Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) den Kläger nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) entschädigen muß.
Der Kläger arbeitete 27 Jahre bei dem Unternehmen KHD als Hammerschmied. Bei den Schmiedevorgängen kam es zu Erschütterungen und Prellschlägen, die ein chronisches Handrückenödem rechts verursachten.
Die Beklagte lehnte es anfangs mangels Ursachenzusammenhanges mit der beruflichen Beschäftigung des Klägers ab, diese Gesundheitsstörung als Berufskrankheit (§ 551 Abs. 1 RVO) zu entschädigen (Bescheid vom 5. Februar 1974). Der Kläger nahm die auf § 551 Abs. 1 und Abs. 2 RVO gestützte Klage nach Rechtsbelehrung zurück, soweit sie den Anspruch aus § 551 Abs. 1 RVO betraf, nachdem sich die Beklagte verpflichtet hatte, sie im übrigen als Widerspruch zu werten und darüber zu befinden.
Sodann lehnte es die Beklagte ab, die Gesundheitsstörung wie eine Berufskrankheit (§ 551 Abs. 2 RVO) zu entschädigen (Bescheid vom 19. August 1976). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 1976).
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 11. August 1970 gemäß § 551 Abs. 2 RVO Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 vH zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. September 1980).
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 551 Abs. 2 RVO.
Er beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Der Kläger hat gemäß § 551 Abs. 2 RVO Anspruch auf eine Verletztenrente.
Nach § 551 Abs. 2 RVO, dessen Anwendung hier nach der teilweisen Klagerücknahme allein streitig ist, sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit wie eine Berufskrankheit entschädigen, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind. Dafür ist erforderlich, daß - außer der zweifachen Kausalität zwischen der versicherten Beschäftigung und der schädigenden Einwirkung und zwischen dieser und der Erkrankung - die Krankheit nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht ist, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 551 Abs. 1 Satz 3 RVO i.V.m. Abs. 2). Nicht genügen kann, daß nur eine der genannten Voraussetzungen erfüllt ist. Vielmehr müssen über alle neuen Erkenntnisse vorhanden sein, womit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSGE 49, 148, 151 = SozR 5670 Anlage 1 Nr. 4302) neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft gemeint sind. Sie müssen nach dem Erlaß der letzten Berufskrankheitenverordnung (BKVO) bekennt geworden sein oder sich erst nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitsreife verdichtet haben (USK 8632). Erkenntnisse, die vor Erlaß einer BKVO überprüft wurden, sind keine "neuen Erkenntnisse" mehr, die zu einer Entschädigung "wie" eine Berufskrankheit führen können. Es ist also nur in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Anpassungen der BKVO eine Krankheit wie eine Berufskrankheit zu entschädigen, bei der nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit erfüllt sind (BSGE 44, 90 - SozR 2200 § 551 Nr. 9 und SozSich 1979, 188). Soweit die Revision darin eine restriktive Interpretation erblicken möchte, die eine Entschädigung aller Einzelerkrankungen verhindere und den Kreis der zu entschädigenden Krankheiten beschränke, verkennt sie, daß nach § 551 Abs. 2 RVO auch im Einzelfall neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich der Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit erfüllt sein müssen. Lehnt nämlich der Verordnungsgeber nach erkennbarer Prüfung der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine Krankheit ihre Aufnahme in die BKVO ab, weil sie nicht ausreichen, um die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 darzutun, sind sie nicht mehr "neu" i.S. von § 551 Abs. 2 RVO (BSGE 44, 90, 92 ff. = SozR 2200 § 551 Nr. 9).
Eine solche Prüfung hat hier nicht stattgefunden, weil bestimmte Personengruppen, die - in gleicher Weise wie der Kläger - in ihrer Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen krankheitsverursachenden Einwirkungen ausgesetzt sind, nach den Auskünften des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung von Februar bis Mai 1980 nicht bekannt geworden sind, also auch nicht ausdrücklich abgelehnt werden konnten. Solche Fälle sind nach § 551 Abs. 2 RVO wie eine Berufskrankheit zu entschädigen, wenn inzwischen allgemeine Erkenntnisse über die Gefährdung vorliegen und der Ursachenzusammenhang im Einzelfall hinreichend wahrscheinlich ist (BSG, Urteil vom 4. August 1981 - 5a/5 RKnU 1/80 -). Auf das Urteil des erkennenden Senats vom 20. März 1973 (BSG SozR Nr. 5 zu § 551) vermag sich der Kläger jedoch nicht mit Erfolg zu berufen. Im Mittelpunkt des damaligen Streits stand nämlich, was hier aber entscheidend ist, nicht, daß der Versicherte einer bestimmten Personengruppe angehörte, die Belastungen ausgesetzt ist. Hier aber hat das LSG festgestellt, daß der Kläger im wesentlichen als einziger der krankheitsverursachenden besonderen Einwirkung ausgesetzt gewesen ist.
Die vom Kläger begehrte Entschädigung wie eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO läßt sich indes aus folgenden Erwägungen rechtfertigen:
§ 551 RVO i.V.m. der BKVO bezweckt, die Folgen arbeitsbedingter Krankheiten dann wie die Folgen von Arbeitsunfällen (§ 548 RVO) zu entschädigen, wenn sie ihre Ursache in besonderen schädigenden Einwirkungen haben, die typischerweise mit bestimmten Arbeiten verbunden sind. Deshalb ist die Aufnahme solcher Krankheiten in die BKVO in der Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlaß der Rechtsverordnung (BKVO) in § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO davon abhängig gemacht, daß "bestimmte Personengruppen nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt sind". Unter diesen Voraussetzungen ist die Bundesregierung kraft Gesetzes aufgrund des Gleichbehandlungsgebotes des Grundgesetzes -GG- (Art. 3 GG) auch verpflichtet, eine Krankheit normativ als Berufskrankheit zu bezeichnen und so die für eine Vielzahl von Fällen bestimmte abstrakte Regel aufzustellen, die dann von den Trägern der Unfallversicherung im Einzelfall zu konkretisieren ist.
Ergänzend zu § 551 Abs. 1 RVO sieht Abs. 2 dieser Vorschrift vor, daß "im Einzelfall" eine Krankheit wie eine in die BKVO aufgenommene Krankheit selbst dann entschädigt werden soll, wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist oder wenn die dort bestimmten Voraussetzungen fehlen. Mit dieser auf den konkreten Einzelfall außerhalb der abstrakt-generellen Regelung der BKVO zielenden Norm stützt sich der Gesetzgeber auf die Erkenntnis, daß nicht alle Krankheiten, die die Voraussetzungen einer Berufskrankheit erfüllen, in der BKVO enthalten sein können und müssen, daß gleichwohl aber alle Tatbestände gleichermaßen entschädigt werden sollen, in denen die entschädigungserheblichen Kriterien der Berufskrankheit erfüllt sind.
Die entschädigungserheblichen Kriterien jeder Berufskrankheit sind die besondere Einwirkung durch die Arbeitsbedingungen und die in der Betroffenheit bestimmter Personengruppen liegende Typik der Gefahr. Regelmäßig wird sich die besondere Einwirkung der arbeitsbedingten typischen Gefahr, aus der Feststellung ergeben, daß nach der im Arbeitsleben konkret vorhandenen Gefahrenlage bestimmte Personengruppen davon betroffen sind. Es ist jedoch nicht Sinn der Einzelfallregelung des § 551 Abs. 2 BKVO, denjenigen Arbeitnehmer nicht zu entschädigen, der nur deshalb nicht als gruppentypisch gefährdet erscheint, weil die gleiche Gefahr nicht schon in einer Vielzahl von Fällen zu den gleichen schädlichen Einwirkungen geführt hat oder weil nach dem Grundsatz "Gefahr erkannt, Gefahr beseitigt" Einwirkungen dieser Art künftig nicht mehr zu erwarten sind. Denn die ersten und letzten Fälle besonderer gruppentypischer schädlicher Einwirkungen können rechtlich kein anderes Schicksal haben als die dazwischen liegende Vielzahl der Fälle. Deshalb kann das entschädigungserhebliche Kriterium der gruppentypischen besonderen Gefährdung durch die Arbeitsbedingungen jedenfalls dann nicht von einer feststellbaren Anzahl gleichartiger oder ähnlich gefährdeter Arbeitnehmer abhängig gemacht werden, wenn die Art der Gefährdung im konkreten Einzelfall nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft zu dem Schluß zwingt, daß eine nicht bekannte und konkret auch noch nicht oder nicht mehr feststellbare Vielzahl von Arbeitnehmern dieser an sich gruppentypischen arbeitsbedingten Gefahr in gleicher Weise ausgesetzt wäre.
Ist die überdurchschnittliche Schädlichkeit einer bestimmten Arbeit erstmals aufgrund eines Einzelfalles zu erkennen, indem - wie hier - bei einem Versicherten eine Krankheit festgestellt wird, die ihre wesentliche Ursache in den typischen Einwirkungen einer bestimmten Arbeit hat, so liegen damit neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse nach § 551 Abs. 2 RVO vor, die die Entschädigung dieser Krankheit rechtfertigen. Sie sind auch nach dem Erlaß der BKVO vom 8. Dezember 1976 (BGBl. I 3329) weiterhin geeignet, als "neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse" zur Entschädigung der Krankheit des Klägers zu führen, weil sie dem Verordnungsgeber nach Lage der Sache nicht bekannt sein konnten. Der Senat konnte die Beklagte unmittelbar zur Entschädigung verurteilen. Die Beklagte hat nämlich keine Bedenken dahin geäußert, daß die Krankheit des Klägers, wie Prof. Dr. Hettinger in seinem Gutachten vom 29. August 1978 als Sachverständiger ausgeführt hat, die Folge von schädigenden Einwirkungen ist, denen der Kläger durch die besondere Eigenart seiner langjährigen Beschäftigung ausgesetzt war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 518566 |
BSGE, 272 |
Breith. 1982, 767 |