Entscheidungsstichwort (Thema)
Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, Besteuerungsverfahren, Anhörungsrecht, Zugang zu Verwaltungsunterlagen, Rechtliches Gehör, Steuerbescheid ohne Anhörung des Steuerpflichtigen
Leitsatz (amtlich)
Der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ist dahin auszulegen, dass es in Verwaltungsverfahren zur Überprüfung und Festlegung der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer dem Einzelnen möglich sein muss, auf Antrag Zugang zu den Informationen und Dokumenten zu erhalten, die in der Verwaltungsakte enthalten sind und die von der Behörde für den Erlass ihrer Entscheidung berücksichtigt werden, es sei denn, eine Beschränkung des Zugangs zu diesen Informationen und Dokumenten ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt.
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Teodor Ispas, Anduta Ispas |
Directia Generala a Finantelor Publice Cluj |
Verfahrensgang
Curtea de Apel Cluj (Rumänien) (Beschluss vom 02.03.2016; ABl. EU 2016, Nr. C 314/11) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ‐ Recht auf eine ordnungsgemäße Verwaltung und Verteidigungsrechte ‐ Nationale Steuerregelung, die im Rahmen des Steuerverwaltungsverfahrens ein Anhörungsrecht und ein Recht, informiert zu werden, vorsieht ‐ Mehrwertsteuerbescheid, der von nationalen Steuerbehörden erlassen wird, ohne dem Steuerpflichtigen Zugang zu den dem Bescheid zugrunde liegenden Informationen und Dokumenten zu gewähren“
In der Rechtssache C-298/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj, Rumänien) mit Entscheidung vom 2. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Mai 2016, in dem Verfahren
Teodor Ispas,
Anduţa Ispas
gegen
Direcţia Generală a Finanţelor Publice Cluj
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan (Berichterstatter), D. Sváby und M. Vilaras,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Mai 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Teodor Ispas und Anduţa Ispas, vertreten durch C. F. Costaş und L. Sabou, avocaţi,
‐ der rumänischen Regierung, vertreten durch R.-H. Radu, E. Gane, R. Mangu und C. M. Florescu als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und H. Stancu als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2017
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Teodor Ispas und seiner Ehefrau Anduţa Ispas (im Folgenden: Eheleute Ispas) einerseits und der Direcţia Generală a Finanţelor Publice Cluj (Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj, Rumänien) andererseits wegen eines Mehrwertsteuerbescheids.
Rumänisches Recht
Rz. 3
Die Ordonanta Guvernului nr. 92/2003 privind Codul de procedură fiscală (Regierungsverordnung Nr. 92/2003 über die Steuerverfahrensordnung, Monitorul Oficial al României, Teil I Nr. 863 vom 26. September 2005) in ihrer am 25. April 2012 geltenden Fassung (im Folgenden: Steuerverfahrensordnung) sieht in Art. 7 Abs. 2 vor:
,,DieSteuerbehörde ist berechtigt, von Amts wegen den Sachverhalt zu prüfen sowie alle Informationen und Dokumente einzuholen und zu verwerten, die für die korrekte Ermittlung der steuerlichen Situation des Steuerpflichtigen erforderlich sind.
…“
Rz. 4
Art. 9 („Recht auf Anhörung“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt:
„(1) Die Steuerbehörde ist verpflichtet, vor dem Erlass einer Entscheidung dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu geben, seinen Standpunkt zu den für den Erlass der Entscheidung relevanten Tatsachen und Umständen darzulegen.
(2) Die Steuerbehörde ist zur Anwendung von Abs. 1 nicht verpflichtet, wenn
a) eine Verzögerung des Erlasses der Entscheidung eine Gefahr für die Feststellung der tatsächlichen steuerlichen Situation bezüglich der Erfüllung von Pflichten des Steuerpflichtigen oder für den Erlass anderer gesetzlich vorgesehener Maßnahmen begründen würde;
b) der dargelegte Sachverhalt für die Höhe der Steuerforderungen lediglich zu unerheblichen Änderungen führen würde;
c) Informationen anerkannt werden, die der Steuerpflichtige in einer Erklärung oder einem Antrag vorbringt;
d) Zwangsvollstreckungsmaßnahmen getroffen werden.
…“
Rz. 5
Art. 43 („Inhalt und Begründung von Steuerverwaltungsakten“) der Steuerverfahrensordnung sieht vor:
„(1) Der Steuerverwaltungsakt ergeht schriftlich in Papier- oder elektronischer Form.
(2) Der in Papierform ergehende Steuerverwaltungsakt muss enthalten:
…
e) die tatsächlichen Gründe;
f) die Rechtsgrundlage;
…
i) eine Rechtsbehelfsbelehrung, die Angabe der Einspruchsfrist und die der Steuerbehörde...