Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei verzögerter Postlaufzeit
Leitsatz (redaktionell)
Im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung duch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden. Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechts den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 233
Verfahrensgang
AG Stuttgart (Urteil vom 24.05.1991; Aktenzeichen 7 C 4763/90) |
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist in einem zivilgerichtlichen Verfahren in verfassungswidriger Weise versagt worden ist.
1. Im Ausgangsverfahren nahm der Beschwerdeführer die beklagte Reiseveranstalterin wegen Mängeln einer Reise auf Minderung in Höhe von 710 DM nebst Zinsen in Anspruch. Das im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30. November 1990 verkündete klagabweisende Versäumnisurteil des Amtsgerichts wurde den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 17. Dezember 1990 zugestellt. Nach deren Angaben wurde der Einspruchsschriftsatz am Freitag, dem 28. Dezember 1990, nach 20.00 Uhr bei der Bahnpost in Karlsruhe eingeworfen, nachdem zuvor ein Übermittlungsversuch mit dem Telefaxgerät gescheitert sei. Der Einspruch ging erst nach Ablauf der Einspruchsfrist am 2. Januar 1991 beim Amtsgericht ein. Auf einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis beantragte der Beschwerdeführer, ihm wegen Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Verzögerungen der Briefbeförderung und -zustellung seien von ihm nicht zu vertreten. Eine Postlaufzeit von mehr als drei Tagen sei unvorhersehbar.
Das Amtsgericht versagte die Wiedereinsetzung und verwarf mit Urteil vom 24. Mai 1991 den Einspruch gegen das Versäumnisurteil als unzulässig. Der Beschwerdeführer habe am 28. Dezember 1990, einem Freitag, nicht damit rechnen können, daß an diesem Tag in Karlsruhe aufgegebene Sendungen mit normaler Post am folgenden Montag beim Amtsgericht Stuttgart eintreffen würden. Es sei überall bekannt, daß über Weihnachten wegen des Anfalls von Groß- und Paketsendungen zum Fest mit längeren Transportzeiten für Briefsendungen gerechnet werden müsse. Daß die Absendung eines normalen Briefes am 28. Dezember 1990 nicht mit Sicherheit eine Ankunft noch innerhalb der Einspruchsfrist garantieren könne, sei den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers auch bewußt gewesen. Das ergebe sich daraus, daß diese vergeblich versucht hätten, den Einspruch mit Telefax an das Amtsgericht zu übermitteln. Wenn die Prozeßbevollmächtigten trotz der möglichen Übermittlung des Einspruchsschreibens per Eilboten, durch Telegramm oder mit Telefax sich darauf verlassen hätten, daß die Sendung mit normaler Post innerhalb der Einspruchsfrist ankommen werde, so sei dieses Verhalten als schuldhaft anzusehen. Der Einspruch sei mithin als verspätet zu verwerfen, ohne daß geprüft werden könne, ob dem Beschwerdeführer überhaupt Ansprüche zuständen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht hätte Wiedereinsetzung gewähren müssen. Wenn dessen Telefaxgerät am 28. Dezember 1990 nicht eingeschaltet gewesen sei, sei dies kein Umstand, der ihm zugerechnet werden könne. Auch in der Zeit um Silvester hätte er nicht mit einer so zögerlichen Postbeförderung rechnen müssen, daß ein Postlauf von drei Tagen bei der direkten Bahnverbindung zwischen Karlsruhe und Stuttgart nicht ausreichen würde. Der Hinweis des Amtsgerichts auf Paketsendungen sei erfahrungswidrig, da diese auf anderem Postwege transportiert würden. Die vom Amtsgericht an den Beschwerdeführer gestellten Anforderungen seien hier überspannt worden.
II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93 b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
1. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen. Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die von dieser nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪29≫; 62, 216 ≪221≫). Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seines Rechts den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 54, 80 ≪84≫ m.w.N., st. Rspr.).
2. Das Amtsgericht hat diese Grundsätze nicht beachtet. Nach der vom Bundesverfassungsgericht eingeholten Auskunft der Deutschen Bundespost erreicht nach deren Leitvorgaben eine Briefsendung, die bis 20.30 Uhr in Karlsruhe eingeliefert wurde, am folgenden Werktag die Zustellung in Stuttgart, sofern keine betrieblichen Störungen, wie Zugverspätungen oder Personalausfälle, auftreten. Danach steht fest, daß der Einspruch vom 28. Dezember 1990 auch im Falle eines Einwurfs an diesem Tag nach 20.30 Uhr bei ordnungsgemäßem Beförderungsablauf am 31. Dezember 1990 – und damit innerhalb der Einspruchsfrist – beim Amtsgericht eingegangen wäre. Auf die Einhaltung der regelmäßigen Postlaufzeit konnte der Beschwerdeführer vertrauen. Demgemäß durfte das Amtsgericht nicht davon ausgehen, daß der Beschwerdeführer seine Sorgfaltspflicht verletzt habe, weil er mit einer Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post habe rechnen und deshalb für eine Übermittlung des Einspruchs auf andere Weise hätte sorgen müssen.
Das angegriffene Urteil beruht auf diesem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Amtsgericht dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte und in eine Sachprüfung eingetreten wäre, wenn es bei Auslegung und Anwendung des § 233 ZPO den dargelegten Anforderungen hinreichend Rechnung getragen hätte.
III.
Die angegriffene Entscheidung ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1521072 |
NJW 1992, 1952 |
NVwZ 1992, 873 |