Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 159
Liegt eine Pflichtverletzung sowohl der Finanzbehörde als auch des Stpfl. vor, hat eine Abwägung der gegenseitigen Pflichtverletzungen zu erfolgen. Eine Pflichtverletzung durch den Stpfl. wiegt bei gleichem Maß des Verschuldens grundsätzlich schwerer als eine solche der Finanzbehörde. Aufgrund der Steuererklärungspflicht ist es primäre Aufgabe des Stpfl., der Finanzbehörde die steuerlich relevanten Sachverhalte wahrheitsgemäß und vollständig zur Kenntnis zu bringen. Allein der Stpfl. verfügt über die vollständige Kenntnis des von ihm verwirklichten Sachverhalts und kann und muss diesen daher vollständig erklären. Tut er das nicht, kann er nicht vorbringen, die Finanzbehörde hätte selbst ermitteln können. Eine Änderung nach § 173 AO zulasten des Stpfl. ist bei gleichem Maß des Verschuldens von Stpfl. und Finanzbehörde daher grundsätzlich möglich, weil die primäre Verantwortung beim Stpfl. liegt.
Rz. 160
Eine Änderung ist nur ausgeschlossen, wenn die Pflichtverletzung der Finanzbehörde die Verletzung der Mitwirkungspflicht des Stpfl. deutlich überwiegt. Bei gleichem Maß des Verschuldens kann ein solches Überwiegen der Pflichtverletzung der Finanzbehörde kaum vorkommen. Es kann sich aber bei einem unterschiedlichen Maß des Verschuldens, d. h. wesentlich höherem Maß an Verschulden bei der Finanzbehörde, ergeben. So wäre etwa ein Überwiegen der Pflichtverletzung des FA möglich, wenn vom Stpfl. nach dem von ihm zu erwartenden steuerlichen Wissen die Kenntnis der steuerlichen Relevanz eines Sachverhalts nicht zu erwarten sein konnte, die Finanzbehörde aufgrund ihrer Fachkenntnisse und der (unvollständigen) Angaben des Stpfl. aber hätte erkennen können, dass nicht alle relevanten Umstände vorgetragen waren. Das ist z. B. der Fall, wenn der steuerlich nicht beratene Stpfl. solche offenbaren Schwierigkeiten mit der Abgabe der Steuererklärungen hatte, dass er von der Möglichkeit der Abgabe der Steuererklärung durch Niederschrift an Amtsstelle Gebrauch machte.
Es kann sich bei diesen Fällen jedoch nur um Sonderfälle handeln, bei denen der Stpfl. in besonderem Maße schutzbedürftig ist.
Rz. 161
Ist die unrichtige oder unvollständige Steuererklärung von einem Angehörigen der steuerberatenden Berufe abgegeben worden, überwiegt im Regelfall die Pflichtverletzung des Stpfl., da das FA einer solchen Steuererklärung in erhöhtem Maße vertrauen kann, Andererseits kann der Stpfl. in diesem Fall nicht geltend machen, dass ihm die Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht zuzurechnen sei, da er sich auf die Beurteilung durch den Steuerberater bzw. dessen Angestellte habe verlassen können. Da es sich um eine Abwägung der gegenseitigen Pflichtverletzungen im Rahmen des Grundsatzes von Treu und Glauben handelt, kann der Stpfl. seine Position nicht dadurch verbessern, dass er die Erstellung der Steuererklärung einem Berater bzw. dessen Mitarbeiter überträgt.
Rz. 162
Ein Überwiegen der Pflichtverletzung der Finanzbehörde liegt auch vor, wenn der Stpfl. den relevanten Sachverhalt weitgehend offenbart hat, das FA für die fehlenden Sachverhaltsteile Ermittlungen angestellt hat, diese aber dann nicht weiter verfolgt hat, obwohl sich die Relevanz dieser Sachverhaltsteile dem FA aufdrängen musste.
Rz. 163
Bei der Abwägung ist das Verschulden des Stpfl. immer schwerer zu gewichten als ein etwaiger Verfahrensfehler des FA (ohne Rücksicht auf dessen Schwere), wenn dem Stpfl. eine Steuerstraftat zur Last fällt.