Wiederaufnahme von Strafverfahren trotz Freispruchs?
Am 24.5.2023 hat das BVerfG über eine hochumstrittene Reform aus dem Jahr 2021 verhandelt. Mit einem neu eingeführten § 362 Nr. 5 StPO hatte der Gesetzgeber die Schwelle für die Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren wegen schwerer Straftaten wie Mord, Völkermord und Verbrechen gegen das Völkerrecht deutlich gesenkt.
Reform des Wiederaufnahmerechts für mehr materielle Gerechtigkeit
Mit der im Jahr 2021 beschlossenen Reform des Wiederaufnahmerechts wollte die damalige Bundesregierung dem Rechtsempfinden der Bevölkerung Rechnung tragen. Anlass waren einige spektakuläre Freisprüche in Mordfällen, bei denen den Angeklagten die ihnen zur Last gelegte Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Die sich ständig verfeinernden Ermittlungsmethoden, insbesondere die verbesserten Techniken der DNA-Analyse, können heute nicht selten Licht in ein Dunkel bringen, das vor Jahren noch nicht zu erhellen war.
Erleichterte Wiederaufnahme nur bei besonders schweren Straftaten
Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber mit dem neuen § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren bei unverjährbaren Taten, also bei schweren Verbrechen wie Mord und Völkermord, erleichtert und eine Wiederaufnahme zu Ungunsten eines Freigesprochenen ermöglicht, wenn durch neue Beweismittel die Tat voraussichtlich nachgewiesen werden kann.
Grundsatz ne bis in idem verletzt?
Die Reform war von Anfang an unter Juristen hochumstritten, weil sie mit dem aus dem römischen Recht übernommenen Grundsatz „ne bis in idem“ (nicht zweimal in derselben Sache) kollidiert, der in Art. 103 Abs. 3 GG Eingang in die deutsche Verfassung gefunden hat. Dieser Grundsatz verbietet nach bisher herrschender Meinung nicht nur, dass
- ein Täter wegen der gleichen Tat zweimal bestraft wird, sondern
- er untersagt auch, dass der Täter wegen der gleichen Tat wiederholt einer Strafverfolgung ausgesetzt wird.
Reform vor dem BVerfG
Nun muss sich das Bundesverfassungsgericht in einem anhängigen Verfahren mit der Verfassungsmäßigkeit der Reform befassen. Hintergrund ist ein Mordfall, der mehr als 40 Jahre zurückliegt. Im November 1981 wurde die 17-jährige Friederike nach einer Chorprobe vergewaltigt und getötet. Der damalige Tatverdächtige wurde 1983 rechtskräftig freigesprochen. 2012 tauchten neue Beweise auf. Die DNA-Analyse von neu entdeckten Spermaspuren auf Toilettenpapier schien den damaligen Angeklagten erneut zu belasten.
Reform durch Petition erwirkt
Im vergangenen Jahr hat das LG Verden die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den damaligen Angeklagten auf der Grundlage des neuen § 362 Nr. 5 StPO für zulässig erklärt. Das OLG Celle hat den Beschluss bestätigt (OLG Celle, Beschluss v. 20.4.2022, 2 Ws 62/22). Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde des rechtskräftig freigesprochenen Beschwerdeführers.
Beschwerdeführer rügt eine zweifache Verletzung von Verfassungsrecht
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des in Art. 103 Abs. 3 GG verankerten Grundsatzes „ne bis in idem“. Zudem verstoße die Wiederaufnahme seines Verfahrens gegen das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Gesetzen. Die Reform sei im Dezember 2021 in Kraft getreten und dürfe nicht rückwirkend auf ein Verfahren angewendet werden, dass bereits im Jahr 1983 durch einen rechtskräftigen Freispruch beendet wurde.
BVerfG betont grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens
In der mündlichen Verhandlung am 24.5.2023 legte die Vorsitzende Richterin und Vizepräsidentin des BVerfG Wert auf die Feststellung, dass es um grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen gehe und nicht um die Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer die ihm erneut vorgeworfene Tat tatsächlich begangen habe oder nicht.
Freisprüche nur noch unter Vorbehalt?
Der Beschwerdeführer machte geltend, die Gesetzesreform führe dazu, dass Freisprüche nur noch unter Vorbehalt ergehen könnten. Die Garantie des § 103 Abs. 3 GG, die wesentlich für die die Schaffung von Rechtssicherheit für den von einem Strafverfahren Betroffenen sei, werde praktisch abgeschafft. Rechtskräftig Freigesprochene müssten dann unter der ständigen Drohung leben, dass bei Auffinden neuer Beweismittel eine Wiederaufnahme des Verfahrens drohe..
Freisprüche ohne Abschlusswirkung führen zu Rechtsunsicherheit
Die Vertreter des Beschwerdeführers vertraten die Auffassung, dass die Reform ein neuer Prozess „ad infinitum“ sei. Das Verfahren finde praktisch nie ein Ende, da es immer wieder neu aufgerollt werden könne. Insbesondere Unschuldige kämen künftig auch nach einem rechtskräftigen Freispruch nicht zur Ruhe. Dies habe es in Deutschland zuletzt in der NS-Zeit gegeben. Verurteilte, deren Urteile aus politischen Gründen als zu milde empfunden wurden, seien einfach erneut vor Gericht gestellt worden. Diese Praxis sei vom deutschen Gesetzgeber aus guten Gründen abgeschafft worden.
Beinhaltet Verbot der Doppelbestrafung zwingend Verbot mehrfacher Verfolgung?
In den Fragen der Vorsitzenden Richterin deutete sich an, dass dabei zwischen dem Verbot der Doppelbestrafung als Kernbereich des verfassungsrechtlichen Schutzes und dem Verbot der Doppelverfolgung, das eher den Randbereich des Schutzgutes betrifft, unterschieden werden könnte. Möglicherweise deutet sich hier eine differenzierte, am Schutzgut des Verbots der Doppelbestrafung bzw. Mehrfachverfolgung orientierte Sichtweise des höchsten deutschen Gerichts an. Allerdings war eine einheitliche Meinungsbildung der Verfassungsrichter in der mündlichen Verhandlung insoweit nicht erkennbar, zumal die Vorsitzende Richterin dem Argument einer drohenden mehrfachen Wiederholung der Strafverfolgung erkennbar großes Gewicht beigemessen hat.
Reform als Garant materieller Gerechtigkeit?
Daneben spielte in der Verhandlung das Argument der Reformbefürworter eine große Rolle, dass es Aufgabe des Staates sei, seinen Bürgern ein Höchstmaß an materieller Gerechtigkeit zu gewähren. Dieser Gewährung materieller Gerechtigkeit widerspreche es, wenn schwerste Verbrechen auf Dauer ungesühnt blieben, nur weil zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch keine geeigneten Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten. Diesem für die Opfer und ihre Angehörigen oft unerträglichen Zustand müsse der Gesetzgeber entgegenwirken. Insoweit äußerte das Gericht allerdings Zweifel, ob der sehr unbestimmte Begriff der materiellen Gerechtigkeit hier überhaupt strafrechtlich fassbar sei.
Entscheidung erst in mehreren Monaten
Das erwartete Grundsatzurteil des BVerfG dürfte noch einige Monate auf sich warten lassen. Den gegen den Beschwerdeführer erlassenen Haftbefehl des AG Verden hatte das BVerfG unter Auflagen außer Vollzug gesetzt.
(BVerfG, Beschluss v. 14.7.2022 u. mündliche Verhandlung v. 24.5.2023, 2 BvR 900/22)
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