Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 44
In der Praxis bestehen – wie die Gegenüberstellung zeigt – damit diametrale Unterschiede in beiden Verfahrensarten, insbesondere was die Mitwirkungspflicht bzw. -verweigerung angeht. Während im Strafverfahren der Beschuldigte schweigen kann, ohne dass daraus nachteilige Schlüsse gezogen werden dürfen, können im Besteuerungsverfahren nachteilige Schätzungen drohen.
Rz. 45
§ 393 Abs. 1 AO liegt die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, das strafprozessuale Auskunfts- und Mitwirkungsverweigerungsrecht beeinflusse wegen der in Satz 1 festgeschriebenen Selbständigkeit beider Verfahren nur die steuerstrafrechtlichen, nicht aber auch die steuerlichen Ermittlungen des Prüfers im Steuerverfahren. Diese Auffassung hat sich als wenig realistisch erwiesen. Tatsächlich sind die Prüfungsgegenstände beider Verfahren so eng miteinander verzahnt, dass sich steuerliche und steuerstrafrechtliche Ermittlungen, soweit sie den gleichen Sachverhalt betreffen, meist nicht voneinander trennen lassen. Das Strafverfahren hat somit einen erheblichen Einfluss auf das Besteuerungsverfahren.
Rz. 46
In der Praxis wirkt sich das steuerliche Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (§ 393 Abs. 1 Satz 2 und 3 AO) faktisch wie ein Aussageverweigerungsrecht aus. Denn sobald im Besteuerungsverfahren kein Zwang mehr ausgeübt werden kann, "fällt" bei vielen Stpfl. der "Vorhang". Sie können sich auf die Nichterzwingbarkeit der Mitwirkung berufen und, soweit der strafrechtliche Schuldvorwurf reicht, die Aussage verweigern (sog. Selbstbelastungsverbot des "nemo tenetur se ipsum accusare"). Insoweit wird eine deutliche "Rangverschiebung" zugunsten des Steuerstrafverfahrens erkennbar.
Rz. 47
Allerdings kann die FinB bei fehlender Mitwirkung des Stpfl. die Besteuerungsgrundlagen schätzen (s. Rz. 67 ff.). Dadurch ergeben sich bedenkliche Konfliktsituationen und Missbrauchsmöglichkeiten.
Rz. 48
Das Zwangsmittelverbot und damit das faktische Mitwirkungsverweigerungsrecht besteht nach der gesetzgeberischen Konzeption hingegen nicht bei nichtsteuerlichen Straftaten. Der Stpfl. ist hier selbst dann zur Auskunftserteilung verpflichtet, wenn er sich dadurch einer Straftat bezichtigen muss. Wer bspw. eine Unterschlagung begangen und die unterschlagenen Gegenstände wie ein Gewerbetreibender verkauft hat, muss die daraus erzielten Gewinne erklären (vgl. § 40 AO). Andernfalls begeht er eine Steuerhinterziehung. Er ist nicht befugt, die von ihm erzielten Umsätze und Gewinne gegenüber der FinB zu verschweigen. Als Ausgleich für diese dem Nemo-tenetur-Grundsatz widersprechende Regelung schreiben die §§ 30, 393 Abs. 2 AO einen weitgehenden, gleichwohl lückenhaften Schutz des Steuergeheimnisses vor. So ist z.B. die FinB an einer Weitergabe der erlangten Erkenntnisse dann nicht gehindert, wenn dies gesetzlich zugelassen ist (§ 30 Abs. 4 Nr. 2 AO, z.B. gem. §§ 31, 31a, 31b, 31c, 88a, 93a AO; § 45d Abs. 3 EStG; § 125a Abs. 2 FGG; § 5 Abs. 2, § 10 StBerG) oder ein zwingendes öffentliches Interesse an der Verfolgung des Nichtsteuerdelikts besteht (§ 393 Abs. 2 Satz 2, § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO). Wegen dieses äußerst lückenhaften Schutzes stellt sich die Frage nach der Verfassungsgemäßheit des § 393 Abs. 2 AO (s. Rz. 242 ff. m.w.N.).
Rz. 49
Das mit dem Zwangsmittelverbot gem. § 393 Abs. 1 Satz 2 und 3 AO korrespondierende Aussageverweigerungsrecht, das dem Stpfl. nach den vorstehenden Ausführungen zusteht, gilt nach dem Gesetzeswortlaut nur für den Teil des zu ermittelnden Sachverhalts, der Gegenstand der infrage stehenden Steuerstraftat oder -ordnungswidrigkeit ist.
Rz. 50
Die persönliche und sachliche Reichweite des Verbots ist aber im Einzelnen äußerst zweifelhaft. Fraglich ist insbesondere, wer unter den geschützten Personenkreis des Zwangsmittelverbots fällt (s. Rz. 80, 81 ff.), welche Steuern und welche Veranlagungszeiträume davon betroffen sind (s. Rz. 95 ff.) und ob bei Einleitung des Steuerstrafverfahrens die strafbewehrten Steuererklärungspflichten suspendiert sind (dazu Rz. 106 ff.).
Rz. 51
Eine freiwillige Mitwirkung des Stpfl. wird dadurch nicht ausgeschlossen. Inwieweit die Auskünfte in der Tat "freiwillig" gemacht wurden und sie damit verwertbar sind, hängt jedoch davon ab, ob sie der Stpfl. in Kenntnis seines abgabenrechtlichen Mitwirkungsverweigerungsrechts bzw. strafprozessualen Schweigerechts gemacht hat (fraglich bei sog. Spontanauskünften, s. dazu Rz. 170 m.w.N.). Problematisch kann in diesem Zusammenhang auch sein, ob Aussagen des Steuerberaters verwertbar sind (s. Rz. 80).
Rz. 52– 54
Einstweilen frei.