Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 658
Besonderheiten ergeben sich bei der Behandlung des Tatbestandsirrtums aus dem Umstand, dass § 370 AO durch das Merkmal "steuerlich erhebliche Tatsachen" sowie die Begriffe der "Steuerverkürzung" und des "Steuervorteils" auf die Regeln des Steuerrechts (nicht nur: der formellen Steuergesetze) verweist (s. Rz. 27 f.). Nach der Rspr. und auch nach der in der Lit. ganz überwiegenden Auffassung wird zu Recht ein vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum angenommen, wenn der Täter aufgrund einer Fehlvorstellung über die Steuerrechtslage davon ausgeht, die von ihm gemachten oder verschwiegenen Angaben seien steuerlich unerheblich bzw. würden keinen Hinterziehungserfolg herbeiführen. Die Annahme, nicht steuerpflichtig zu sein, schließt den Tatbestandsvorsatz aus. Die genannten Tatbestandsmerkmale werden damit als normative Tatbestandsmerkmale behandelt, und zwar selbst dann, wenn ansonsten der Blankettcharakter des § 370 AO betont wird (s. dazu Rz. 20 ff., 25 ff.; zur Gegenauffassung Rz. 27 f.).
Rz. 659
Zur Bejahung vorsätzlichen Unrechts, d.h. zur Bejahung einer bewussten Entscheidung gegen das geschützte Rechtsgut, genügt die bloße Kenntnis der Tatsachen nicht, die objektiv steuerrechtlich von Bedeutung sind. Der Täter muss vielmehr auch den unter das normative Tatbestandsmerkmal zu subsumierenden Sachverhalt in seinem für die Unrechtsbegründung wesentlichen Bedeutungsgehalt erfasst haben. Derjenige, der in einer Gaststätte Striche von einem Bierdeckel entfernt, begeht keine vorsätzliche Urkundenfälschung, wenn er die Bedeutung der Striche auf dem Bierdeckel nicht kennt (s. Rz. 620). Genauso wenig begeht derjenige eine vorsätzliche Steuerhinterziehung, der nicht weiß, dass durch sein Handeln das Steueraufkommen des Staates betroffen ist. Dass er das hätte erkennen können oder müssen, begründet nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf.
Rz. 660
Die Notwendigkeit, dass der Täter die Steuerrechtslage erfasst (s. Rz. 658), folgt schon daraus, dass sich der Vorsatz nach allgemeiner Meinung. auf sämtliche Tatumstände erstrecken muss. Dann aber muss der Täter es zumindest für möglich halten, dass die von ihm gemachten oder verschwiegenen Angaben steuererheblich sind. Ohne Vorstellungen von der Steuerrechtslage ist eine solche Kenntnis aber unmöglich. Der Vorsatz muss zudem auf den Verkürzungserfolg bezogen sein. Nach der Definition des § 370 Abs. 4 Satz 1 AO liegt dieser Erfolg u.a. dann vor, wenn Steuern nicht in voller Höhe festgesetzt werden. Bezieht man den Vorsatz auf diesen Erfolg, muss der Täter wissen oder es zumindest für möglich halten, dass durch seine Tathandlung eine zu niedrige Steuerfestsetzung hervorgerufen wird. Auch das ist ohne Kenntnisse der Steuerrechtslage nicht denkbar. Geht der Stpfl. also fälschlich davon aus, dass sein Verhalten steuerrechtlich ohne Belang sei, fehlt ihm die Kenntnis eines Tatumstands i.S.d. § 16 StGB. Falsch ist es deshalb, wenn das AG Köln davon ausgeht, dass es zur Bejahung des Vorsatzes ausreicht, dass der Angeklagte die vom Gericht gezogene Wertung auch als steuerrechtlicher Laie im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre nachzuvollziehen konnte und dass es eine Frage des Unrechtsbewusstseins als Teil der Schuld sei, wenn "er hieraus für sich nicht die rechtlich zutreffende Einschätzung ableitete". Zum Versuch beim umgekehrten Irrtum s. Rz. 684 ff.
Rz. 661
Der Täter muss den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennen bzw. wenigstens für möglich halten (s. aber auch Rz. 662), nicht jedoch die genaue Abgabenart und die steuerliche Anspruchsnorm. Das bedeutet nicht, dass der Täter den Steuerschaden genau beziffern können muss. "Erkennen können" reicht aber nicht aus.
"Zum Vorsatz der Steuerhinterziehung gehört, dass der Täter den angegriffenen Steueranspruch kennt und dass er ihn trotz dieser Kenntnis gegenüber der Steuerbehörde verkürzen will. Nimmt der Angeklagte an, dass die steuerliche Behandlung der Angelegenheit korrekt gewesen sei, liegt ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum vor."
Rz. 662
Der 1. Strafsenat des BGH deutete allerdings an, dass eine Abkehr von der soeben dargestellten, als "Steueranspruchstheorie" bezeichneten Aufassung erwogen wurde:
„1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehört zum Vorsatz der Steuerhinterziehung, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennt oder zumindest für möglich hält und ihn auch verkürzen will [...]
2. Hat der Steuerpflichtige irrtümlich angenommen, dass ein Steueranspruch nicht entstanden ist, liegt nach dieser Rechtsprechung ein Tatumstandsirrtum vor, der den Vorsatz ausschließt (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB).
3. Ob dies auch dann gilt, wenn der Irrtum über das Bestehen eines Steueranspruchs allein auf einer Fehlvorstellung über die Reichweite steuerlicher Normen – hier etwa des § 3c UStG über den Ort der Lieferung in besonderen Fällen – beruht, oder ob dann ...