Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlass der Rückforderung von Kindergeld: Anrechnung auf gewährte Sozialleistungen – Schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht – Beendigung der Erwerbstätigkeit einer nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländerin
Leitsatz (redaktionell)
- Die Rückforderung von Kindergeld, auf das eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin nach Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit keinen Anspruch mehr hatte, das aber gleichwohl auf die dem Berechtigten gewährten Sozialleistungen angerechnet worden ist, ist aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn der Überzahlung keine schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht in Gestalt der unterbliebenen Information der Familienkasse über den Wegfall der Arbeitsstelle zugrunde liegt.
- Dies ist der Fall, wenn der Erstattungsschuldnerin nach ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht bewusst sein konnte, dass der Anspruch auf Kindergeld von ihrer Erwerbstätigkeit abhängig war, und sie weder durch die den Kindergeldantrag initiierende anrechnungsberechtigte Sozialbehörde noch durch die Familienkasse auf ihre diesbezügliche Mitteilungspflicht hingewiesen worden war.
- Soweit ein Erlass der Hauptschuld aus Billigkeitsgründen bereits bei deren Fälligkeit geboten gewesen wäre, ist unter Folgenbeseitigungsgesichtspunkten der vollständige Erlass der darauf entfallenden Säumniszuschläge in Betracht zu ziehen.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 2 Nr. 3; AO §§ 5, 227, 240; FGO §§ 101-102
Tatbestand
Die Klägerin, eine kosovarische Staatsangehörige, lebt mit ihrem Ehemann und drei Kindern (geboren 1991, 1992 und 1995) seit 1998 in Deutschland. Sie verfügt über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (verlängert im Juli 2014; gültig bis April 2022). Die Familie bezog in 2012 zeitweise Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und zeitweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die damals zuständige Familienkasse A-Stadt (im folgenden: A) hatte zunächst zu Gunsten der Klägerin für die 3 Kinder Kindergeld festgesetzt, im Hinblick darauf, dass die Klägerin eine Erwerbstätigkeit (auf 400 € - Basis) ausübte und damit die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erfüllte. Der Kindergeldantrag war damals insbesondere auf Initiative der B-Stadt (im folgenden: B) gestellt worden, die bei der Familienkasse einen Erstattungsanspruch geltend gemacht hatte [vgl. Bl. 198, 229, 266, 273, 291 der Kg-Akte in der jetzigen Nummerierung].
Anlässlich einer Überprüfung des Kindergeldanspruchs bat die Familienkasse A wiederholt um den Nachweis der Beschäftigung. Schließlich teilte die Klägerin ohne weitere Erläuterung mit (Schreiben vom 12.11.2012): „Es wird keine Erwerbstätigkeit ausgeübt und es liegt auch keine Selbständigkeit vor (nur Hausfrau)“. Daraufhin hob die Familienkasse A die Kindergeldfestsetzung für die 3 Kinder rückwirkend ab Januar 2010 auf und forderte seitdem bis Juli 2012 gezahltes Kindergeld von der Klägerin zurück (Bescheid vom 29.11.2012).
Im Einspruchsverfahren erfuhr die Familienkasse A schließlich durch Rückfrage bei der Arbeitgeberin, dass die Klägerin dort bis Juli 2010 beschäftigt gewesen war. Seitdem waren (nach eigenem Bekunden) weder die Klägerin noch ihr Ehemann erwerbstätig. Die Klägerin äußerte, ihr sei der Zusammenhang zwischen Kindergeldbezug und eigener Erwerbstätigkeit nicht bekannt gewesen, was die Familienkasse als glaubhaft [vgl. früher Bl. 58, nunmehr Bl. 75 der Kg-Akte - die elektronische Kg-Akte ist zum jetzigen Verfahren ungeordnet übermittelt worden], aber hinsichtlich der Rückforderung als unerheblich erachtete. Die Familienkasse A änderte den Rückforderungsbescheid insoweit ab, als sich die Aufhebung auf die Monate ab August 2010 beschränkte und die Rückforderung auf gewährtes Kindergeld für August 2010 bis Juli 2012 in Höhe von 13.392 € (Änderungsbescheid vom 29.01.2013). Den aufrechterhaltenen Einspruch wies die Beklagte (im folgenden: Familienkasse) als Rechtsnachfolgerin der Familienkasse A zurück (bestandskräftige Einspruchsentscheidung vom 15.09.2016).
Bereits im Februar 2013 hatte die Klägerin einen ersten Stundungsantrag gestellt, worauf ihr die Familienkasse Inkasso-Service schließlich mit Bescheid vom 11.04.2014 ratenfreie Stundung bis 30.04.2015 gewährte. Auf anschließende weitere Stundungsanträge (vom 20.05.2015, vom 10.08.2015, anwaltlich vom 10.09.2015, anwaltlich vom 16.03.2016) reagierte die Familienkasse Inkasso-Service nicht. Auf ein Protestschreiben der Tochter der Klägerin vom 15.08.2016 antwortete die Familienkasse sinngemäß [Bl. 290 der Kg-Akte], alle Vorgänge seien bestandskräftig abgeschlossen, für die Behörde sei nichts zu veranlassen.
Ende Januar 2017 beantragte die Klägerin den Erlass der Rückforderung aus Billigkeitsgründen; sie trug vor, sie habe nicht nachvollziehen können, dass und warum ihr Kindergeld nicht zugestanden habe; außerdem könne sie die Rückforderung beim besten Willen nicht entrichten. Es werde auch um P...