Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer, Versagung der Zuteilung an eine Gesellschaft, Verweigerung der Registrierung als Unternehmer mit der Begründung mangelnder unternehmerischer Fähigkeiten
Leitsatz (amtlich)
Die Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, einer Gesellschaft die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer nur deshalb zu versagen, weil sie nach Ansicht dieser Verwaltung nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die angegebene wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, und der Inhaber der Anteile dieser Gesellschaft bereits mehrfach eine solche Nummer für Gesellschaften erhalten hat, die nie wirklich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben und deren Anteile kurz nach der Zuteilung dieser Nummer übertragen wurden, ohne dass die betreffende Steuerverwaltung anhand objektiver Anhaltspunkte dargelegt hat, dass ernsthafte Anzeichen für den Verdacht bestehen, dass die zugeteilte Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer in betrügerischer Weise verwendet werden wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu würdigen, ob die Steuerverwaltung ernsthafte Anzeichen für das Vorliegen eines Risikos der Steuerhinterziehung im Ausgangsverfahren vorgelegt hat.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 213-214, 273
Beteiligte
Verfahrensgang
Augstakas tiesas Senats (Lettland) (Urteil vom 12.10.2011; ABl. EU 2012, Nr. C 6/8) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 213, 214 und 273 - Identifizierung der Mehrwertsteuerpflichtigen ‐ Versagung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer mit der Begründung, dass der Steuerpflichtige nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die angegebene wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben ‐ Rechtmäßigkeit ‐ Bekämpfung von Steuerhinterziehung ‐ Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-527/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Senāts (Lettland) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2011, in dem Verfahren
Valsts ieņēmumu dienests
gegen
Ablessio SIA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Richters A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus (Berichterstatter), A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Valsts ieņēmumu dienests, vertreten durch T. Kravalis als Bevollmächtigten,
‐ der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und I. Ņesterova als Bevollmächtigte,
‐ der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Soulay und E. Kalniņš als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Valsts ieņēmumu dienests (lettische Finanzverwaltung, im Folgenden: VID) und der Ablessio SIA (im Folgenden: Ablessio) wegen der Weigerung des VID, Ablessio in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen einzutragen.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2006/112
Rz. 3
Die Begriffe „Steuerpflichtiger“ und „wirtschaftliche Tätigkeit“ werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 wie folgt definiert:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
Rz. 4
Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.
Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Anzeigen elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe der Anzeigen auch vorschreiben.“
Rz. 5
In Art. 214 der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:
a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Ge...