Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei verzögerter Briefbeförderung und Briefzustellung
Leitsatz (redaktionell)
Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf dies dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen des Wiedereinsetzungsverfahrens nicht als Verschulden zur Last gelegt werden.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; StPO § 410 Abs. 1, § 411 Abs. 1, § 43 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Berlin (Beschluss vom 01.07.1993; Aktenzeichen 516 Qs 301/93) |
AG Berlin-Tiergarten (Beschluss vom 12.05.1993; Aktenzeichen 323 Cs 266/93) |
AG Berlin-Tiergarten (Beschluss vom 15.04.1993; Aktenzeichen 323 Cs 266/93) |
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten und des Landgerichts Berlin, durch die der Einspruch des Beschwerdeführers gegen einen Strafbefehl als unzulässig verworfen und ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt worden ist.
I.
Der Beschwerdeführer ist amerikanischer Staatsangehöriger. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 4. März 1993 – 323 Cs 266/93 – wurde gegen ihn wegen eines Vergehens der Körperverletzung eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 50,– DM sowie ein Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten festgesetzt. Dieser Strafbefehl wurde dem Beschwerdeführer am 19. März 1993 durch Niederlegung zugestellt. Mit Schreiben vom 31. März 1993, eingegangen am 3. April 1993, legte der Beschwerdeführer Einspruch ein. Der Einspruch wurde mit Beschluß vom 15. April 1993 als unzulässig verworfen, da die am 2. April 1993 abgelaufene Einspruchsfrist von zwei Wochen nicht gewahrt sei (§§ 410 Abs. 1, 411 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 1 StPO). Dieser Beschluß wurde dem Beschwerdeführer am 24. April 1993 zugestellt. Mit Schreiben vom 26. April 1993, bei den Justizbehörden am 28. April 1993 eingegangen, entschuldigte der Beschwerdeführer die Verspätung damit, daß er den Brief erst am 27. März 1993 beim Postamt abgeholt habe. Er habe auch erst jemanden finden müssen, der seine Äußerung zu dem Vorfall ins Deutsche habe übersetzen können. Deshalb habe er es nicht geschafft, sich innerhalb der Frist zu äußern. Mit Beschluß vom 12. Mai 1993 wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet verworfen. In den Gründen ist ausgeführt, sowohl der Umstand, daß der Beschwerdeführer den Strafbefehl erst am 27. März 1993 bei der Post in Empfang genommen habe, als auch der Umstand, daß er sein Einspruchsschreiben vom 31. März 1993 so spät zur Post gebracht habe, daß es erst am 3. April 1993 bei Gericht eingegangen sei, seien allein das Verschulden des Beschwerdeführers und könnten mit den möglicherweise eingeschränkten Deutschkenntnissen nicht zusammenhängen. Dieser Beschluß wurde dem Beschwerdeführer am 21. Mai 1993 durch Niederlegung zugestellt.
Mit Schreiben vom 26. Mai 1993 legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluß ein, die er mit Schreiben vom 27. Mai 1993 begründete. Er führte aus, er habe das Einspruchsschreiben vom 31. März 1993 am 1. April 1993 von der Person, die es ihm ins Deutsche übersetzt habe, zurückerhalten. Noch am gleichen Tage habe er es gegen 17.45 Uhr in einen Briefkasten an der Goerzallee eingeworfen, der ausweislich der darauf angegebenen Leerungszeiten am gleichen Tag um 18.15 Uhr geleert wurde. Er habe sich deshalb darauf verlassen können, daß der Brief mit dem Einspruch am nächsten Tag bei Gericht eingehe. Dieser Vortrag wurde durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau glaubhaft gemacht. Mit Beschluß vom 1. Juli 1993 verwarf das Landgericht Berlin die sofortige Beschwerde als unbegründet. Es führte aus, der Beschwerdeführer habe sich nicht darauf verlassen können, daß sein am 1. April 1993 um 17.45 Uhr eingeworfener Brief am nächsten Tag bei Gericht eingehen würde. Es sei bekannt, daß es auch innerhalb Berlins zu einer Postlaufzeit von bis zu zwei Tagen kommen könne, besonders wenn der Brief erst am Abend eingeworfen werde.
II.
Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Art. 1 Abs. 3, 2 Abs. 1, 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG.
Das Amtsgericht Tiergarten und das Landgericht Berlin hätten bei der Anwendung und Auslegung der §§ 44 ff. StPO die sich aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 103 Abs. 1 GG ergebenden Verfahrensgarantien nicht hinreichend beachtet. Insbesondere habe das Landgericht Berlin nicht hinreichend berücksichtigt, daß es sich bei dem Einspruch gegen den Strafbefehl um den ersten Zugang zum Gericht handele, der Beschwerdeführer die Frist bis zu ihrer Grenze ausnutzen dürfe und ihm Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden zugerechnet werden dürften, nachdem er den zu befördernden Brief so rechtzeitig zur Post gegeben habe, daß er bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht hätte.
III.
Auf Anfrage teilte die Deutsche Bundespost, Postdienst, Direktion Berlin, mit, daß im fraglichen Zeitraum über 90% der gewöhnlichen Briefsendungen am auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert wurden. Die Kunden hätten erwarten können, daß ein korrekt adressierter Brief am folgenden Tag bei den Justizbehörden eingehen werde.
Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin hat von einer Stellungnahme abgesehen.
IV.
1. Obwohl die Verfassungsbeschwerde bereits am 8. August 1993 erhoben worden ist, gelten für die Annahme zur Entscheidung und für das weitere Verfahren gemäß Art. 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl. I S. 1442) die durch dieses Gesetz mit Wirkung vom 11. August 1993 (vgl. Art. 10 des genannten Gesetzes) neu gefaßten Vorschriften der §§ 93a bis 93d BVerfGG.
2. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin vom 1. Juli 1993 richtet, zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), weil es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet(§ 93c BVerfGG). Der Beschluß des Landgerichts Berlin verletzt die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient unmittelbar der Gewährleistung des verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzes. Deshalb dürfen bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht überspannt werden. Der Zugang zum Gericht darf nicht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 41, 332 ≪334≫; 69, 381 ≪385≫). Der Bürger ist dabei insbesondere berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (BVerfGE 40, 42 ≪44≫; 41, 323 ≪328≫). Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes verbietet es grundsätzlich, dem Bürger im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Verzögerungen der Briefbeförderung und Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost als Verschulden anzurechnen (BVerfGE 50, 1 ≪3≫; 51, 146 ≪149≫; 51, 352 ≪354≫; 53, 25 ≪28≫). Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf dies dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen des Wiedereinsetzungsverfahrens nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (BVerfGE 40, 42 ≪45≫; 41, 23 ≪27≫; 53, 25 ≪29≫; 62, 334 ≪337≫).
b) Die Auffassung des Landgerichts Berlin wird dem vorstehend dargestellten Maßstab nicht gerecht. Das Gericht hat dem Beschwerdeführer die Dauer der Briefbeförderung als Verschulden zugerechnet, obwohl der Beschwerdeführer ausweislich der Auskunft der für das Land Berlin zuständigen Postdienststelle erwarten konnte, daß sein am 1. April 1993 gegen 17.45 Uhr in den von ihm bezeichneten Briefkasten eingeworfener Brief am 2. April 1993 bei den Justizbehörden in Berlin-Moabit eingehen würde. Dies verletzt den Beschwerdeführer in seinen verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf diesem Verstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht bei zutreffender Berücksichtigung von Inhalt und Tragweite dieser Garantien eine andere Entscheidung getroffen hätte.
Der angegriffene Beschluß des Landgerichts Berlin war daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
3. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus die Beschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten vom 15. April 1993 und vom 12. Mai 1993 angreift, ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Insoweit ist eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinen in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten weder ersichtlich noch dargetan. Auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG war das Amtsgericht Tiergarten nicht gehindert, den verspäteten Einspruch zu verwerfen und das unzureichend begründete Wiedereinsetzungsgesuch zurückzuweisen.
V.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Nachdem der Beschwerdeführer sein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgtes Anliegen im Ergebnis in vollem Umfang erreicht hat, ist die vollständige Erstattung der Auslagen angemessen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen