vorgelegte berufskundliche Stellungnahme stützen. Denn wie sich das LSG die erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt grundsätzlich in seinem Ermittlungsermessen (vgl BSG Urteil vom 20. August 1997 - 13 RJ 39/96 - SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61 f).
Zu Unrecht rügt die Klägerin, ihr sei das rechtliche Gehör hinsichtlich dieser Feststellungen versagt worden (§ 62 SGG). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebietet, daß den Beteiligten von Amts wegen die Möglichkeit gegeben werden muß, sich zu allem tatsächlichen Vorbringen zu äußern. Das Gericht darf seine Entscheidung nur auf solche Gesichtspunkte stützen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten (§ 278 Abs 3 ZPO iVm § 202 SGG; BSG Urteil vom 15. Oktober 1986 - 5b RJ 24/86 - SozR 1500 § 62 Nr 20). Das rechtliche Gehör ist daher verletzt, wenn die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf einer Rechtsauffassung beruht, zu der sie nach dem tatsächlichen Sach- und Streitstand keine Veranlassung hatten, Stellung zu nehmen, oder wenn sie mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, für die bisher keine Hinweise vorlagen. Der sich daraus ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dem entsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich jedoch nur auf Tatsachen, die den Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte (BSG Beschlüsse vom 12. Dezember 1990 - 11 RAr 137/89 - SozR 3-4100 § 103 Nr 4 und 25. August 1994 - 2 BU 109/94 - sowie Urteile vom 12. Dezember 1995 - 5 RJ 76/95 - HV-Info 1996, 1066 und vom 18. November 1997 - 2 RU 19/97 - HV-Info 1998, 396). Die für die Entscheidung des LSG erheblichen Tatsachen und rechtlichen Gesichtspunkte waren der Klägerin aber nach ihrem eigenen Vorbringen bekannt. Die genannten Verweisungstätigkeiten sind nicht erst in den Urteilsgründen des LSG aufgeführt worden (vgl zu dieser Fallgestaltung BSG Urteil vom 4. November 1998 - B 13 RJ 27/98 R - nicht veröffentlicht). Es ist auch nicht ersichtlich, daß die Klägerin ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in Unkenntnis der Äußerungen der Beklagten, auf die sich das LSG bezieht, abgegeben oder aufrecht erhalten hätte. Sie hatte – unter Berücksichtigung des Übermittlungszeitpunkts der Äußerungen der Beklagten – noch hinreichend Gelegenheit, ihre Einwände schriftlich darzulegen oder auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu bestehen und entsprechende Beweisanträge zu stellen.
Kann die Klägerin die vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten noch ausüben, steht ihr auch keine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu. Denn diese Tätigkeiten sind ihr iS des § 43 Abs 2 SGB VI zumutbar; einen Berufsschutz besitzt sie als ungelernte Arbeiterin nicht.
Gemäß § 170 Abs 1 Satz 2 SGG war daher die Entscheidung des LSG im Ergebnis zu bestätigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 542931 |
NZS 2000, 41 |
SGb 1999, 248 |