Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 112
Besonders umstritten ist die Anerkennung der mittelbaren Täterschaft bei Taten, die im Rahmen organisatorischer Machtapparate begangen werden (mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft). Die Rspr. hat diese Rechtsfigur zunächst zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitgliedern des nationalen Verteidigungsrats der DDR für Tötungen von Flüchtlingen durch strafrechtlich verantwortliche Soldaten an der ehemaligen innerdeutschen Grenze für die Fälle anerkannt, in denen
"trotz uneingeschränkt verantwortlichen Handelns des Tatmittlers der Beitrag des Hintermannes fast automatisch zu der von diesem [...] erstrebten Tatbestandsverwirklichung führt". Das könne vorliegen "wenn der Hintermann durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst".
Ohne weitere Begründung wurde diese Auffassung dann auf unternehmerische und geschäftsähnliche Organisationsstrukturen übertragen.
"Auch das Problem der Verantwortlichkeit beim Betrieb wirtschaftlicher Unternehmen lässt sich so lösen".
Zuvor war allerdings schon in früheren Entscheidungen – ohne nähere Begründung – das Verhalten von Arbeitnehmern den Leitungspersonen eines Unternehmens zugerechnet worden. Im Ergebnis entspricht das der Auffassung des Reichsgerichts im Steuerstrafrecht:
"Wird bei einer solchen Sachlage (Übertragung der Steuerangelegenheiten auf einen in Steuersachen geschulten Angestellten) durch schuldhaftes oder schuldloses Verhalten des Angestellten eine Steuerverkürzung bewirkt, so kann der Betriebsinhaber nur dann wegen Steuerhinterziehung oder Steuergefährdung bestraft werden, wenn die Prüfung des Einzelfalls ergibt, dass die Bewirkung der Verkürzung mit seinem Wissen und Willen begangen worden ist [...]".
Speziell für das Wirtschaftsstrafrecht (§ 263 StGB) formuliert der BGH:
"[Organisationsherrschaft] liegt vor, wenn die Tat durch einen Hintermann gelenkt wird. Dieser Hintermann besitzt Tatherrschaft, wenn er mit den durch die Organisationsbedingungen geschaffenen Rahmenbedingungen das deliktische Geschehen maßgeblich beeinflussen kann [...] Dabei ist es unerheblich, ob der Tatmittler seinerseits dolos handelt oder gutgläubig ist. Hier vermittelte sich die Leitungsmacht der Angeklagten durch die vom Angeklagten N durchgeführten Schulungen. Durch Schulungen gab er nicht nur die Rahmendaten der abzuschließenden Verträge vor, sondern er prägte auch das Verkaufsverhalten und die Art und Weise des Umgangs mit den Kunden".
Rz. 112.1
Beispiel
Nach Auffassung des BGH lässt sich also in den Fällen, in denen keine unmittelbare Täterschaft vorliegt, sondern andere Personen in einem Unternehmen in die Begehung der Tat eingeschaltet sind, eine Verantwortung als mittelbarer Täter begründen. Liegt aber ohnehin eine Erklärung des Weisungsgebers vor, bedarf es nach der hier vertretenen Auffassung der mittelbaren Täterschaft nicht (s. Rz. 107.6 f.).
Rz. 112.2
Diese Ausweitung der täterschaftlichen Verantwortung wird in der Literatur kritisch gesehen. Besonders problematisch ist es, wenn man verlangt, dass der Hintermann den Vordermann so in die Organisationsstruktur einbindet, dass der Vordermann als "austauschbares Rädchen im Getriebe" erscheint, so dass der Hintermann das Geschehen nach Belieben bzw. bedingungslos lenken kann und der Vordermann quasi beliebig austauschbar ist. Denn eine solche Beherrschung des Geschehens kann nie vorliegen: Dem Untergebenen bleibt immer die Möglichkeit, das aufgetragene Verhalten abzulehnen. Sicherlich ist denkbar, dass der Hintermann eine andere Person erfolgreich damit beauftragen kann oder selbst handelt. Dieses hypothetisch angenommene Geschehen wäre aber eine (gedachte) andere Tat; zu begründen ist aber die Herrschaft über diese Tat. Genauso irrelevant ist es nämlich, wenn eine andere Person das Opfer erschossen hätte, wenn das nicht schon der Täter getan hätte. Es geht nicht darum, dass der Erfolg auch auf andere Weise hätte herbeigeführt werden können, sondern darum, wer ihn real herbeigeführt hat.
Rz. 112.3
Überdies könnte jede andere, hypothetisch gedachte Person, die den Sachverhalt durchschaut, dem Vorgesetzten ebenfalls die Gefolgschaft verweigern. Es ist also nicht richtig, dass ein dolos und verantwortlich handelnder Mensch als "Rädchen im Getriebe" angesehen werden könnte. Eine Weisung, strafrechtlich relevantes Verhalten auszuführen, kann nicht wirksam gegeben werden. Es gibt also gar keinen Apparat, der "als solches den Vollzug gewährleistet", weil der Apparat immer aus Menschen besteht, die die Ausführung verweigern können.
Rz. 112.4
Gleiches gilt im Verhältnis einer faktischen Organperson zum Strohmann (s. Rz. 109 ff.): Weigert sich der Strohmann als formell bestellter Geschäftsführer, die steuerlich notwendigen Angaben für die GmbH in rechtsverbindlicher Form zu machen, kann der Hintermann das allein wegen seiner faktischen Stellung gerad...