Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO durch Freigabe des Geschäftsbetriebes
Leitsatz (redaktionell)
- Wird durch eine Freigabeerklärung dem Gemeinschuldner kein Vermögen, das nach § 35 InsO zur Insolvenzmasse gehört, zur Verfügung gestellt, so kann die Freigabe des Geschäftsbetriebes nicht zur Begründung von Masseverbindlichkeiten i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO führen.
- Das bloße Nutzen des Inventars oder der Geschäftsausstattung durch den Gemeinschuldner für seinen Geschäftsbetrieb löst noch keine Masseverbindlichkeiten aus.
Normenkette
InsO § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 35
Streitjahr(e)
2005, 2006
Nachgehend
Tatbestand
Mit Beschluss des Amtsgerichts … vom 4. März 2005 wurde der Kläger zum Insolvenzverwalter über das Vermögen des … bestellt. Der Gemeinschuldner betrieb in … ein Hotel mit Restaurantbetrieb. Diese unternehmerische Tätigkeit wurde vom Gemeinschuldner tatsächlich auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortgeführt. Grundlage war ein Schreiben des Klägers an den Gemeinschuldner vom 4. März 2005, durch den der Kläger den Geschäftsbetrieb „Hotel und Restaurant …” aus dem Insolvenzbeschlag freigab. Im Schreiben heißt es wörtlich:
„Dies bedeutet, dass Sie auf eigene Rechnung den Betrieb ab dem 04.03.2005, sofern Sie dies möchten, weiterführen können. Sie sind jedoch gehalten, sämtliche mit dem Geschäftsbetrieb verbundene Aufwendungen, Kosten und sonstige Ansprüche selber zu bezahlen. Das Eingehen von Verbindlichkeiten, die nicht bezahlt werden können, stellt einen Straftatbestand dar.
Rechte Dritter an den in den Geschäftsräumen eingebrachten Gegenständen aufgrund von Eigentumsvorbehalten, Vermieterpfandrechten oder Sicherungsübereignungen werden durch diese Freigabe nicht berührt. Dies bedeutet, dass die Verfügbarkeit über Geschäftsräume und darin eingebrachte Gegenstände durch Dritte beschränkt ist.
Bei Fortführung des Geschäftsbetriebes sind Sie verpflichtet, eine Einnahmen- und Ausgabenüberschussrechnung zu führen, welche von Ihnen wöchentlich hier einzureichen ist. Ein Überschuss der Einnahmen und Ausgaben nach Steuern innerhalb der Pfändungsfreigrenze steht Ihnen zur Verfügung. ...”
Gegenüber dem Insolvenzgericht hatte der Kläger bereits in seiner Eigenschaft als vorläufiger Insolvenzverwalter am 23. Februar 2005 ein Gutachten erstellt, in dem er u. a. zu den Aussichten für die Fortführung des Unternehmens des Insolvenzschuldners Stellung bezog. Danach sei eine Fortführung des Unternehmens in Form einer eigenständigen Sanierung nicht möglich. Eine Fortführung des Unternehmens in Form einer übertragenen Sanierung erscheine machbar.
In seinem Bericht gemäß § 156 Insolvenzordnung – InsO – vom 11. Mai 2005 hatte der Kläger ausgeführt, dass er als Maßnahme der Insolvenzverwaltung den Geschäftsbetrieb des Insolvenzschuldners mit Wirkung zum 4. März 2005 aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben habe. Im Protokoll im Insolvenzbericht über die nichtöffentliche Verhandlung in der Gläubigerversammlung vom 26. Mai 2005 (Bl. 109 der Insolvenzakten) ist vermerkt, dass der Geschäftsbetrieb vom Insolvenzverwalter aus dem Beschlag freigegeben wurde und der Betrieb freihändig vom Insolvenzschuldner weitergeführt werde.
Der Beklagte vertrat die Auffassung, dass die vom Kläger vorgenommene Freigabe rechtlich nicht möglich sei. Deshalb sei die Umsatzsteuer aus dem weitergeführten Betrieb als Masseverbindlichkeit anzusehen und gegenüber dem Kläger in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter festzusetzen. Dementsprechend setzte der Beklagte die Umsatzsteuern in den mit der Klage angefochtenen Steuerbescheiden fest. Hiergegen richtet sich die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage, die der Kläger im Wesentlichen wie folgt begründet:
Nach dem er gegenüber dem Insolvenzschuldner den Geschäftsbetrieb freigegeben habe, habe dieser seinerseits Mitarbeiter neu eingestellt, sich mit dem notwendigen Warenbestand versorgt und in der Folgezeit den freigegebenen Geschäftsbetrieb eigenständig bis Ende Juni 2006 fortgeführt. Die Freigabe des Geschäftsbetriebes sei rechtmäßig. Der Geschäftsbetrieb des Schuldners stelle einen Teil des Vermögens dar, dass nach § 35 InsO zur Insolvenzmasse gehöre. Diesen Vermögensteil habe er, der Kläger, freigeben können, um zukünftige Masseansprüche zu vermeiden. Die vom Insolvenzschuldner danach eingegangenen Verpflichtungen ließen keine Masseverbindlichkeiten im Sinne von § 55 Abs. 1 InsO entstehen. Deshalb könne der Beklagte sie auch nicht gegenüber dem Kläger geltend machen.
Der Kläger beantragt,
den Umsatzsteuer 2005 vom 26. Februar 2006 sowie die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Monate Januar 2006 bis April 2006 sowie die hierzu ergangenen Einspruchsbescheide vom 13. Oktober 2006 und 18. Oktober 2006 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält mit seiner Einspruchsentscheidung daran fest, dass die Freigabe des Unternehmens im Ganzen rechtlich nicht möglich gewesen ...