Prof. Dr. Gerrit Frotscher, Prof. Dr. Christoph Watrin
Rz. 47
Nach § 5 Abs. 1 S. 1 EStG ist nach dem Maßgeblichkeitsgrundsatz für den Schluss des Wirtschaftsjahrs das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung auszuweisen ist. Dadurch wird die Steuerbilanz an die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (und Bilanzierung) gebunden. Die Bindung ist insoweit eine "materielle Bindung" (materielle Maßgeblichkeit) an die handelsrechtlichen Vorschriften, nicht an die tatsächlich aufgestellte Handelsbilanz. An eine unrichtige Handelsbilanz besteht daher keine Bindung. Andererseits bedeutet das Verständnis der Maßgeblichkeit als "materielle Maßgeblichkeit", dass dieser Grundsatz auch gilt, wenn keine Handelsbilanz aufgestellt worden ist oder die Handelsbilanz nichtig ist. Die Bindung der Steuerbilanz an die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ist also nicht davon abhängig, ob eine wirksame Handelsbilanz aufgestellt wird.
Rz. 47a
Die Bindung gilt auch für die einzelnen Bilanzpositionen, nicht nur für die Bilanz als Ganzes. Abweichungen bei einer Position dürfen also nicht durch gegenläufige Abweichungen bei anderen Positionen korrigiert werden.
Rz. 47b
Nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG besteht die Bindung an die "Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung" (Rz. 25ff.). Es ist diskutiert worden, ob damit die Bindung an die zwingenden handelsrechtlichen Vorschriften gemeint ist oder nur an solche Vorschriften, die gleichzeitig Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung sind, also z. B. nicht die Bilanzierungswahlrechte. Auf der Grundlage der hier vertretenen Auffassung (Rz. 25), dass der Inhalt der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (auch) durch die zwingenden gesetzlichen Regelungen gebildet wird, ergibt sich kein Unterschied zwischen den Auffassungen. Von der Maßgeblichkeit erfasst werden dann alle zwingenden gesetzlichen Buchführungs- und Bilanzierungsvorschriften sowie weitere ungeschriebene Grundsätze. Im Ergebnis bedeutet dies, dass auch rechtsformspezifische Vorschriften (z. B. Gliederungsvorschriften) Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung bilden, aber eben nur für diese Rechtsform. Maßgebend für diese Auffassung ist letztlich, dass eine Bilanzierung wohl kaum als handelsrechtlich ordnungsgemäß bezeichnet werden kann, wenn sie gegen zwingende handelsrechtliche Vorschriften verstößt, andererseits nicht ordnungswidrig sein kann, wenn sie sich in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften befindet. Im Übrigen ist die praktische Bedeutung der beiden genannten Auffassungen gering. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf die Frage, ob die Maßgeblichkeit für Wahlrechte für die Verpflichtung zur Rückstellung für unterlassene Instandhaltung und Abraumbeseitigung nach § 249 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 HGB gilt. M. E. ist dies zu bejahen, weil eine Bilanz, die gegen eine zwingende handelsrechtliche Verpflichtung zur Rückstellungsbildung verstößt, nicht ordnungsgemäß ist.
Rz. 48
Ergänzend bestimmt § 6 Abs. 1 S. 1 EStG, dass für die Bewertung der nach § 5 EStG anzusetzenden Wirtschaftsgüter die Vorschriften des § 6 EStG gelten. Entsprechendes bestimmt § 7 EStG für die Abschreibungen. Hieraus folgt für die Bestimmung des Inhalts des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, dass die Bindung an die Handelsbilanz in erster Linie für den Bereich des § 5 EStG gilt, also für die Frage, welche Wirtschaftsgüter in der Bilanz anzusetzen sind. Für die darauf aufbauende Frage, mit welchem Wert diese Wirtschaftsgüter anzusetzen sind, sind die §§ 6, 7 EStG vorrangig. Handelsrechtliche Bewertungsvorschriften sind insoweit nur anwendbar, als keine entgegenstehenden steuerlichen Vorschriften vorhanden sind.
Die Durchbrechung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes hinsichtlich der Bewertung ergibt sich weiterhin aus § 5 Abs. 6 EStG, da dort unter anderem die Befolgung der steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften angeordnet wird. Eigenständige steuerliche Vorschriften gehen also dem allgemeinen Maßgeblichkeitsgrundsatz in der Bewertung in Form einer lex specialis vor. Inwieweit dies auch auf Rückstellungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG) anwendbar ist, ist Gegenstand einer umfassenden Diskussion in der Literatur. In Bezug auf die damalige Gesetzesbegründung zu § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG vertritt die Rspr. die Auffassung, dass in den (seltenen) Fällen, in denen ein Ansatz einer Rückstellung aufgrund steuerlicher Vorschriften höher ausfallen würde als der handelsbilanzielle Ansatz, letzterer eine Obergrenze darstellt (gilt nicht für Pensionsrückstellungen). Hier hebt also der allg, Maßgeblichkeitsgrundsatz die lex specialis entgegen der üblichen Vorgehensweise wieder auf. Die Finanzverwaltung vertritt diese Auffassung ebenfalls in R 6.11 Abs. 3 EStR 2012. Diese Beurteilung ist m. E. nicht sachgerecht, da die Formulierung des Einleitungssatzes des § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG diese Beschränkung entgegen der Auffassung der Rspr. und der Finanzverwaltung im Grunde nicht hergibt. Der Einleitungssatz stellt ke...