Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Rechtsanwalt darf einfache Verrichtungen, die keine juristische Schulung verlangen, zur selbständigen Erledigung seinem geschulten und zuverlässigen Büropersonal übertragen. Versehen dieses Personals, die nicht auf eigenes Verschulden des Anwalts zurückzuführen sind, hat die Partei nicht zu vertreten. Eine solch einfache Tätigkeit ist auch die Überprüfung bestimmender Schriftsätze auf die erforderliche Unterschrift. Gleiches gilt für das Absenden eines Telefaxes. Der Anwalt muß allerdings durch eine allgemeine Anweisung Vorsorge dafür getroffen haben, daß bei normalem Lauf der Dinge Fristversäumnisse wegen fehlender Unterschrift vermieden werden.
2. Übergibt der Anwalt seiner Angestellten einen Schriftsatz von Hand zu Hand, und wird damit dessen Eilbedürftigkeit deutlich erkennbar, so kann darin eher eine Aufforderung zu besonders sorgfältiger Kontrolle gesehen werden. Jedenfalls kann aber durch die persönliche Übergabe eines Schriftstücks der Eindruck, eine Überprüfung sei abweichend von der allgemeinen Weisung entbehrlich, schlechterdings nicht hervorgerufen werden.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 85 Abs. 2, § 233
Verfahrensgang
LAG München (Beschluss vom 17.01.1995; Aktenzeichen 8 Sa 1092/94) |
Tenor
Der Beschluß des Landesarbeitsgerichts München vom 17. Januar 1995 – 8 Sa 1092/94 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts im Zusammenhang mit der Unterschriftsleistung unter bestimmenden Schriftsätzen.
I.
- Im Ausgangsverfahren wurde um die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten Kündigung gestritten. Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers statt. Am letzten Tag der Frist begründete die Beschwerdeführerin die von ihr eingelegte Berufung und sandte den Schriftsatz per Telefax an das Landesarbeitsgericht. Dieser Schriftsatz war jedoch nicht unterschrieben, was erst nach Fristablauf entdeckt wurde. Frist- und formgerecht begründeten die Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin die Berufung erneut und stellten unter Beifügung entsprechender eidesstattlicher Versicherungen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, den sie wie folgt begründeten: der Schriftsatz sei nach seiner Fertigstellung nicht sofort unterzeichnet worden, weil erst noch eine Rücksprache mit einem Kollegen des Sachbearbeiters erforderlich gewesen sei. Im Anschluß an diese Unterredung habe der Sachbearbeiter den Schriftsatz versehentlich ohne Unterschrift einer Angestellten übergeben und ihr den Auftrag erteilt, den Schriftsatz für den Postausgang fertigzumachen und noch am selben Tag fristwahrend per Fax vorab an das Landesarbeitsgericht zu übersenden. Die Angestellte sei eine mehrjährige, stets zuverlässige Mitarbeiterin. Im Büro der Prozeßbevollmächtigten bestehe die generelle Anweisung, ausgehende Schriftsätze aller Art erst nach erfolgter Unterschrift des Sachbearbeiters für den Postausgang fertigzumachen und jeden Schriftsatz vor Fertigmachen für den Postausgang, sei es per Boten, Post oder Fax, zuvor auf das Vorhandensein der Unterschrift eines jeweils zugelassenen Anwalts zu überprüfen. Ein nicht unterzeichneter Schriftsatz müsse dem Sachbearbeiter oder dessen Vertreter zur Nachholung der Unterschrift vorgelegt werden. Erst nach Unterzeichnung dürfe der Postausgang erfolgen. Die Angestellte habe jedoch die fehlende Unterschrift nicht bemerkt. Hätte sie ordnungs- und weisungsgemäß das Vorliegen einer Unterschrift geprüft und dem Sachbearbeiter, der am fraglichen Tag bis 20.00 Uhr im Büro gewesen sei, den Schriftsatz zur Unterzeichnung nochmals vorgelegt, wäre der Schriftsatz form- und fristgerecht bei Gericht eingegangen.
Das Landesarbeitsgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig.
Zwar dürfe ein Rechtsanwalt grundsätzlich zuverlässigem Personal die technische Überprüfung der ausgehenden Schriftsätze auf eine Unterschrift überlassen. Verschulden dieses Personals könne der Partei nicht angelastet werden. Vorliegend habe der Prozeßbevollmächtigte aber durch eigenes Verhalten eine Gefahrensituation geschaffen, die den Vorgang aus der routinemäßigen Behandlung im büroorganisatorischen Ablauf herausgehoben habe. Erhalte eine Angestellte von dem, der die Unterschrift hätte erstellen sollen, unmittelbar den Auftrag, das Schriftstück per Fax zu übermitteln, werde in der Regel davon ausgegangen, daß der, der für die Unterschrift verantwortlich sei, sie auch erbracht habe. Der Sachbearbeiter habe daher bei der Angestellten den Eindruck erweckt, der Schriftsatz könne in der angegebenen Form übermittelt werden. Ihn treffe daher mindestens ein Mitverschulden, das über § 85 Abs. 2 ZPO der Beschwerdeführerin zuzurechnen sei.
II.
Mit der fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, das Landesarbeitsgericht habe die Anforderungen an die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verfassungswidrig überspannt. Auf diese erhöhten Anforderungen hätte sie sich nicht einzustellen brauchen. Die Übergabe eines Schriftsatzes an eine erfahrene und zuverlässige Anwaltsgehilfin durch einen Rechtsanwalt zur fristgerechten Übermittlung per Fax sei ein alltäglicher, zum typischen büroorganisatorischen Ablauf zählender Vorgang. Eine zusätzliche Gefahrensituation werde dadurch nicht geschaffen. Nahezu jeder Postausgang erfolge in der geschilderten Art und Weise. Lege man den vom Landesarbeitsgericht aufgestellten Regelsatz zugrunde, sei jede Ausgangskontrolle überflüssig, weil die Gehilfin stets erwarten könne, ihr übergebene Schriftsätze seien ordnungsgemäß unterschrieben.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
- Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381 ≪385≫; stRspr; zuletzt BVerfGE 88, 118 ≪123 ff.≫). Die Gerichte dürfen bei Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, daher nicht überspannen (BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫; stRspr). Ob eine Spruchpraxis rechtens ist, ist allerdings vorrangig eine Frage des einfachen Rechts und damit Aufgabe der Fachgerichte. Die Instanzgerichte sind daher nicht gehindert, strengere Anforderungen an eine Wiedereinsetzung als die Bundesgerichte zu stellen. Es widerspricht aber rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem rechtsuchenden Bürger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten seines Anwalts zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen er auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers nicht rechnen mußte (BVerfGE 79, 372 ≪376 f.≫).
Diesem verfassungsrechtlichen Maßstab wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Die Beschwerdeführerin und ihre Bevollmächtigten haben die durch höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierten Sorgfaltsanforderungen beachtet. Sie durften daher auf eine Wiedereinsetzung in die dennoch versäumte Frist zur Berufungsbegründung vertrauen.
Der Rechtsanwalt darf einfache Verrichtungen, die keine juristische Schulung verlangen, zur selbständigen Erledigung seinem geschulten und zuverlässigen Büropersonal übertragen. Versehen dieses Personals, die nicht auf eigenes Verschulden des Anwalts zurückzuführen sind, hat die Partei nicht zu vertreten. Eine solch einfache Tätigkeit ist auch die Überprüfung bestimmender Schriftsätze auf die erforderliche Unterschrift (Greger in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., 1995, § 233, Rn. 23 – Büropersonal – m.w.N.). Gleiches gilt für das Absenden eines Telefaxes (BGH, NJW 1994, S. 329). Der Anwalt muß allerdings durch eine allgemeine Anweisung Vorsorge dafür getroffen haben, daß bei normalem Lauf der Dinge Fristversäumnisse wegen fehlender Unterschrift vermieden werden (BGH, NJW 1985, S. 1226 m.w.N.; BAG, AP Nr. 44 und 66 zu § 233 ZPO).
Daß diese Voraussetzungen im Ausgangsfall erfüllt waren, verkennt auch das Landesarbeitsgericht nicht. Es stützt sich jedoch darauf, daß der Sachbearbeiter im konkreten Einzelfall durch sein Verhalten eine besondere Gefahrensituation geschaffen habe, die den Vorgang aus der routinemäßigen Behandlung im büroorganisatorischen Ablauf herausgehoben habe. Daß in einem solchen Fall ein der Partei zurechenbares Verschulden des Rechtsanwalts vorliegt, entspricht ebenfalls höchstrichterlicher Rechtsprechung (BGH, NJW 1985, S. 1226 ≪1227≫). Das Landesarbeitsgericht hat einen solchen Ausnahmefall jedoch mit Erwägungen bejaht, die dem Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht werden.
Fristwahrende Schriftsätze werden heute ganz überwiegend per Fax übermittelt. Daß sie wegen ihrer Eilbedürftigkeit dem Büropersonal häufig nicht in Laufmappen, sondern persönlich übergeben werden, ist ebenfalls ein alltäglicher Vorgang. Inwiefern sich daraus ergeben soll, daß der übergebene Schriftsatz abweichend von einer allgemeinen Weisung ungeprüft übermittelt werden könne, ist nicht nachvollziehbar. Erfahrungsgemäß können bei Arbeiten, die unter Zeitdruck gefertigt wurden, besonders leicht technische Fehler auftreten. Gerade sie bedürfen einer sorgfältigen Kontrolle. Besteht daher eine generelle Anordnung, alle Schriftsätze vor Abgang daraufhin zu überprüfen, ob sie mit einer Unterschrift versehen waren, so kann der Anwalt darauf vertrauen, daß diese Anordnung vor allem bei eilbedürftigen Schriftsätzen strikt beachtet wird. Übergibt ein Anwalt seiner Angestellten einen Schriftsatz von Hand zu Hand, und wird damit dessen Eilbedürftigkeit deutlich erkennbar, so kann darin eher eine Aufforderung zu besonders sorgfältiger Kontrolle gesehen werden. Jedenfalls kann aber durch die persönliche Übergabe eines Schriftstücks der Eindruck, eine Überprüfung sei abweichend von der allgemeinen Weisung entbehrlich, schlechterdings nicht hervorgerufen werden. Unterbleibt daher in einem solchen Fall die Überprüfung gänzlich, so liegt ein Mitverschulden des sachbearbeitenden Anwalts, das der Beschwerdeführerin zugerechnet werden könnte (§ 85 Abs. 2 ZPO), eindeutig nicht vor. Die angegriffene Entscheidung, die auf der gegenteiligen Auffassung beruht, genügt daher offensichtlich nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, die die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 233, 85 Abs. 2 ZPO zu beachten haben.
II.
Die angegriffene Entscheidung ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht München zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Freistaat Bayern hat die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin zu erstatten (§ 34a Abs. 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Söllner, Kühling, Jaeger
Fundstellen
Haufe-Index 1084328 |
NJW 1996, 309 |