Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 413
Eine Steuerverkürzung liegt auch vor, wenn infolge des Verhaltens des Täters eine Festsetzung der Steuer ganz unterbleibt oder nicht rechtzeitig erfolgt, weil die Steuerbehörde infolge der Nichtabgabe einer Steuererklärung (s. Rz. 316) von der Existenz des Steueranspruchs keine Kenntnis hat. Die h.M. bestimmt den Zeitpunkt des Eintritts der Steuerverkürzung in diesen Fällen nach dem hypothetischen Verlauf, den das Besteuerungsverfahren voraussichtlich ohne das steuerwidrige Verhalten genommen hätte. Die Steuern des Stpfl. wären bei pflichtgemäßen Angaben dann festgesetzt worden, wenn auch ansonsten die anderen Veranlagungen abgeschlossen sind. Zugunsten des Stpfl. ist dabei davon auszugehen, dass seine Steuerangelegenheit als letzte bearbeitet worden wäre, so dass eine vollendete Verkürzung erst mit dem tatsächlichen Abschluss der allgemeinen Veranlagungsarbeiten für den maßgeblichen Besteuerungszeitraum eingetreten ist. Entscheidend ist der faktische Abschluss der Veranlagungen, nicht eine entsprechende Verfügung der FinB. Bis zu diesem Zeitpunkt liegt nur der Versuch einer Steuerhinterziehung vor.
Der BGH führt zutreffend aus:
"Doch liegt eine vollendete Verkürzung einer Veranlagungssteuer in der verspäteten Abgabe der Steuererklärung nur dann, wenn die verspätete Abgabe die verspätete Festsetzung der Steuer verursacht. Daher tritt die Vollendung der Steuerhinterziehung – ebenso wie bei der Nichtabgabe einer Steuererklärung – dann ein, wenn die Festsetzung erfolgt, nachdem die Veranlagungsarbeiten in dem betreffenden Bezirk für den maßgeblichen Zeitraum allgemein abgeschlossen sind. Erst dann ist die rechtzeitige Festsetzung der Steuer vereitelt. Bis zu diesem Zeitpunkt liegt nur versuchte Steuerhinterziehung vor (BGH v. 20.5.1981 – 2 StR 666/80, BGHSt 30, 122, 123; BGH v. 1.2.1989 – 3 StR 450/88, BGHSt 36, 105, 111; BGH, Beschl. v. 17.7.1979 – 5 StR 410/79; BGH, Urt. v. 11.12.1990 – 5 StR 519/90; Kohlmann, Steuerstrafrecht, 5. Aufl., § 370 AO Rz. 139.1 und 261 m.w.N.)."
Zweifelhaft ist dabei, ab welcher Erledigungsquote davon ausgegangen werden kann, dass die Veranlagungsarbeiten "im Allgemeinen" abgeschlossen sind. Diskutiert werden Quoten von 90 bzw. 95 % (s. auch Rz. 415). Der 1. Strafsenat zieht aber in Erwägung, zumindest bei einfach gelagerten Sachverhalten, bei denen keine Besonderheiten festgestellt sind, die Abweichungen rechtfertigen könnten, von einer Zeitspanne der Bearbeitung fristgerecht eingereichter Steuererklärungen von längstens einem Jahr auszugehen. Das Tatgericht sei nicht gehalten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen es an zureichenden Anhaltspunkten fehle. Deshalb sei es von Rechts wegen nicht geboten, Tatvollendung stets erst dann anzunehmen, wenn das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten in dem betreffenden Bezirk für den maßgeblichen Zeitraum allgemein abgeschlossen habe und nicht mehr mit einer Veranlagung zu rechnen sei. Für den konkreten Fall konnte aber ausgeschlossen werden, dass die Veranlagungsarbeiten für die Jahre 2002 und 2003 zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ermittlungen Ende Oktober 2006 noch nicht abgeschlossen waren. Bei der Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer durch Unterlassen geht die Rspr. davon aus, dass Vollendung vier Monate nach Anfall der Schenkung oder Erbschaft eintritt (vgl. §§ 30, 31 ErbStG).
Rz. 414
Gibt der Stpfl. keine Steuererklärung ab, hat die Steuerbehörde bei einem ihr bekannten Stpfl. nach § 162 AO die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen (s. dazu Rz. 480 ff.). Sofern aufgrund der Schätzung vor Abschluss der allgemeinen Veranlagungsarbeiten oder vor Ablauf des gesetzlichen Fälligkeitstermins eine Steuerfestsetzung erfolgt, liegt eine vollendete Verkürzung nur vor, wenn der aufgrund der Schätzung festgesetzte Betrag niedriger ist als der tatsächlich geschuldete. Verkürzt ist dann der Differenzbetrag zwischen gesetzlich geschuldeter und geschätzter Steuer; daneben liegt bei entsprechendem Vorsatz des Täters ein tateinheitlich (§ 52 StGB) begangener Versuch bzgl. der schätzungsweise festgesetzten Steuer vor. Wird die Steuer aufgrund der Schätzung höher festgesetzt als tatsächlich geschuldet, so liegt bei Vorsatz versuchte Steuerverkürzung vor, da entgegen der Vorstellung des Täters durch die überhöhte Schätzungsveranlagung der erstrebte Verkürzungserfolg nicht eingetreten ist. Rechnete der Stpfl. dagegen mit einer zutreffenden Schätzung, kann der Vorsatz entfallen.
Rz. 415
Hat die FinB selbst zu verantworten, dass eine ihr mögliche Schätzung zunächst unterblieb und erst nach dem Abschluss der sonstigen Veranlagungsarbeiten erfolgt, ist die Tat bis zum Erlass des Schätzungsbescheids noch nicht vollendet. Der Abschluss der Veranlagungsarbeiten (s. Rz. 413) tritt erst dann ein, wenn bei bekannten Stpfl. auch die Schätzungsbescheide ergangen sind. Demgegenüber geht der BGH wohl davon aus, dass eine Steuerhinterziehung auch in diese...