Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Umdeutung von Einkommensteuerbescheiden in Lohnsteuernachforderungsbescheide. Auswahlermessen. Zuständigkeit. Einkommensteuer 1995 bis 1998
Leitsatz (redaktionell)
1. Für nicht einbehaltene und nicht abgeführte Lohnsteuer besteht Gesamtschuldnerschaft zwischen dem Arbeitnehmer als Steuerschuldner und dem Arbeitgeber als Haftungsschuldner. Das Betriebsstättenfinanzamt kann die Steuerschuld oder Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen. Das Auswahlermessen ist auch dann zu beachten, wenn die Fesetsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner bereits abgelaufen ist.
2. Da § 128 AO keine Umdeutung einer gesetzlich gebundenen Entscheidung in eine Ermessensentscheidung gestattet, kann ein Einkommensteuerbescheid nicht in einen Lohnsteuernachforderungsbescheid umgedeutet werden. Ferner erfordert § 128 AO die örtliche und sachliche Zuständigkeit für den Erlass desjenigen Verwaltungsakts, in den umgedeutet werden soll.
Normenkette
AO 1977 § 128 Abs. 1, 3, § 5; EStG 1990 § 38 Abs. 2 S. 1, § 42d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3; EStG 1997 § 38 Abs. 2 S. 1, § 42d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3
Tenor
I. Die Einkommensteuerbescheide 1996–1998 vom 16. August 2001 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 23. November 2001 und der Einspruchsentscheidung vom 04. Juni 2002 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 1/5 und der Beklagte zu 4/5.
III. Die Revision wird für die Streitjahre 1996–1998 zugelassen.
IV. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in der gleichen Höhe leistet.
Tatbestand
I.
Der ledige Kläger war in den Streitjahren 1995 bis 1998 bei der … G. betriebsgesellschaft mbH als Arbeitnehmer beschäftigt. Er war steuerlich nicht erfaßt. Anlässlich einer Steuerfahndungsprüfung bei der Arbeitgeberin wurde festgestellt, dass die Lohnsteuer nicht nach dem tatsächlich angefallenen Lohn einbehalten und abgeführt wurde. Nach der für 1996 bis April 1999 aufgefundenen „schwarzen Buchführung” wurde der Umsatz pro Schicht zwischen dem Kläger und der Arbeitgeberin in unterschiedlicher Höhe aufgeteilt. Hieraus ergaben sich erheblich höhere Bezüge, als diejenigen, die den Lohnabrechnungen zugrunde gelegt wurden, die auch Grundlage der Abführung von Lohnsteuer und Sozialabgaben darstellten. Für das Streitjahr 1996 ergaben sich Einnahmen des Klägers von 30.681,26 DM, für das Streitjahr 1997 von 29.588,40 DM, für das Streitjahr 1998 von 26.048,57 DM und von Januar bis April des Streitjahres 1999 von 8.601,05 DM. Für das Streitjahr 1995 ermittelte die Steuerfahndung Bruttobezüge des Klägers i.H.v. 20.713,57 DM, indem es die Bezüge lt. Lohnsteuerkarte (12.256,55 DM) um den durchschnittlichen Prozentsatz (69 v.H.) erhöhte, der sich aus dem Unterschied zwischen dem vorgegebenen Bruttolohn und den tatsächlich festgestellten Bezügen in der Zeit von 1996 bis April 1999 ergab. Nach den vorliegenden Gehaltsabrechnungen für Dezember 1995–1998 wurde nur im Streitjahr 1998 Lohnsteuer einbehalten und abgeführt (3,33 DM).
Auf Aufforderung des beklagten Finanzamts … gab der Kläger Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre ab (Eingang 21. Juni 2001 „Frühleerung”). Er bezifferte die Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit auf jeweils 30.000 DM. Das Finanzamt legte die Einkommensteuererklärungen den Einkommensteuerbescheiden vom 16. August 2001 für die Streitjahre zugrunde. Lediglich im Streitjahr 1996 setzte es als Einnahmen den im Aktenvermerk der Steuerfahndung vom 18. April 2001 aufgeführten Betrag der Einnahmen i.H.v. 30.681 DM an. Im Einspruchsverfahren gegen diese Bescheide machte der Kläger geltend, dass er durchschnittlich lediglich 22.000 DM jährlich verdient habe. Er sei durch unzutreffende Behauptungen des Finanzamts veranlaßt worden, 30.000 DM als Einnahmen anzugeben. Mit Bescheiden vom 23. November 2001 änderte das Finanzamt die Einkommensteuerveranlagungen der Jahre 1995 sowie 1997 bis 1998 und setzte die Einnahmen nur in Höhe der Feststellungen der Steuerfahndung an. Ferner berücksichtigte das Finanzamt in allen Streitjahren die Vorsorgepauschale. Die Einsprüche vom 10. September 2001 wurden mit Einspruchsentscheidung vom 04. Juni 2002 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Klage. Zur Begründung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, dass er zu Unrecht in Anspruch genommen werde. Wenn ein Unternehmer die Abgaben nicht ordnungsgemäß abführe, so sei dieser dran und nicht der Arbeitnehmer. Er habe monatlich mehr als 300 DM an Abgaben gezahlt, was auf einen Bruttoverdienst von 2.000 DM monatlich hinweise. Von der Arbeitgeberin sei jedoch nur ein Verdienst von 1.350 DM angegeben worden. Die Differenz bei den Abgaben habe der Geschäftsführer der Arbeitgeberin in die eigene Tasche gesteckt. Er habe sich...