Entscheidungsstichwort (Thema)
Bemessungsgrundlage, Mindestbemessungsgrundlage, Umsätze zwischen verbundenen Personen, Umsätze zwischen zum Vorsteuerabzug berechtigten Personen, unmittelbares Berufungsrecht
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die darin aufgestellten Anwendungsvoraussetzungen erschöpfend sind und dass nationale Rechtsvorschriften somit nicht auf der Grundlage von Art. 80 Abs. 1 dieser Richtlinie vorsehen können, dass die Steuerbemessungsgrundlage in anderen als den in dieser Bestimmung aufgezählten Fällen der Normalwert des Umsatzes ist, insbesondere wenn der Steuerpflichtige zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt ist, was zu prüfen dem nationalen Gericht obliegt.
2. Unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren räumt Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 den betroffenen Gesellschaften das Recht ein, sich unmittelbar auf diese Vorschrift zu berufen, um sich der Anwendung nationaler Bestimmungen zu widersetzen, die mit ihr unvereinbar sind. Ist dem vorlegenden Gericht eine Auslegung des innerstaatlichen Rechts, die mit Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 im Einklang steht, nicht möglich, hat es alle Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts unangewendet zu lassen, die Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 zuwiderlaufen.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 80 Abs. 1
Beteiligte
Balkan and Sea Properties und Provadinvest |
Balkan and Sea Properties und Provadinvest |
Direktor na Direktsia Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto - Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite |
Verfahrensgang
Administrativen sad Varna (Bulgarien) (Urteil vom 17.12.2010; ABl. EU 2011, Nr. C 72/27) |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 73 und 80 Abs. 1 ‐ Veräußerung von Immobilien zwischen verbundenen Unternehmen ‐ Wert des Umsatzes ‐ Nationale Rechtsvorschriften, wonach bei Transaktionen zwischen verbundenen Personen der Normalwert des Vorgangs die Steuerbemessungsgrundlage für die Zwecke der Mehrwertsteuer bildet“
In den verbundenen Rechtssachen C-621/10 und C-129/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Varna (Bulgarien) mit Entscheidungen vom 17. Dezember 2010 und 1. März 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Dezember 2010 und 14. März 2011, in den Verfahren
Balkan and Sea Properties ADSITS (C-621/10),
Provadinvest OOD (C-129/11)
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ ‐ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova (C-621/10) als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Petrova und L. Lozano Palacios (C-621/10) sowie durch L. Lozano Palacios und V. Savov (C-129/11) als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Januar 2012
folgendes
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Balkan and Sea Properties ADSITS (im Folgenden: Balkan and Sea Properties) und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ ‐ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Verwaltung des Vollzugs“ Varna bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, im Folgenden: Direktor) sowie zwischen der Provadinvest OOD (im Folgenden: Provadinvest) und dem Direktor wegen Steuerprüfungsbescheiden, mit denen ihnen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Aus dem dritten Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie geht hervor, dass „[im] Einklang mit dem Grundsatz besserer Rechtsetzung … zur Gewährleistung der Klarheit und Wirtschaftlichkeit der Bestimmungen die Struktur und der Wortlaut der Richtlinie [77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1)], neu gefasst werden [sollten]; dies sollte jedoch grundsätzlich nicht zu inhaltlichen Änderungen des geltenden Rechts führen …“
Rz. 4
Nach dem 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten, „[u]m zu gewährleisten, dass die Einschaltung verbundener Personen ...