Rz. 617
Von immer wiederkehrender Bedeutung sind die sog. apokryphen Haftgründe, also solche Haftgründe, die keinen Eingang in den Gesetzestext gefunden haben, gleichwohl aber vielfach für die Anordnung und Vollziehung der Untersuchungshaft ausschlaggebend sein sollen.
Der Beantragung und dem Erlass des Untersuchungshaftbefehls werden mitunter folgende unlautere Beweggründe unterstellt:
- Erhöhung oder Begründung einer Geständnisbereitschaft ("U-Haft schafft Rechtskraft"),
- Förderung der Kooperationsbereitschaft,
- Aufbau einer Drohkulisse und Drucksituation, Verleihung von Nachdruck (etwa durch Verhaftung vor Ostern, Weihnachten, Urlaub etc.),
- Erleichterung der Ermittlungen,
- Herbeiführung von Zeugenaussagen, etwa gegen Unternehmensverantwortliche,
- Verfahrenssicherung,
- Erfüllung des öffentlichen und dienstlichen Erwartungsdrucks,
- Verbesserung der Karrierechancen,
- Erzielung eines vorweggenommenen Schadensausgleichs.
Rz. 618
Die Grundproblematik besteht darin, dass die sog. apokryphen Haftgründe, ihr Vorhandensein unterstellt, (in der Regel) nicht offen Eingang in den Haftbefehlsantrag oder die richterliche Entscheidung finden; mithin im Rahmen der Beschwerde allenfalls eingeschränkt zur Überprüfung stehen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wird daher im Wesentlichen zwischen Verteidigern, Hochschullehrern und Justizpraktikern auf der Basis eigener beruflicher Erfahrung geführt. Objektiv festzuhalten ist, dass ein Verfahren von allen Seiten vordringlicher und effektiver betrieben wird, wenn der Beschuldigte sich in Untersuchungshaft befindet. Zu konstatieren ist aber auch, dass es seltsam anmutet, wenn Haftbefehle unmittelbar, ggf. noch am Tag der Vorführung, sogleich gegen hohe Kautionen – die im Falle einer rechtskräftigen Steuerfestsetzung dem Fiskus zukommen soll – außer Vollzug gesetzt werden oder das Strafverfahren (zeitnah) mit einer Einstellung nach § 153a StPO, einer Geldstrafe, einer Bewährungsstrafe oder Freiheitsstrafe im mittleren Bereich endet. Dass die Mehrzahl der im Steuerstrafecht unbedingt verhängten Freiheitsstrafen letztlich im sog. offenen Vollzug verbüßt werden, sei nur der Vollständigkeit halber neuerlich erwähnt. Die Situation wird im Steuerstrafrecht zukünftig neben der Veränderung des Klimas im gesamten Steuer- und Steuerstrafrecht noch dadurch verschärft werden, dass Hinterzieher hoher Summen oftmals über nicht unerhebliche finanzielle Mittel verfügen und mithin ein Teufelskreis aus Straferwartung, Fluchtanreiz und Fluchtmöglichkeit bei Vorhandensein potentieller Widergutmachungsmöglichkeit entstehen kann.