Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 656
Wer bei der Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Es reicht, dass das Wissenselement des Vorsatzes im Hinblick auf nur einen Tatumstand fehlt. Bei leichtfertiger Unkenntnis greift der Bußgeldtatbestand des § 378 AO. Für die Merkmale der Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 AO gilt § 16 StGB entsprechend; auch sie müssen vom Vorsatz umfasst sein (s. Rz. 123, 1090).
1. Irrtum über tatsächliche Umstände
Rz. 657
Irrtümer über tatsächliche Umstände fallen unproblematisch unter § 16 Abs. 1 StGB.
Beispiel
(s. auch Rz. 614): Der Stpfl. gibt in seiner Einkommensteuererklärung seine Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit 50.000 EUR zutreffend an. Versehentlich hat er aber eine Bareinnahme von 5.000 EUR in seiner Buchhaltung nicht erfasst und dies im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung völlig vergessen. Der Stpfl. erkennt nicht, dass er unrichtige Angaben über seine Einkünfte macht und einen Verkürzungserfolg bewirkt. Er handelt deshalb ohne Vorsatz.
Das gilt auch dann, wenn sich die Tat auf andere, nicht gleichwertige Gegenstände bezieht als der Täter meint. So liegt etwa ein relevanter Tatbestandsirrtum vor, wenn der Täter Alkohol schmuggeln will, aufgrund eines Austausches seines Gepäckstücks aber tatsächlich Zigaretten einführt. Beim Irrtum über tatsächliche Umstände ist der Täter aber wegen Versuchs strafbar, im Beispiel also nach § 370 Abs. 2 AO, §§ 22, 23 StGB in Bezug auf den Alkohol. S. dazu Rz. 683. Hinsichtlich der eingeführten Zigaretten liegt bei Leichtfertigkeit § 378 AO vor.
2. Irrtum über normative Umstände
Rz. 658
Besonderheiten ergeben sich bei der Behandlung des Tatbestandsirrtums aus dem Umstand, dass § 370 AO durch das Merkmal "steuerlich erhebliche Tatsachen" sowie die Begriffe der "Steuerverkürzung" und des "Steuervorteils" auf die Regeln des Steuerrechts (nicht nur: der formellen Steuergesetze) verweist (s. Rz. 27 f.). Nach der Rspr. und auch nach der in der Lit. ganz überwiegenden Auffassung wird zu Recht ein vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum angenommen, wenn der Täter aufgrund einer Fehlvorstellung über die Steuerrechtslage davon ausgeht, die von ihm gemachten oder verschwiegenen Angaben seien steuerlich unerheblich bzw. würden keinen Hinterziehungserfolg herbeiführen. Die Annahme, nicht steuerpflichtig zu sein, schließt den Tatbestandsvorsatz aus. Die genannten Tatbestandsmerkmale werden damit als normative Tatbestandsmerkmale behandelt, und zwar selbst dann, wenn ansonsten der Blankettcharakter des § 370 AO betont wird (s. dazu Rz. 20 ff., 25 ff.; zur Gegenauffassung Rz. 27 f.).
Rz. 659
Zur Bejahung vorsätzlichen Unrechts, d.h. zur Bejahung einer bewussten Entscheidung gegen das geschützte Rechtsgut, genügt die bloße Kenntnis der Tatsachen nicht, die objektiv steuerrechtlich von Bedeutung sind. Der Täter muss vielmehr auch den unter das normative Tatbestandsmerkmal zu subsumierenden Sachverhalt in seinem für die Unrechtsbegründung wesentlichen Bedeutungsgehalt erfasst haben. Derjenige, der in einer Gaststätte Striche von einem Bierdeckel entfernt, begeht keine vorsätzliche Urkundenfälschung, wenn er die Bedeutung der Striche auf dem Bierdeckel nicht kennt (s. Rz. 620). Genauso wenig begeht derjenige eine vorsätzliche Steuerhinterziehung, der nicht weiß, dass durch sein Handeln das Steueraufkommen des Staates betroffen ist. Dass er das hätte erkennen können oder müssen, begründet nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf.
Rz. 660
Die Notwendigkeit, dass der Täter die Steuerrechtslage erfasst (s. Rz. 658), folgt schon daraus, dass sich der Vorsatz nach allgemeiner Meinung. auf sämtliche Tatumstände erstrecken muss. Dann aber muss der Täter es zumindest für möglich halten, dass die von ihm gemachten oder verschwiegenen Angaben steuererheblich sind. Ohne Vorstellungen von der Steuerrechtslage ist eine solche Kenntnis aber unmöglich. Der Vorsatz muss zudem auf den Verkürzungserfolg bezogen sein. Nach der Definition des § 370 Abs. 4 Satz 1 AO liegt dieser Erfolg u.a. dann vor, wenn Steuern nicht in voller Höhe festgesetzt werden. Bezieht man den Vorsatz auf diesen Erfolg, muss der Täter wissen oder es zumindest für möglich halten, dass durch seine Tathandlung eine zu niedrige Steuerfestsetzung hervorgerufen wird. Auch das ist ohne Kenntnisse der Steuerrechtslage nicht denkbar. Geht der Stpfl. also fälschlich davon aus, dass sein Verhalten steuerrechtlich ohne Belang sei, fehlt ihm die Kenntnis eines Tatumstands i.S.d. § 16 StGB. Falsch ist es deshalb, wenn das AG Köln davon ausgeht, dass es zur Bejahung des Vorsatzes ausreicht, dass der Angeklagte die vom Gericht gezogene Wertung auch als steuerrechtlicher Laie im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre nachzuvollziehen konnt...